Willkommen in meinem Leben - Teil 7

Autor: Lydia
veröffentlicht am: 31.12.2010


Am nächsten Dienstag sitze ich in der Kantine, neben Luca, gebeugt über mein Mathebuch, während er mir versucht irgendwelche Formeln herzuleiten. Bestimmt weiß er wovon er redet, auch wenn ich kein Wort verstehe und um ehrlich zu sein, kann ich mich auch nicht richtig auf das konzentrieren, was er sagt.
Desinteressiert stochere ich den Nudeln herum, die auf dem Teller vor mir liegen und schaue durch die Kantine, und mein Blick fliegt immer wieder zur Uhr. Auch, wenn Luca nett ist und mir wirklich versucht ein bisschen was beizubringen, so fühle ich mich ziemlich unwohl in dieser Situation.
„Hörst du mir überhaupt zu?“ fragt er nach einer Weile und reißt mich damit aus meinen Gedanken. Erschrocken schaue ich auf, blicke ihn an und schüttele dann schuldbewusst mit dem Kopf. „Nein, tut mir Leid. Ich versteh’ auch kein Wort davon, was du mir erzählst“
„Könnte daran liegen, dass du mir gar nicht zuhörst“ erwidert er und ich höre eine gewisse Gereiztheit in seiner Stimme.
Ich will gerade darauf etwas antworten, als er mir zuvorkommt und mich das fragt, was mich fast alles Fragen: „Willst du nichts essen?“ Er deutet auf meinen Teller und ich werfe den Nudeln nur einen kurzen Blick zu.
Doch, ich will schon gerne essen, nur kann ich nicht so viel essen, wie ich gerne möchte, denke ich im Stillen bei mir. Sagen tue ich das natürlich nicht. Stattdessen schüttele ich mit dem Kopf: „Nein, ich habe kein Hunger“ Ich sehe ihn an und er blickt mir direkt in die Augen, und ich erkenne an seinem Blick, dass er das erwidern will, was alle zu mir sagen: „Du siehst auch nicht aus, als würdest du viel essen“
Doch er sagt es nicht. Er zuckt nur mit den Schultern und tippt dann mit dem Zeigefinger auf mein Mathebuch, während er sich das schwarze Haar aus den Augen streicht. „Zurück zu den gebrochen rationalen Funktionen“
Ich stöhne leise auf und stütze meinen Kopf in die Hände.
„Jetzt stell dich nicht so an. Vor zwei Jahren musste ich da auch durch“ Er stupst mich leicht mit dem Ellenbogen in die Rippe und ich zucke zurück, weil ich dort extrem kitzlig bin.
„Wer den Scheiß erfunden hat, gehört gesteinigt“ knurre ich noch leise und versuche mich diesmal wirklich auf Lucas Worte zu konzentrieren.
Mein Blick fliegt von den Zahlen in dem Buch immer wieder zu seinen Händen, welche dauernd auf irgendwelche Graphen und Funktionen zeigen.
„Hast du das verstanden?“ fragt er schließlich und ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung von was er redet. Ich weiß nur, dass es um gebrochen rationale Funktionen geht, und um irgendeine e-Funktion. Und einen gewissen Herr Euler, wegen dessen Entdeckung ich heute diesen Kram hier lernen darf.
Wieder schaut er mir in die Augen, und da ich so etwas nicht gewöhnt bin, und meine Leidensgenossen aus der Klinik sowieso Augenkontakt vermieden haben, schaue ich schnell weg und schüttele mit dem Kopf. „Nein, ich versteh’ das einfach nicht“ Dennoch klappe ich das Mathebuch zu. Es war bestimmt nett gemeint von Herr Schmitt, jemanden aus der Stufe über mir zu beauftragen mir Mathe beizubringen, doch bei Luca macht das wenig Sinn. Ich seufze und schüttele dann erneut mit dem Kopf: „Vielleicht sollte ich einfach mal Alina, meine Schwester, fragen“
Er zuckt mit den Schultern und nickt dann aber: „Ich kann’s dir anscheinend nicht beibringen“
„Tut mir Leid“
„Na ja, ist nur normal, dass man etwas nicht versteht, wenn man nicht zuhört“ Er zwinkert mir zu und ich spüre, dass ich rot anlaufe wie eine Tomate.
„Ich habe zugehört!“ lüge ich und packe mein Buch zurück in meine Tasche und nehme dann das Tablett an mich. Das Essen habe ich nicht angerührt.
„Du solltest vielleicht noch was essen“ bemerkt Luca leise und seine Augen haben diesen spöttischen Ausdruck verloren, was mich noch mehr aus meinem Konzept bringt, als die Ironie.
Kurze Zeit bewege ich die Lippen, ohne das ein Ton herauskam, doch schließlich bringe ich ein Stottern zu Stande: „Ich habe… ich… ich habe keinen Hunger. Trotzdem danke für den Hinweis!“ Und bei dem letzten Satz klingt meine Stimme zickiger als beabsichtigt. Leise füge ich hinzu: „Entschuldige nochmals, dass du mir in Mathe nicht helfen konntest. Trotzdem danke“
„Kein Problem. Frag’ mich einfach, wenn dir noch mal was unklar ist“ erwidert er und lächelt mich freundlich an. Und wenn er lächelt, sieht er noch hübscher aus, als wenn er ernst ist.
Ich würde das Lächeln gerne erwidern, doch ich kann nicht. Also nicke ich nur kurz, drehe mich um, stelle das Tablett weg und verlasse die Kantine so schnell wie möglich.

