Willkommen in meinem Leben - Teil 4

Autor: Lydia
veröffentlicht am: 20.12.2010


Ich ging nur noch weitere eineinhalb Wochen auf meine alte Schule, mit den allbekannten Gesichtern und den üblichen Blicken und den langsam langweilig werdenden Kommentaren.
Und heute, an einem normalen Mittwochmorgen habe ich meinen ersten Schultag an dem St. Raphael-Gymnasium. Die Realschule, die mit auf dem Gelände integriert ist, interessiert mich nicht.
Ich sitze auf dem Beifahrersitz neben meiner Mutter und spiele nervös mit der kleinen Silberkette und dem Herzanhänger, die ich um den Hals trage. Ich besitze die Kette schon seit ich ein kleines Mädchen war. Irgendwie gehört diese Kette einfach zu meinem Leben.
„Du musst nicht nervös sein“ sagt meine Mutter aufheiternd. Doch ihr Versuch mich aufzumuntern scheitert kläglich.
„Abwarten“
„Aber das ist doch, was du willst: Ein Neuanfang“
„Ich will es ja auch!“
„Dann solltest du dich freuen“ meint sie leise und ich weiß daraufhin nicht, was ich sagen soll, also schweige ich.
Das Hauptschulgebäude ist ein einfacher Plattenbau mit großen Fenstern. Die roten Backsteingemäuer sind mit Efeu bewachsen und geben dem Schulgebäude ein malerisches Aussehen.
„Das Schulgelände ist wirklich sehr schön“ sagt meine Mutter und steigt mit mir aus dem Auto aus.
Ich schließe die Autotür und schaue mich um. Das Schulgelände hat viele Grünflächen und ein paar historische Altbauvillen, in denen auch noch zusätzlich Unterrichtsräume sind. „Ja, es ist schön hier“, stimme ich zu.
Um mich anzumelden war ich nur kurz mit meinem Vater hier und vor lauter Aufregung hatte ich gar nicht richtig die Zeit gefunden, mich umzuschauen. Und die Bilder auf der Website konnten nicht mal ansatzweise zeigen in welcher Lage sich die Schule befand.
Meine Mutter geht zielstrebig auf das Hauptgebäude zu, wo sich das Sekretariat und das Büro der Direktorin befinden. Ich bleibe stehen und rufe ihr hinterher: „Willst du etwa mit rein?“
Sie dreht sich über die Schulter zu mir um und nickt: „Darf ich etwa nicht?“
Schnell hole ich sie ein und schüttele mit dem Kopf: „Doch, schon. Nur würde ich das lieber alleine machen“
Erst schaut sie mich etwas verletzt an, doch dann nickt sie: „Ja, okay. Du schaffst das sicherlich auch allein“
„Danke, Mama“ meine ich freundlich und sie drückt kurz meine Hand, dann mache ich mich von ihr los und renne die Treppen zum Eingang hinauf.

„Und wie war noch mal dein Name?“ fragt die Sekretärin hinter ihrem Schreibtisch und setzt ihre Brille auf die Nase.
„Lydia Weller“ antworte ich höflich und trommele mit dem Finger auf dem Tresen herum.
„Ach ja: Lydia Weller. Hier hab ich’s. Du warst letzte Woche schon mal mit deinem Vater hier, nicht?“ Die Sekretärin steht auf und reicht mir zwei Zettel: „Der eine ist dein Stundenplan und der andere dein Arbeitenplan. Du wirst verstehen, dass du gleich jede Arbeit mitschreiben musst. Und wir brauchen noch deine Noten von den letzten zwei oder drei Monaten“ erklärt sie.
Ich zucke zusammen und nehme die Blätter an mich, dann sage ich leise: „Es gibt keine Noten von den letzten zwei Monaten“
„Oh“ überrascht schaut die Dame auf. „Dann gingst du nicht zur Schule? Warum, wenn ich fragen darf?“
Ich zögere eine Weile, dann antworte ich ausweichend: „Persönliche Probleme“ Ich werfe einen Blick auf meinen Stundenplan: „Wie es aussiehst habe ich jetzt Deutsch, im Klassenzimmer… Ähm, wo ist das Klassenzimmer der Klasse 11b?“
„Einfach eins hoch, und dann gleich die erste Tür rechts“ erklärt die Sekretärin und ich bedanke mich und verlasse den Raum.
Warum musste die Sekretärin auch gleich nach den letzten zwei Monaten fragen? Warum hat sie nicht nach dem gesamten letzten Jahr gefragt, was zwar auch nicht sehr viel besser war, als die letzten zwei Monate, aber immerhin habe ich dies nicht in einer Klinik für Essgestörte verbringen müssen.
Und zum ersten Mal fällt mir auf, wie viel ich in der Schule nachholen muss. Die nächste Arbeit würde ich gleich einmal Mathe schreiben – ein Fach, mit dem ich massive Probleme habe.
Seufzend packe ich die Blätter weg und stehe vor der ersten Tür rechts im ersten Obergeschoss. Wie am ersten Schultag in meiner alten Klasse, atme ich einmal tief durch, klopfe an und öffne dann die Tür.
Eine dicke, kleine, ziemlich alte Frau steht vor der Tafel und schaut mich überrascht an: „Kann ich dir helfen?“
Ich schaue sie mit großen Augen an, und wage es wieder nicht zur Klasse zu schauen. „Ähm, ich bin neu hier. Lydia Weller… Man müsste Ihnen eigentlich gesagt haben, dass ich neu in die Klasse komme“
„Ach ja, Lydia Weller. Das Mädchen, das mitten im Schuljahr wechselt“ lächelt die alte Frau und schaut kurz was im Klassenbuch nach. Dann reicht sie mir die Hand: „Ich bin Frau Mai, deine neue Deutschlehrerin“
Nachdem ich ihr die Hand geschüttelt habe, drehe ich mich zu Klasse um, und Frau Mai legt eine Hand auf meine Schulter, und ich weiß, dass sie jeden Knochen fühlen kann. „Zeigt ihr in der Pause doch bitte die Schule“ sagt sie schlicht und deutet dann auf einen Platz in der Mitte: „Du kannst dich neben Sophia setzen“
Ich nicke nur, lächele dem Mädchen mit dem Namen Sophia zu und setze mich auf den freien Platz neben ihr.
„Willkommen an der St. Raphael“ begrüßt sie mich freundlich und ich lächele sie höflich an: „Danke“

