Willkommen in meinem Leben - Teil 14

Autor: Lydia
veröffentlicht am: 15.01.2011


Wir sitzen im Auto und schweigen. Nur die Musik von irgendeiner Band, die ich nicht kenne, ist zu hören.
„Wohin fahren wir?“ frage ich erneut, obwohl ich ganz genau weiß, dass ich keine Antwort bekommen werde.
„Du kriegst keine Antwort. Und das weißt du auch“
„Och man“ Spielerisch schubse ich ihn und lese die Schilder auf der Autobahn. Irgendwie fahren wir Richtung Würzburg. Und ich werde misstrauisch. Mal davon abgesehen, dass ich Überraschungen wirklich hasse. „Wie lange fahren wir?“ frage ich, weil ich dieses Schweigen irgendwie nicht mag.
Er zögert eine Weile, dann antwortet er: „Knapp drei Stunden“
Ich nicke nur und sage nichts mehr. Ich versuche nur zu kombinieren – wir fahren Richtung Würzburg, wir fahren drei Stunden…
„Och man, ich find’ das so gemein!“ jammere ich schließlich, doch er grinst nur und legt mir locker den Arm um die Schulter.

Ausfahrt Königsfeld/Wattendorf/Steinfeld. Und jetzt weiß ich, was er vorhat! Ich kann plötzlich nicht mehr klar denken. Mich überkommen Hitzewellen und ich zucke zusammen und schaue ihn wütend an: „Was fällt dir ein?!“
Er widmet mir nur einen kurzen besorgten Blick und schaut dann wieder auf die Straße. „Was meinst du?“ Seine Stimme klingt so ruhig, während ich völlig ausflippe.
„Willst du mich demütigen? Willst du das? Willst du, dass ich mich schlecht fühle; dass ich noch mehr mit meinen Sorgen, Ängsten und mit meiner Vergangenheit konfrontiert werde?! Willst du das wirklich?!“ Ich bemerke, wie meine Stimme immer schriller wird und dass sie sich überschlägt.
Luca antwortet nicht, er fährt nur unbeirrt weiter.
„Wage es jetzt ja nicht, mich zu ignorieren!“ schreie ich ihn weiter an und ohne Vorwarnung reißt er das Lenkrad rum und der Wagen kommt am Rand der Landstraße zum Stehen. Hinter uns ertönt ein Hupen und wir schenken ihm keine Beachtung.
„Okay, schrei’ mich an.“ sagt Luca immer noch völlig ruhig. Er dreht sich zu mir um und schaut mich mit einem Blick an, den ich nicht deuten kann.
Mir verschlägt es die Sprache.
„Das ist jetzt nicht dein Ernst? Jetzt, wo ich mich auf deine Gezeter konzentrieren kann, schweigst du…?“ Er lacht leise.
„Ich find’ das gar nicht witzig“ zische ich und merke wie mir die Tränen die Sicht verschleiern.
Ich spüre seine Hand an meiner Wange, doch ich drehe mich weg.
„Hör’ mal“ redet er schließlich. „Wir fahren da nur hin, weil du gesagt hast, dass du gerne Kontakt zu Lissy halten würdest. Ich fahre da nicht mit dir hin, weil ich denke, dass du da hin gehörst“
Ich lache bitter: „Schön zu wissen“ Dennoch sehe ich ihn nicht an.
„Wenn du willst, drehen wir um“
Ich zögere eine Weile, doch dann drehe ich mich ruckartig zu ihm um und schüttele hastig mit dem Kopf: „Nein… Nein. Lass’ uns hinfahren“
Er zieht skeptisch die Brauen nach oben. „Sicher?“
Als Antwort beuge ich mich zu ihm vor und küsse ihn. Schließlich nicke ich und antworte: „Sicher“

