Willkommen in meinem Leben - Teil 25

Autor: Lydia
veröffentlicht am: 09.08.2011


Pünktlich um acht klingelt es an der Tür, während ich einen letzten Blick in den Spiegel werfe und zugeben muss, dass Alina volle Arbeit geleistet hat. Von den eingefallenen Wangen ist nichts mehr zu sehen und auch meine Augenringe sind vollends verschwunden.
Meine sonst so unzähmbaren Locken fallen – dank Alina und sämtlichen Kuren und gefühlten drei Stunden Einwirkzeit – in weiche Wellen über meine Schulter.
„Ich glaube, es ist für dich“ ruft mein Vater mir aus dem Wohnzimmer zu und ich fahre mir ein letztes Mal mit der Hand durch die Haare, nehme meine Tasche und meine Jacke vom Bett, krieche in schwarze, hohe Schuhe, die mir Alina für den heutigen Abend leiht und gehe zur Tür, wo meine Schwester schon steht und ganz ungezwungen mit Luca plaudert.
Und ich kann nicht umhin, ihn umwerfend zu finden. Wie er einfach in der Tür steht, die Schulter am Türrahmen angelehnt und mit meiner Schwester lacht.
Der schwarze Anzug, den er trägt sitzt tadellos. Sein Hemd ist klassisch weiß und bildet einen starken Kontrast zu seiner gebräunten Haut und seinen dunklen Haaren. Auf eine Krawatte hat er verzichtet. Das schwarze Jackett hängt locker über seinem Unterarm.
Alina bemerkt mich zuerst, schaut auf und lächelt mich an. Dann kommt sie auf mich zu, küsst mich auf die Wange und sagt leise, sodass es nur ich höre: „Viel Spaß, meine Süße“
Ich lächele, drücke sie kurz an mich und schiebe sie dann wieder von mir. Ich will gerade etwas sagen, als meine Mutter aus dem Wohnzimmer kommt: „Viel Spaß, Lydia“ Sie nickt Luca kurz zu und sagt dann höflich aber distanziert: „Herzlichen Glückwunsch zu deinem Abschluss“
Er lächelt aufrichtig: „Noch habe ich meinen Abschluss nicht. Trotzdem danke“
Sie nickt nur und ein „Ach“ entweicht ihr, dann konzentriert sie sich wieder auf mich, obwohl ich eigentlich schon dezent Richtung Tür gegangen war, um möglichst schnell und möglichst unauffällig zu verschwinden. Doch der Kontrolle meiner Mutter entkomme ich nicht.
„Wann kommst du nach Hause?“
Ich spüre wie mir Luca einen skeptischen und zugleich prüfenden Blick zuwirft.
Alina schließt die Augen und seufzt lautlos, bevor sie zu meinem Vater ins Wohnzimmer verschwindet.
Ich zögere eine Weile, bevor ich antworte und schiebe Luca schon leicht aus der Wohnung. Schließlich sage ich: „Ich schlafe bei Luca. Tschüss, Mama“ Ich sehe nur noch ihr empörtes Gesicht, dann schließe ich die Tür hinter mir und meine zu Luca: „Beeil’ dich!“
„Ist das deine Art Konflikten aus dem Weg zu gehen?“ fragt er plötzlich und wirft mir einen spöttischen Blick zu.
„Bis jetzt hat es immer geklappt“ Ich zucke mit den Schultern und trete hinter Luca aus dem Haus und sehe schon seinen schwarzen Mercedes. „Es könnte allerdings sein, dass meine Mutter nun nicht mehr ganz so begeistert von dir ist“
Er zieht nur eine kurze Grimasse, dann hält er mich sanft am Arm fest und küsst mich zärtlich, bevor ich ins Auto einsteigen kann: „Du siehst toll aus!“
Ich merke, wie ich erröte und sage leise: „Danke“.
Luca lässt mich wieder los, geht um die das Auto herum und lässt sich dann neben mich auf den Fahrersitz fallen. „Du hast Maleen von deiner Essstörung erzählt?“ fragt er, während er den Motor startet.
Ich zucke zusammen und lache bitter: „Na, das spricht sich ja schnell rum!“
„Nein, sie hat es nur mir erzählt. Ich meine, ich bin dein Freund…“
Ich unterbreche ihn: „Ja, schon gut – Sie hat mich drauf angesprochen, und ich habe geantwortet“ Meine Stimme klingt zickiger, als ich es beabsichtigt habe.