„Auf welcher Schule warst du vorher?“ fragt mich Sophia neugierig, als es zur Pause geläutet hat. Sie schaut mich aus freundlichen braunen Augen an und streicht sich das hellbraune Haar aus dem Gesicht.
„Auf dem Hölderlin“ antworte ich knapp, als sich der Junge in der Reihe vor uns zu uns umdreht. Ich habe in meinem Leben noch nie solche orangen Haare gesehen, doch seine Haare haben wirklich die Farbe von Karotten. „Warum wechselst du mitten im Schuljahr?!“ Sein Blick ist mehr als neugierig; er ist auch etwas verständnislos. Ich habe aber mit solchen Fragen gerechnet und will gerade freundlich antworten, als der Junge, der neben dem Karottenkopf sitzt ihm einen leichten Klaps auf dem Hinterkopf gibt: „Sei’ doch nicht immer so neugierig. Wie wär’s wenn du dich erst mal vorstellst“
Sophia kichert und meint erklärend zu mir: „Robin kennt keine Höflichkeit“
Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wer Robin ist; der mit den krassen Haaren oder der, der anscheinend gerne mal Klapse auf den Hinterkopf erteilt.
„Also, ich bin Tobias“ stellt sich der mit der normalen Haarfarbe vor.
„Lydia“ antworte ich leise.
„Ich bin Robin“ Also ist der Karottenmann Robin.
„Jetzt aber mal im Ernst: Warum wechselt jemand mitten im Schuljahr. Und dann noch zu uns?“ hakt jetzt auch Tobias nach. „Im Ernst, das hier ist die spießigste Schule überhaupt“
Ich bleibe bei meiner Antwort, die auch schon der Sekretärin gesagt hatte: „Persönliche Gründe“
„Ahhh“ Robin klingt wissend, dabei wette ich, dass er keine Ahnung hat, sondern einfach nur irgendetwas sagen will.
„Und du warst vorher auf dem Hölderlin?“ fragt Sophia neugierig nach und ich ahne schon, dass sie jetzt fragt, ob ich den oder jenen kenne. Und ich soll Recht behalten.
„Kennst du eine Hanna. Klasse 11a?“
Ich zucke kaum merklich zusammen und schüttele mit dem Kopf: „Nein, tut mir Leid. Kenne ich nicht. Ich war aber in der letzten Zeit nicht oft in der Schule gewesen“
„Warum?“
„Persönliche Gründe“ wiederhole ich nachdrücklich.
„Achso“ meint Sophia leise und ich glaube, dass ich sie verschreckt habe, was mich nicht wundern würde.
Die nächsten beiden Stunden habe ich Mathe. Schlimmer finde ich nur noch Physik, doch das habe ich zur elften Klasse abgewählt – wenn auch eher weniger erfolgreich mit einer vier.
Die Formeln an der Tafel sagen mir gar nichts, da ich in Mathe zwei Monate hinterher hänge. In diesem Fach werde ich wohl am meisten aufzuholen haben.
„Wenn du nicht klar kommst, frag mich einfach“ bietet Sophia freundlich an und ich nicke ihr dankbar lächelnd zu, sage aber nichts.
Der Schulwechsel ist eine der besten Ideen gewesen, die ich je hatte. Und in Sophia habe ich anscheinend eine sehr loyale und höfliche Sitznachbarin gefunden – ob wir Freundinnen werden, weiß ich noch nicht.
„Lydia, kommst du mit?“ reißt mich die Stimme unseres Mathelehrers, Herr Schmitt aus meinen Gedanken.
Unser Mathelehrer ist ungefähr Mitte, vielleicht sogar Ende Fünfzig, mit einem freundlichen Gesicht und einem kleinen grau werdenden Bart, welcher ihn ein wenig aussehen lässt, wie ein lieber Opa, der seinen Enkelkindern im Schaukelstuhl Geschichten vorliest.
Erschrocken schaue ich auf. „Na ja – ähm – um ehrlich zu sein, nicht so ganz. Ich habe die letzten zwei Monate…“ Ich breche ab. „Nein, ich komme nicht hinterher, tut mir Leid“
„Gut, dann versuche ich es noch mal zu erklären“ meint Herr Schmitt und klingt kein bisschen genervt, wie meine alte Mathelehrerin damals immer.
Er erklärt mir die Exponentialverschiebung erneut, und dennoch verstehe ich es nicht. Die ganzen Variablen und die vielen Rechenzeichen – das ist einfach zu viel.
„Ist es dir jetzt ein wenig klarer?“ fragt Herr Schmitt erneut, und ich komme schon in die Versuchung einfach zu nicken, doch das würde mir nichts bringen, also schüttele ich erneut mit dem Kopf: „Nein, immer noch nicht. Tut mir Leid“
Herr Schmitt seufzt und einige in der Klasse, die das Thema in Mathe verstehen, stöhnen genervt auf.
„Gut, dann komm’ doch bitte nach der Stunde zu mir. Vielleicht kann ich dir ein paar Übungsblätter mitgeben“ bietet er an und ich nicke nur und starre weiter auf dem Fenster.