„Oh man, Lydi! Ich will Geschichten hören, die interessant sind“
Ich liege in Alinas Bett auf dem Bauch und durchblättere eine ihrer vielen Modezeitschriften, deren Models allesamt aussehen wie ich – zumindest von der Körperstatur her.
„Jetzt sind Mama und Papa nicht da und du belaberst mich immer noch mit deinen Problemen in Chemie und Mathe“ beschwert sie sich weiter. Nur wenig später bekomme ich ein Kissen, das normalerweise immer auf ihrem Sofa liegt, an den Kopf geschmissen.
„Au!“ rufe ich aus und reibe mir den Kopf und schmeiße das Kissen zurück. Geschickt fängt sie es auf und schaut mich weiterhin erwartungsvoll und fragend an. Kurz spiele ich mit dem Gedanken, ob ich ihr davon erzählen soll, dass ich Luca süß finde, doch ich verwerfe ihn schnell. Eigentlich will ich nicht darüber reden. Und schon gar nicht mit Alina, welche in solchen Situation sofort übereifrig wird und am liebsten noch die große Verkupplerin spielen will. Doch darauf habe ich gar keine Lust.
Ich habe im Moment andere Probleme in meinem Leben; ich muss wieder vollkommen gesund werden, und wieder mit meinem eigenen Kram klarkommen – da gibt es im Moment kein Platz für einen Jungen, der mich psychisch wieder total durcheinander bringt.
Und davon mal abgesehen glaube ich nicht, dass Luca zu der Sorte von Junge gehört, der sich für ein Mädchen wie mich interessiert.
Ich meine, er ist Schülersprecher, macht bestimmt irgendeinen Sport – ich tippe auf Tennis oder Springreiten –, kommt aus gutem und reichem Haus – das sieht man an der Kleidung –, und mich würde es nicht wundern, wenn er eine Freundin hat.
Und ich bin nur das siebzehnjährige Mädchen, das vor kurzem aus einer Klinik für Essgestörte entlassen wurde, eine Zeit lang jedes Wochenende sturzbesoffen war und auch nicht gerade selten zu chemischen Drogen, wie LSD und Speed gegriffen hat. Ich bin einfach nur das Mädchen, das im Leben im Moment keinen Fuß fassen kann.
Warum soll ich also Alina davon erzählen?
„Es gibt nichts zu erzählen“ meine ich leise.
Ich sehe an Alinas Blick, dass sie etwas erwidern will, doch ich lasse sie erst gar nicht zu Wort kommen: „Erzähl’ du mir lieber, was mit Simon ist!“
Sofort wird ihr Blick verträumt, und ich kann nur erahnen, was sie fühlt, wenn sie an Simon denkt. Ich selber kann von mir nicht behaupten, dass ich mich jemals in einen Jungen richtige und wahrhaftig verliebt hätte… Ich kann Alinas Gefühle zwar erahnen, aber nie und nimmer nachempfinden.
Dennoch zwinge ich mich zu einem Lächeln und höre ihr geduldig zu, während sie von ihm schwärmt.
Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis er bei uns zu Hause auftauchen wird.

