Willkommen in meinem Leben - Teil 5

Autor: Lydia
veröffentlicht am: 22.12.2010


Am Abend beginnt die übliche „Wir-quetschen-Lydia-aus“ Runde. Meine Mutter schaut prüfend in meine Brotbüchse und nickt zufrieden, als sie sieht, dass ich alle bis auf eines gegessen habe.
Mein Vater will wissen, wie es in der neuen Schule war und beantworte seine Frage mit einem Nicken und sage ihm, dass es mir sehr gut an der St. Raphael gefällt.
Alina lächelt mich freundlich an und stupst mich dann spielerisch mit dem Ellenbogen in die Seite: „Hast du süße Jungs in deiner Klasse?“
Sofort denke ich an den Karottenkopf und an Tobias und schüttele schnell mit dem Kopf. Ich beginne zu lachen: „Nein, in meiner Klasse gibt es solche Exemplare nun wirklich nicht!“
„Aber…?!“ Alina zieht das Wort unnötig in die Länge und auch unsere Eltern schauen schon neugierig.
„Wir reden nachher“ zische ich und trete ihr unter dem Tisch gegen das Schienbein.
„Autsch“ gibt Alina von sich und knufft mich noch mal in die Seite und zum ersten Mal merke ich richtig, wie froh ich bin, dass ich Alina doch nicht verloren habe. Ich hatte echt gedacht, dass sie mich hassen muss. Als ich in der Klinik war, hatte ich immer am meisten Angst vor ihrer Reaktion gehabt. Nicht vor der von Hanna. Und nun ist es gerade Alina, meine ältere Schwester, die sooft zu mir sagte, ich würde sie nerven, die zu mir hält.
„Es freut uns, dass es dir gefällt“ meint meine Mutter und legt mit noch ein Brötchen auf meinen Teller.
„Ich habe schon ein Halbes gegessen. Ich bin satt“ sage ich und weiß, dass jetzt alle drei mich dazu bewegen wollen noch etwas mehr zu essen.
„Wenigstens noch etwas Salat?“ fragt Alina, doch ich schüttele mit dem Kopf: „Ich bin satt!“ wiederhole ich deutlich und mein Vater meint nur: „Lasst sie doch“ Er klingt etwas hoffnungslos und vielleicht auch ein bisschen verzweifelt.
Seufzend greife ich mir noch eine Tomate und schaute meine Eltern und Alina an: „Zufrieden?“
„Zufriedener als vorher“ erwidert mein Vater lächelnd und wendet sich dann an Alina: „Wie läuft es bei dir in der Schule? Was machen die Abi-Vorbereitungen?“
„Ach“ Alina gähnt. „Es ist alles beim Alten“
Bei Alina in der Schule gibt es nie Probleme. Sie wird locker ihr Abi mit einem Durchschnitt von 1,5 schaffen, wird danach Jura studieren und irgendwann einmal eine erfolgreiche Anwältin werden. Auch als Alina noch jünger war, gab es mit ihr nie Probleme. Sie kam nie zu spät nach Hause, sie nahm nie Drogen, sie war nie wirklich besoffen und Schule hat sie auch nie geschwänzt.
Mit Alina gab es in keinerlei Hinsicht Probleme. Erst als ich ins schwierige und pubertäre Alter kam, mussten sich meine Eltern Sorgen machen. Erst dann konnten sie nächtelang nicht schlafen, weil ich später als vereinbart nach Hause kam, weil ich sturzbesoffen von der Polizei nach Hause gebracht wurde, weil ich irgendwann aufgehört habe zu essen. Ich war und bin ihr kleines Problemkind.
„Bei Alina läuft es doch immer gut. Macht’ euch keine Sorgen um sie“ meine ich und ärgere mich darüber, weil ich meine Verbitterung nicht verbergen kann.
„Meinst du etwa, wir sollen uns noch mehr Sorgen um dich machen?“ fragt meine Mutter spitz und zieht fragend die Brauen nach oben.
Ich schüttele mit dem Kopf: „Nein, das meine ich nicht. Tut mir Leid, wenn das so rübergekommen ist. Mir geht es wieder gut“
Daraufhin schweigen alle nur und auch ich weiß nicht, was ich sagen soll.
Ich dachte immer, irgendjemand wird mich schon auffangen können, wenn ich einmal tief falle.
Und nun bin ich tief gefallen – sehr tief und dennoch schafft es keiner, mir wieder Halt zu geben. Auch, wenn ich alles daran setze, wieder Boden unter den Füßen zu fassen, auch wenn ich alles versuche, um irgendwo neu anfangen zu können; ich habe meinen alten Freundeskreis hinter mir gelassen, meine alte Schule, sogar mein Zimmer ist mir irgendwie fremd. Und trotzdem schaffe ich es nicht.