Die dicke Empfangsdame ist überrascht mich zu sehen. Ich sehe es an ihrem runden Gesicht; sie reißt die Augen weit auf und schlägt die Hand vor den Mund. Dann steht sie auf, läuft um den Tresen herum und schüttelt mit dem Kopf: „Lydia!“
Ich bleibe unsicher stehen und greife wie aus Reflex nach Lucas Hand und zerquetsche sie sicher fast. Es ist komisch wieder hier zu sein. Also, nicht auf eine bizarre Art komisch – nein, es ist auf eine… unangenehme Art komisch.
„Hallo, Frau Odwald“ sage ich leise.
„Was machst du denn hier? Hast du was vergessen, oder musst du wieder…“ Frau Odwald spricht nicht weiter. Das muss sie auch gar nicht. Ich weiß, was sie sagen will. Und es lässt mich nicht so halb so kalt, wie es das sollte. Ich bin unfähig etwas zu sagen. Stattdessen antwortet Luca für mich: „Nein, wir – ähm sie will nur jemanden besuchen“
Fragend schaut mich Frau Odwald an und ihr Blick fliegt von Luca wieder zurück zu mir. Dann sagt sie hastig: „Ich hole am besten mal Dr. Klein“
„Das wäre nett“ flüstere ich und Frau Odwald geht mir ihren kleinen Tippelschritten davon.
„Wie geht’s dir?“ fragt Luca neben mir und ich schaue zu ihm hoch und lockere meinen Griff um seine Hand, doch ich lasse nicht los. „Hm… es ist irgendwie… komisch“ Ich weiß, dass es nicht komisch sein sollte.
Wenn ich wirklich jemals kein Problem mehr mit mir und meinen Essgewohnheiten haben sollte, dann sollte ich die Klinik und Lissy besuchen kommen können, ohne mich komisch zu fühlen. Und ich sehe an Lucas Blick, dass er gerade dasselbe denkt.
„Lydia!“ Ich erkenne die Stimme sofort. Ich wirbele herum, lasse Lucas Hand los und lächele Dr. Klein unsicher an. „Es ist doch okay, dass…“ Ich kann meinen Satz nicht vollenden, denn Dr. Klein unterbricht mich: „Dass du uns – oder vielmehr Lissy – besuchst? Natürlich ist das okay. Du bist immer willkommen“ Erst jetzt fällt sein Blick auf Luca: „Oh, wie ich sehe, hast du jemanden mitgebracht“
Ich nicke und drehe mich halb zu Luca um: „Ja… ähm… das ist…“ Ich verhasple mich komplett und breche ab, stattdessen antwortet wieder Luca für mich. Er gibt Dr. Klein die Hand: „Ich bin ihr Freund. Ich hab sie hergefahren“
„Ah…“ Dr. Klein wirft mir einen bedeutungsvollen Blick zu und ich bete nur, dass er jetzt nichts sagt. Doch ich wurde vom lieben Gott wohl nicht erhört.
„Den gab’s aber noch nicht, als du hier weggefahren bist“
Ich spüre wie ich knallrot anlaufe: „Jetzt reicht’s!“ Ich kichere, weil ich immer kicher, wenn ich nervös bin. „Ich würde gerne Lissy besuchen. Ist sie da…? Sie ist doch noch da, oder?“
Dr. Klein nickt: „Ja, sie ist noch da. Sie ist oben in ihrem – eurem alten Zimmer. In einer halben Stunden beginnt aber…“
Ich unterbreche ihn: „Ich weiß“ Ich weiß noch sehr genau, dass in einer halben Stunden die Gruppentherapie beginnt. In meinen Augen war es nie – und ist auch immer noch nicht – eine Gruppentherapie. Es ist einfach nur Theaterspielen. Lissy und ich haben das immer sehr gern gemacht. Ich glaube, Lissy gefällt es immer noch. Und ich mache es nicht mehr.
Ich drehe mich zu Luca um: „Wartest du hier?“
Er nickt: „Klar“
Ich lächle ihn an, streiche ihm kurz das Haar aus den Augen und drehe mich dann um.
„Weißt du noch, wo es lang geht?“ ruft mir Dr. Klein hinterher, während ich schon durch das Foyer laufe.
Ich drehe mich im Laufen um und nicke mit dem Kopf. Doch sagen tu’ ich nichts. Ich denke nur traurig: Ich weiß sehr genau wo’s lang geht.