Sanft streicht er mir mit der Hand über die Wange: „Hey, schon okay. Das war nicht als Vorwurf gemeint“
„Ich weiß doch“ flüstere ich, dann wechsele ich schnell das Thema. „Wo sind deine Eltern und dein Bruder?“
„Die sind schon dort“
„Ich bin nervös“
„Warum?“ Ungläubig und auch ein wenig misstrauisch schaut er mich von der Seite an.
„Ich wollte deine Eltern eigentlich nicht so früh kennen lernen“ Ich kichere unsicher – nach wie vor eine dumme Eigenart von mir.
Er schweigt eine ganze Weile, lenkt den Wagen zur Auffahrt des Heidelberger Kongresshauses und meint dann: „Ich bin ehrlich zu dir, meine Eltern sind nicht ganz leicht. Aber meinen Bruder wirst du mögen“
„Wie alt ist er noch mal?“
„Elf. Hat gerade seine erste Freundin“ Er zwinkert mir zu und bringt das Auto auf dem Parkplatz zum Stehen.
Ich muss leise lachen, schnalle mich ab und will gerade aussteigen, als Lucas Stimme mich davon abhält: „Bleib’ ja sitzen!“ mahnt er mich, steigt aus und läuft um das Auto herum, um mir die Tür aufzumachen.
Sichtlich gerührt steige ich aus und greife nach seiner Hand. Sofort verschränken sich unsere Finger ineinander und er beugt sich zu mir herunter und küsst mich sanft auf die Schläfe.

Der Ballsaal im Kongresshaus ist beeindruckend. Die langen Tische sind mit weißen Tischdecken versehen und mit rosa Rosengestecken verziert. Durch die großen, weiten Fenster fallen die letzten Sonnenstrahlen des Tages.
Auf der Bühne steht schon die Direktorin und überprüft das Mikrophon. Hier und da rennen ein paar Kellner herum und auch Sophia entdecke ich sofort. Sie lächelt mir vielsagend zu und stellt ein paar Wassergläser auf einen Tisch.
„Ich glaube, wir sind spät“ flüstert Luca mir zu und ich muss ihm leise lachend zustimmen.
Zaghaft umschließt er schließlich meinen Ellenbogen und führt mich zu einem Tisch, ziemlich am Ende des Saales. Die Tafel ist vollbesetzt, bis auf zwei Stühle ganz am Ende des Tisches.
„Luca, du bist spät!“ Ein etwas älterer Mann mit leicht ergrautem Haar, dunkelgrauem Anzug, der die Farbe seiner Haare hat, schaut Luca tadelnd an. Und an der Intensität seiner grünen Augen, weiß ich sofort, dass er Lucas Vater ist.
„Ich weiß“ Beiläufig rückt er mir den Stuhl zurecht, was mich sichtlich rührt. Doch für ihn scheint das keine große Geste zu sein.
Ich setze mich; neben mir Luca. Und noch während ich mich setzte, fragt die Frau, die mir gegenüber sitzt: „Und du musst Lydia sein“
Ich bin überrascht über ihren französischen Akzent und frage mich, ob sie wohl in Frankreich aufgewachsen ist. Warum hat Luca mir verschwiegen, dass er Halb-Franzose ist?
Seine Mutter reicht mir höflich ihre Hand, deren Finger mehrere Ringe zieren, die bestimmt nicht ganz billig gewesen sind. Ihr Händedruck ist erstaunlich fest für eine so kleine Person.
Sie sieht Luca überhaupt gar nicht ähnlich. Sie hat feines, blondes Haar und strahlend blaue Augen. Und ich vermute, dass Luca eher nach seinem Vater kommt. Allerdings ist Lucas Bruder das Ebenbild seiner Mutter. Und mit den blonden Locken sieht er aus wie ein Engel, aber laut Lucas Erzählungen ist er eher ein kleiner Teufel.
„Freut mich Sie kennen zu lernen“ sage ich schließlich unsicher und spüre Lucas Hand auf meinem Knie, was mir eine leichte Gänsehaut über die Haut jagt.
„Nenn’ mich Marie“ meint Lucas Mutter persönlich.
Sein Vater stellt sich mit den Vornamen Ralph vor und Lucas Bruder, Fabrice, erweißt mir erst die Ehre, mir seinen Namen zu nennen, nachdem er von seiner Mutter getadelt wurde.