„Warum willst du auf diese Party gehen?“ meine Mutter schaut mich so entgeistert an, als hätte ich ihr gerade erzählt, dass ich nach Saudi-Arabien auswandern will.
Ich senke den Blick und zucke mit den Schultern, obwohl ich ganz genau weiß, warum ich auf diese Party will.
„Du bist gerade mal seit vier Wochen aus der Klinik draußen, ich weiß nicht, ob es sinnvoll wäre, dass du jetzt gleich wieder einen drauf machen gehst“ Und wenn man meine Mutter das so sagt, dann klingt das, als würde sie über Aliens auf dem Mars reden – auf jeden Fall von Dingen, von denen sie keine Ahnung hat.
Ich seufze und wünsche mir, dass Alina nicht bei einer Freundin sei, damit sie mir helfen könnte. Und das hätte sie ganz sicher gemacht. Bei solchen Sachen springt Alina immer für mich ein.
„Ich mache keinen drauf. Ich wurde nur gefragt, ob ich mitgehen möchte, und mich würde es freuen, wenn ich mir endlich wieder soziale Kontakte aufbauen kann“ Während ich diesen Satz sage, denke ich an Lissy. Seit ich aus der Klinik entlassen wurde, habe ich nichts mehr von ihr gehört und vielleicht sollte ich mich mal wieder bei ihr melden. Mich erkundigen, wie es ihr geht. Ich sollte das tun, was Hannah vernachlässigt hat, während ich in der Klinik war.
„Was würde wohl Dr. Klein dazu sagen?“ fragt meine Mutter und ich weiß nicht, ob sie sich diese Frage selber stellt, oder ob sie an mich und meinen Vater gerichtet ist.
„Dr. Klein hätte sicherlich nichts dagegen“ erwidere ich und zucke mit den Schultern.
„Verstehst du denn nicht, dass mir einfach unwohl bei den Gedanken ist, dich abends allein raus zulassen“ redet meine Mutter weiter. „Du weißt doch sicher noch, was das letzte Mal passiert ist, als du abends ausgegangen warst“
Ich zucke zusammen, und starre auf meine Hände, welche unentwegt an meinem Schal herumkneten. Ich weiß noch sehr genau, was das letzte Mal passiert ist. Ich war besoffen und bekifft im Park mit ein paar „Freunden“. Dann kam die Polizei, sammelte mich ein und brachte mich mit einer Alkoholvergiftung ins Krankenhaus. Magenauspumpen und Sondennahrung, weil den Ärzten mein Untergewicht natürlich nicht entgangen war.
Nur eine Woche später kam ich in die Klinik für Essgestörte.
„Ja, das weiß ich noch. Doch das war früher“ meine ich leise und schlucke die Tränen runter. Ich will nicht mehr weinen. Das habe ich schon lange nicht mehr getan, und das soll auch so bleiben.
„Wir machen uns einfach nur Sorgen“ wirft jetzt auch mein Vater ein.
„Eure Sorgen sind unberechtigt. Das versichere ich euch“
„Du hast uns damals so Vieles versichert, Lydia“ sagt meine Mutter leise und seufzt.
„Bitte, lasst mich einfach gehen. Ich bin gerade dabei, endlich mal wieder irgendwo Anschluss zu finden – vielleicht finde ich auch gerade neue Freunde, oder was weiß ich! Haltet mich nicht dauernd fest“ Ich schaue flehend von meiner Mutter zu meinem Vater, welche ebenfalls einen Blick tauschen.
Schließlich seufzt meine Mutter und nickt: „Um zwölf bist du zu Hause“
Auch, wenn zwölf für alle anderen, die auf der Party sein werden, bestimmt sehr früh ist, beschwere ich mich nicht. Ich bin froh, überhaupt mal wieder außerhalb der Schule unter Leute zu kommen. Das hatte ich in der letzten Zeit nämlich echt selten.
Auch, wenn ich mich freue, mal wieder weggehen zu können, so kann ich nicht lächeln. Ob ich es verlernt habe?
„Zwölf Uhr. Keine Minute später. Sonst müssen wir die Polizei nach dir suchen lassen, und auch sofort Dr. Klein anrufen“ droht mein Vater, als würde er mich damit einschüchtern können. Doch wir wissen beide, dass er das nur sagt, um meine Mutter zu beruhigend.
Von meinen beiden Elterneteilen ist es schon immer mein Vater gewesen, der mich besser kennt; besser versteht. Doch meinte Mutter ist fürsorglicher.
Ich nicke und flüstere: „Macht euch keine Sorgen“
Wie oft hatte ich das früher gesagt und damit gelogen. Ich glaube, viel zu oft.
Mein Vater lächelt: „Ich wünschte, dass wir das könnten“
Ich schweige und auch meine Mutter sagt nichts, bis ich schließlich den Stuhl zurückschiebe und aufstehe.
„Was ist mit deinem Essen?“ fragt sie mich empört. Ich habe nur ein halbes Brötchen und ein wenig Salat geschafft und komme mir vor, als würde ich platzen. „Ich bin satt“ antworte ich und verlasse schnell die Küche, bevor sie mir widersprechen können






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