Zimmer 203. Die Tür ist immer noch trist und grau. Und auch unser Schild, das wir gebastelt hatten, als wir Zimmergenossen wurden, hängt noch. Immer noch quietschbunt, und voller Farben, die nicht zusammenpassen.
Nur das mein Name durchgestrichen ist. Nun steht nur noch Lissy drauf. Mein Name ist von vielen schwarzen Linien durchzogen.
Von drinnen höre ich Musik. Ich erkenne das Lied sofort: Sophie von Eleanor McEvoy. Und wieder steigen mir die Tränen in die Augen. Doch ich muss stark sein; dabei will ich das gar nicht. Ich will am liebsten umdrehen und wegrennen, mich in Lucas Armen verkriechen oder Alina wieder vorjammern, dass ich das alles nicht kann; dass ich für all das nicht stark genug bin, dass ich es nicht schaffe.
Doch ich bin entlassen worden, während Lissy immer noch hier ist. Wenn einer das Recht hat zusammenzubrechen und den Kopf in den Sand zu stecken, dann ist es sie und nicht ich!
Leise klopfe ich an und ich höre ihre unfreundliche Stimme: „Was ist denn noch, Kathrin!?“
Kathrin, die uns betreuende Schwester. Eine nervige Frau. Lissy und ich haben oft über sie gelästert.
Ich öffne die Tür und will lächeln, doch wieder kriege ich keines zu Stande. „Nicht Kathrin… Ich bin’s: Lydia!“
Lissy sitzt auf ihrem Bett, vor ihr ein Buch – bestimmt ist es das, was ich ihr zum Abschied geschenkt hatte, denn sie selbst besitzt keine Bücher. Sie reißt den Kopf hoch und schlägt die Hand vor den Mund, wie es Frau Odwald auch getan hat. Dann springt sie auf und fällt mir um den Hals. „Was machst du denn hier?!“
Ich drücke sie an mich und fühle, dass sie noch dünner geworden ist. Oder es liegt einfach daran, dass ich mittlerweile wieder zwei Kilo schwerer geworden bin und sie mir deswegen so dünn vorkommt. Ihr schwarzes Haar ist länger geworden, nur die eisblauen Augen sind dieselben geblieben.
Lissy schiebt mich wieder von sich und wiederholt ihre Frage: „Was machst du hier?“ Doch ich habe keine Zeit zu antworten. Sie äußerst dieselben Bedenken, wie Frau Odwald: „Du musst doch nicht etwas wieder…?“
Ich schüttele mit dem Kopf: „Nein, auch wenn ich manchmal das Gefühl habe, dass ich zurückkommen sollte“
„Was redest du denn da?! Du siehst du doch di… gut aus!“
Ich weiß, dass sie sagen wollte, dass ich dick aussehe. Und auch, wenn ich es nicht will, so versetzt mir ihr Kommentar einen Stich. „Ich habe auch zugenommen!“
„Das ist doch gut“ Sie lächelt mich ehrlich an und umarmt mich noch einmal. „Ich freu’ mich total, dass du da bist. Seit du weg bist, ist es ziemlich einsam hier“
„Das kann ich mir vorstellen“ Ich lasse mich auf mein altes Bett fallen und schaue mich im Zimmer um. Es hat sich nichts verändert und trotzdem kommt es mir fremd vor, so wie vor ein paar Wochen mein Zimmer zu Hause mir fremd vorgekommen ist.
„Kathrin ist immer noch so nervig wie früher!“ beginnt Lissy zu lästern, als von der Tür eine Stimme ertönt: „Ach ja, ist sie das?!“