Auch, wenn Lucas Familie auf den ersten Blick ganz nett wirkt, so werde ich das Unbehagen nicht los, das mich seit dem Beginn des Abiballs umschließt.
Ich lasse meinen Blick durch den Saal schweifen, bis er den von Maleen trifft. Sie lächelt mich an und hebt ihr Sektglas. Eine freundliche Geste und fast bin ich dabei, ihr ihre biestigen Kommentare zu verzeihen.
„Du hast uns zwar erzählt, dass sie hübsch ist, mein Guter, aber nicht, dass sie so hübsch ist!“ reißt mich die laute Stimme von Ralph aus meinen Gedanken. Erschrocken schaue ich auf und mein Blick geht von Ralph zu Luca. Wenn, dann soll nur er sehen, dass ich knallrot anlaufe.
„Ich dachte, das kannst du dir denken“ gibt Luca zurück und lächelt seinen Vater an. Doch es ist kein warmes Lächeln und zum ersten Mal beschleicht mich das Gefühl, dass Luca kein gutes Verhältnis zu seinem Vater hat.
Fabrice trommelt unruhig mit den Fingern auf dem Tisch herum und zieht ein sichtlich gelangweiltes Gesicht: „Es ist öde!“
In diesem Moment wird das Licht gedämmt und die Direktorin tritt auf die Bühne. Und ab da schalte ich ab. Die monotone Stimme wirkt beinahe einschläfernd auf mich, aber das ist von unserer Schulleiterin ja nur bekannt.
Lediglich die Diashows mit lauter Bildern von der 5. Klasse bis dato sind ein wenig interessant – moderiert von John, der immer gerne unnötige Kommentare zu allem abgibt; Klassenbilder, Bilder von Ausflügen und Klassenfahrten, Bilder der SMV-Sitzungen, wobei man bei diesen bemerken muss, dass es nicht so aussieht, als würden die Leute dort irgendetwas tun – auch Luca sieht bei diesen Veranstaltungen eher teilnahmslos aus; meistens mit einer Zigarette in der Hand.
„Du solltest aufhören zu rauchen!“ zischt ihm seine Mutter zu, was er nur gelassen mit einem Lächeln abtut.
Das nächste Bild – viel zu nahe und völlig überbelichtet - zeigt ihn mit drei qualmenden Zigaretten im Mund. „Und das machte unser Schülersprecher auf Klassenfahrten, wenn er paar Gläser zu viel gezwitschert hatte“ John zwinkert ihm zu und auch wenn seine Mutter völlig empört schaut und sein Vater nur grinst, so muss ich plötzlich lachen. „Das ist ja eine ganz neue Seite an dir“
Er dreht sich zu mir um, küsst mich vor seinen Eltern – was ich etwas unpassend finde – und sagt dann: „Du kennst viele Seite an mir nicht“ Er grinst mich verschwörerisch an, wendet sich danach aber von mir ab, um weiter Johns Vortrag zu lauschen.
Ich weiß nicht, ob ich von seinem Kommentar beunruhigt oder amüsiert sein soll.

Als das Buffet eröffnet wird, stöhne ich innerlich auf. Die Auswahl ist einfach viel zu groß für jemanden, der sowieso nicht wirklich etwas essen will; das Essen ist zu fettig.
Doch ich kann nicht nichts Essen. Lucas Eltern würden mich für seltsam und vielleicht sogar verrückt halten, also stehe ich brav mit auf, hole mir einen Teller und begutachte missmutig das Essen in den Behältern.
Ohne mich weiter bei den warmen Gerichten aufzuhalten gehe ich zu den Rohkostspeisen über und entscheide mich für Blattsalat mit ein wenig Joghurtdressing.
„Ich hoffe, das ist nur deine Vorspeise“ meint Luca leise, welcher neben mich getreten war. Sein Teller sieht natürlich ganz anders aus als meiner!
Traurig sehe ich zu ihm hoch: „Ich kann nicht. Nicht heute. Ich bin immer noch so nervös, und…“
Ich werde von Maleen unterbrochen, welche zu uns getreten war: „Wie ich sehe isst Lydia wieder ihr Hasenfutter“
Und dann ist es das erste Mal, dass ich Luca wütend erlebe. Er funkelt Maleen zornig an und sagt heftig: „Halt’ einfach die Klappe und geh’ weiter!“
An der Art, wie sich Maleens Miene ändert, weiß ich, dass selten mit ihr so geredet wird. Doch anscheinend wurde es mal bitter nötig.
„Danke“ sage ich leise, als weitergegangen war.