Wie versprochen gibt mir Herr Schmitt ein paar Übungsblätter, auf denen noch zusätzlich die Erklärungen zur Exponentialverschiebung stehen. Hoffentlich würde ich es mithilfe der Blätter verstehen.
„Du hast anscheinend in Mathe viel verpasst“ meint Herr Schmitt.
„Zwei Monate“ antworte ich leise und hoffe, dass er nicht nachhakt. Und er tut es auch nicht.
„Dann viel Glück und Erfolg beim Nachholen“ wünscht er mir und nimmt seine Tasche vom Lehrerpult und geht zur Tür, als ein hochgewachsener Junge das Klassenzimmer betritt. Ich schätze ihn etwa zwei, vielleicht sogar drei Jahre älter als mich. Seine schwarzen Haare sind etwas zu lang und hängen ihm leicht im Gesicht, dennoch kann ich erkennen, dass er dunkelgrüne, leuchtende Augen haben muss.
„Ah, hallo Luca“
„Hallo“ erwidert er den Gruß von Herr Schmitt nur kurz.
„Wie war der Planungstag der SMV?“
„Ich will gerade ein paar Worte dazu sagen“
„Ah…“ Herr Schmitt schaut neugierig und bleibt in der Tür stehen.
Erst jetzt fällt mir auf, dass ich immer noch am Lehrerpult stehe und den Jungen – Luca, oder wie er heißt – immer noch anstarre. Schnell wende ich meinen Blick ab und gehe wieder zu meinem Platz neben Sophia.
„Wer ist das?“ frage ich sie leise und deute mit dem Kinn auf den Jungen.
„Wer – der?!“ hakt Sophia nach. „Das ist Luca. Er ist Schülersprecher, geht in die 13. Klasse und ist irrsinnig schlau in Naturwissenschaften und so. Außerdem ist er wahnsinnig niedlich“ schwärmt Sophia und muss ein Lachen unterdrücken.
„Also, hört mal kurz zu“ beginnt Luca zu reden und die Klasse hört ihm zu – zumindest mehr, als sie Frau Mai zuhören. „Der Planungstag hat ergeben, dass die Studienfahrt entweder nach Paris oder nach Amsterdam geht. Ihr könnt zwischen den beiden Zielorten wählen. Die Zettel teilen die Klassensprecher in den nächsten Wochen aus“
Ein Mädchen aus meiner neuen Klasse mit blonden Locken, die fast so aussahen wie die von Alina und ihre Sitznachbarin nicken. Anscheinend sind die beiden die Klassensprecher.
„Okay, noch viel Spaß“ Er zwinkert der Klasse zu und lächelt spöttisch, als sein Blick auf mich fällt.
Er lächelt mich an: „Du musst die Neue aus Klasse 11b sein“
„Lydia… Mein Name ist Lydia“
„Dann willkommen auf der St. Raphael, Lydia“ Er streicht sich das schwarze Haar aus den Augen und lächelt mich immer noch an.
Irgendwie sprach er meinen Namen anders aus, als die anderen. Irgendwie melodischer.
„Danke“ meine ich leise und er wendet sich von mir ab. „Viel Spaß noch“ Jetzt redet er wieder mit der gesamten Klasse, wechselt ein paar Worte mit der blonden Klassensprecherin und verlässt dann den Raum.
Und das einzige, was ich denken kann, ist: Wow!




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