„Hallo, Kathrin“ bringe ich unter Lache hervor. Lissy läuft knallrot an, doch dann zuckt sie mit den Schultern und reckt trotzig nach Kinn nach vorne: „Ist doch egal. Ich bin eh’ nicht mehr lange hier!“
„Das glaube ich allerdings schon“ bemerkt Kathrin leise und streicht sich eine rote Locke hinter die Ohren.
Lissy schweigt und auch ich sage nichts.
Kathrin legt ein paar Sachen von Lissy zusammen und durchsucht die Schränke auf Essensreste. Dann nimmt sie die Tafel Schokolade, die auf dem kleinen Tischchen an sich: „Wenn ich doch nur wüsste, dass du sie wirklich essen und auch bei dir behalten würdest, Lissy“
Lissy senkt den Kopf und schaut aus dem Fenster. Nach kurzem Zögern setzte ich mich neben sie und lege ihr meinen Arm um die Schultern. Dann schaue ich zu Kathrin: „Ist doch jetzt egal, oder?“
„Leider nein, Lydia. Und das weißt du auch“ antwortet Kathrin und ich nicke nur. Was soll ich dazu auch sagen?
„Wie geht es dir eigentlich? Hast du dich wieder gut zu Hause eingelebt?“ fragt sie mich nach einer Weile des Schweigens.
Ich nicke: „Ja, es geht. Es ist nicht ganz leicht“
„Du schaffst das, Lydia. Da bin ich mir sicher…. Du, ich muss dann auch weiter. Tom wartet bestimmt. Vielleicht kannst du auch mal bei ihm vorbeischauen. Er freut sich bestimmt“
„Ja, vielleicht“ meine ich auch, doch ich weiß ganz genau, dass ich Tom nicht besuchen werde. Es reicht mir schon, zu sehen wie es Lissy immer noch nicht besser geht; wie sie immer noch leidet, während ich mich anstelle wieder einen Weg zurück ins Leben zu finden.
„Bis bald, Lydia“ sagt Kathrin noch, bevor sie das Zimmer verlässt.
„Sie ist genau wie vor ein paar Wochen“
„Die ändert sich auch nicht“ knurrt Lissy. Dann schaut sie mir in die Augen: „Willst du mir jetzt eine Moralpredigt halten? Darüber, dass ich nicht immer kotzen gehen soll?“
Ich zögere eine Weile, dann schüttele ich mit dem Kopf: „Nein, das steht mir nicht zu“
„Danke“ flüstert Lissy. „Auch für deinen Besuch“ Sie wirft einen Blick auf die Uhr, dann sagt sie: „Ich muss jetzt zur Gruppentherapie“ Sie verzieht ihr schönes Gesicht zu einer Grimasse und steht auf. Ich erhebe mich ebenfalls.
Zusammen gehen wir runter, bis vor den Saal in dem wir immer Theater gespielt haben. Ich bleibe davor stehen.
„Willst du vielleicht noch mit rein?“ fragt Lissy und ich sehe in ihren Augen, dass sie Hoffnung hat, dass ich ja sage. Doch ich muss sie enttäuschen: „Nein, tut mir Leid. Ich will…“ Ich breche hab und setzte noch mal neu an: „Ich kann nicht“
„Ist schon okay. Aber es wäre sicher lustig geworden, wenn du noch mal mitgespielt hättest“
Ich nicke nur und umarme Lissy noch mal fest. „Ich komm’ dich bald wieder besuchen“
„Versprochen?“
„Versprochen“




Teil 1 Teil 2 Teil 3 Teil 4 Teil 5 Teil 6 Teil 7 Teil 8 Teil 9 Teil 10 Teil 11 Teil 12 Teil 13 Teil 14 Teil 15 Teil 16 Teil 17 Teil 18 Teil 19 Teil 20 Teil 21 Teil 22 Teil 23 Teil 24 Teil 25 Teil 26 Teil 27


© rockundliebe.de - Impressum Datenschutz