Er winkt meinen Kommentar nur ab und meint: „Iss’ bitte noch etwas anderes, als den Salat. Mir zuliebe… Im Zoo konntest du schließlich auch ein Eis essen“ Er zwinkert mir zu und ich seufze leise, während wir uns wieder an unsere Plätze setzen.
Ich betrachte ihn kurz von der Seite und seufze leise. Ihm zuliebe…
„Sag’ mal, bist du auf Diät?“ Zum ersten Mal an diesem Abend wendet Fabrice das Wort an mich. Und bevor ich antworten kann, plappert er weiter: „Weil, weißt du, meine Mama macht so was auch mindestens einmal im Monat“
Sichtlich beschämt, dass ihr Diät-Geheimnis gelüftet wurde, nehmen Maries Wangen eine rötliche Farbe an, dann sagt sie: „Aber ich habe weitaus weniger Erfolg“
Ich lache unsicher und schüttele mit dem Kopf: „Ich mache keine Diät“ Ich atme tief durch und weiß, dass wenn ich jetzt das sage, was ich sagen will, mich dazu verpflichtet noch mehr zu essen. Und das bei einem Magen, der im Moment sowieso das Bedürfnis hat sich zu entleeren. Doch ich sage es; Luca zuliebe. „Das ist nur meine Vorspeise“

Die gelblichen Ölflecke, die auf der Bratensoße oben schwimmen, widern mich an. Das Fett an dem Fleisch widert mich an. Die Süßkartoffeln widern mich an. Sogar das Gemüse widert mich an.
Seit ich aus der Klinik draußen bin, habe ich mir angewöhnt wieder mehr zu essen. Doch bisher habe ich immer darauf geachtet, fettige Fast Food Gerichte zu vermeiden. Ich aß Salat, Obst, mal eine Scheibe Tost mit Butter bestrichen. Hier und da mal ein paar Gummibärchen, die mir Alina aufschwatzte.
Der Teller der jetzt vor mir steht, ist Neuland für mich. Natürlich gab es in der Klinik einmal in der Woche einen Teller, der so ähnlich gefüllt war. Doch ich wohne seit 3 Monaten nicht mehr in der Klinik. Und so bescheuert es klingt, ich bin überfordert. Vielleicht kann man das Essen hier mit dem Kantinenessen bei uns in der Schule vergleichen. Doch das vermeide ich ja so gut es geht.
Ich versuche Zeit zu schinden, indem ich irgendetwas erzähle, doch da mir nichts Schlaues einfällt von dem ich reden könnte, höre ich nur den Gesprächen von Luca und seinem Vater zu und beginne zu essen; eine Portion, die noch nicht einmal als Kinderportion durchgehen kann.
Und noch während ich esse, wird das Licht wieder gedämmt – anscheinend soll das Programm weiter gehen und Luca steht auf und sagt leise zur mir: „Ich muss die dummen Auszeichnungen verlesen“ Er verdreht die Augen und geht dann in Richtung Bühne, während ich mich seiner Familie allein am Tisch sitzen bleibe.
Ich bin dankbar dafür, dass nur wenig später Sophia vorbeikommt und meinen Teller an sich nimmt: „’tschuldigung, dass ich den Teller mitnehmen muss. Aber wir müssen abräumen“
Ich weiß sofort, dass sie lügt, denn einige anderen essen auch noch. Doch sage nichts, sondern reiche ihr den Teller und forme mit den Lippen ein stummes „Danke“.
„Na ja, du warst ja fast fertig“ Ralph zwinkert mir zu und kurz habe ich das Gefühl, Luca in 20 Jahren anzuschauen.
Ich lache leise und nicke, doch ich sage nichts. Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Also schweige ich und höre weiterhin den Auszeichnungen zu, die Luca vorliest. Reihenweise Abiturienten gehen vor auf die Bühne und holen sich ihren Preis für das beste Abitur in XY ab.
Wenn man Luca nicht gut kennt, würde man meinen, er verlese die Namen mit Begeisterung und aufrichtigem Interesse vor. Doch ich höre aus seiner Stimme heraus, dass er auf die ganze Sache gar keine Lust hat.
Manchmal frage ich mich überhaupt, wie er Schülersprecher geworden ist, wenn ihm diese Sache so offensichtlich so wenig Spaß macht. Vielleicht erwarten es seine Eltern – und bei seinem Vater kann ich mir das sogar gut vorstellen.






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