„Also, wer ist es?“ Alina lässt sich im Schneidersitz auf meinen Teppich sinken und reicht die Milka-Schokolade an mich weiter. Ohne sie auszupacken lege ich sie neben mir ab. „Wer ist was?“
„Wer ist er, den du süß findest?“ hakt sie nach und ich erinnere mich automatisch an die vielen Gesprächen, die wir über ähnliche Themen geführt haben. Nur meistens war es Alina, die ihre Geschichten erzählt hat; es waren ihre Tränen, die ich trocknen musste, während ich im Inneren überlegt habe, wie viel ich am Tag gegessen habe, und wie viel Sport ich machen müsste, damit ich am Ende auf die Kaloriensumme 0 komme.
„Ich kenne ihn gar nicht. Ich finde ihn nur äußerlich attraktiv, mehr nicht!“ sage ich entschlossen und Alina merkt genau, dass für mich das Thema beendet ist.
„Ich habe jemanden kennen gelernt“ durchbricht sie nach einer kurzen Weile die Stille. Ich gleite von meinem Bett und setzte mich ihr gegenüber: „Echt? Wen?“
„Den kennst du nicht“ Sie lacht herzlich. „Sein Name ist Simon, er wohnt in Dossenheim und er studiert Medizin, hier an der Uni“
„Ein Medizinstudent, aha“
„Ja, ich weiß. Solche mochte ich eigentlich nie. Aber er ist so wahnsinnig süß“
„Wo habt ihr euch kennengelernt?“
„Im Tiff“
„Im Tiffany’s in Mannheim?“ Ich reiße überrascht die Augen auf. Normalerweise fährt Alina nie in einen Club nach Mannheim. In Heidelberg gibt es genügend gute Clubs, die Alina toll findet.
„Tja, du kommst aber noch nicht rein“ Sie streckt mir kindisch die Zunge raus und ich schlage sie spielerisch gegen den Arm: „Das weiß ich auch“
Dann schweigen wir beide wieder eine Weile, bis ich es diesmal bin, die das Schweigen bricht: „Wie sieht er aus?“
„Alsooo – er hat braune Haare…“
Ich verziehe das Gesicht. Ich habe mich noch nie in jemanden verliebt, der braune Haare hat.
„Was denn?!“ ruft Alina empört. „Er ist wirklich niedlich!“
„Ja, ja“ würge ich sie ab. „Augenfarbe?!“
„Blau“
„Hm – das ist ja schon mal nicht schlecht. Wann seht ihr euch wieder?“
„Das weiß ich noch nicht. Er hat meine Nummer, doch er hat sich noch nicht gemeldet. Und ich weiß nicht, ob er es noch tun wird“
Ich zucke nur mit den Schultern. Ich habe schon viel durchgemacht, aber so was überschreitet dann meinen Erfahrungsbereich irgendwie.
„Er wird schon anrufen“
Liebevoll wuschelt Alina mir nun durch die Haare: „Ach, Lydi. Du hast doch keine Ahnung“
Ich ziehe eine Grimasse und schubse Alina von mir, welche lachend aufsteht. Auch, wenn ich nicht will, ich muss mit ihr mitlachen.
Sie verstummt aber sofort, als sie das unausgepackte Geschenk auf meinem Schreibtisch liegen sieht: „Willst du es nicht doch mal auspacken?“ fragt sie traurig. Es tut mir weh, wenn ich sehe, dass ich sie damit verletze, doch ich kann ihr nicht die Antwort geben, die sie hören will.
Ich schüttele mit dem Kopf: „Tut mir Leid, Alina. Aber ich kann nicht“
Eine Weile blickt sie noch traurig auf das Päckchen, dann schaut sie wieder lächelnd zu mir: „Irgendwann wirst du es können, glaub mir, Lydi. Irgendwann“ Mit diesen Worten verlässt sie mein Zimmer und ich starre noch eine ganze Zeit lang auf das Päckchen, bevor ich aufstehe und es immer noch unausgepackt in meine Kommode stopfe. Jetzt ist schließlich nicht irgendwann.




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