Die Kunst zu lieben - Teil 8

Autor: I.AMsterdam
veröffentlicht am: 30.11.2012


- Tag 6 -

In den Schulpausen sitze ich meistens etwas isoliert und ausgegrenzt in der Cafeteria, wo ich mich - mit Büchern ausgestattet - für die bevor liegende Schulstunde vorbereite.
So auch jetzt.
Ich blättere ein paar Seiten durch, die alle etwas mit der deutschen Geschichte zu tun haben, schaue mir noch einmal die vielen Daten und Ereignisse an, welche zu den darauffolgenden Konsequenten geführt haben, und bin mal wieder ganz erstaunt.
Geschichte ist eines meiner Lieblingsfächer.
Ich denke, dass man aus der Vergangenheit viel lernen kann und sie auch möglichst genau kennen sollte, denn schließlich macht sie uns zu dem, was wir in der heutigen Zeit sind. Auch interessant finde ich, dass man das Geschehene nicht wieder ändern kann, dass man sich für eine Schulstunde in eine andere Zeit zurückversetzt und sich mit dem Leben vor unserer Generation beschäftigt.
Andere wiederum finden womöglich genau das einfach totlangweilig.
Ich bin mir sicher, dass zu diesem Prozentanteil auch die Vierer-Clique gehört, die nun in einem betont lässigen Gang auf mich zusteuert. Jenny und ihre drei Analphabeten sind in Anmarsch.
Na toll.
„Hey Leolein“, säuselt das einst blonde Mädchen mit den gelben Zähnen und grinst gehässig. Vor fünf Wochen hat sie ihre Haare rabenschwarz gefärbt. Passend zu ihrer Seele, wie ich finde.
Sie umrundet den Tisch, an dem ich sitze, und stützt sich mit den Händen auf der Platte direkt neben mir ab, so dass sie mich schräg von der Seite anschauen kann. Ein viel zu süßer Duft geht von ihr aus.
„Ich hab dich am Freitag zusammen mit unserem Bad Boy, Milan, in einem Klassenraum verschwinden sehen“, fährt sie mit einem wissenden Grinsen fort und beleckt sich die Lippen. „Was habt ihr denn dort so Schönes getrieben?“
Mein Körper erstarrt.
Sie glaubt doch nicht ernsthaft, dass Milan und ich…? Nein, das ist absurd. Völlig hirnlos. So etwas kann ja nur Jenny denken.
Ich hebe den Kopf und schaue ihr mit einem - hoffentlich - düsteren Blick in die blauen Augen.
„Lasst. Mich. In. Ruhe.“, zische ich warnend.
Einer von den Analphabeten hat sich auf die andere Seite neben mich gestellt, der andere vor dem Tisch, mir gegenüber und ein weiterer hinter meinem Stuhl.
Ich bin eingekesselt.
„Sei doch nicht gleich so eingeschnappt“, lacht derjenige, der gegenüber von mir steht. Nur der Tisch trennt uns.
„Verschwindet“, wage ich erneut einen Versuch, der jedoch kläglich scheitert und mit spöttischem Gelächter kommentiert wird.
Sie nehmen mich nicht ernst.
„Woher hast du denn das süße Veilchen an deiner Schläfe?“, fragt nun der Linke von mir und grinst süffisant. „Scheinst ja eine richtige Schlägerbraut zu sein, das hätte ich nicht gedacht“
Ich presse die Lippen zusammen und starre stur auf das aufgeklappte Buch.
Kein Wort kommt über meine Lippen.
Jenny rückt auf einmal näher ran und mustert mich interessiert. „Sag nicht, dass Milan dich geschlagen hat“
In ihren Augen funkelt ein boshaftes, vorfreudiges Glitzern, als würde sie nach jeder gehässigen Neuigkeit gieren. Als wäre mein Leben so interessant.
Empört schnappe ich nach Luft. „Nein, natürlich nicht!“
„Oh wie süß, du nimmst ihn in Schutz“, lacht die Schwarzhaarige und formt ihre Lippen zu einem spöttischen Lächeln.
„Ich sage nur die Wahrheit“, erwidere ich finster.
Jenny hebt eine Augenbraue. „Die Wahrheit, soso“
Sie stützt ihre Ellenbogen auf der Tischplatte ab und schaut mir nun ernst in die Augen, so dass ich mich augenblicklich versteife. Ihr gehässiges Grinsen ist verschwunden.
Ich ahne schlimmes.
„Dann will ich dir nun auch einmal die Wahrheit sagen, Leona“, fährt das Mädchen fort und zieht die Augenbrauen zusammen. „Du bist ein Loser. Ein Nichtsnutz. Keiner will etwas mit dir zu tun haben, alle hassen dich. Hast du das etwa noch nicht bemerkt? Sonst bist du doch auch immer so schlau, so intelligent. An deiner Stelle würde ich mich schämen, in Grund und Boden! Du weißt doch gar nicht, was es heißt zu ackern, zu büffeln, sich durchzusetzen. Du kennst das echte Leben gar nicht, die Schattenseiten! Und das nur, weil Mami und Papi dir das Geld in den Hintern stopfen! Du bist ein Parasit! Deine Eltern wären besser die fünf Minuten spazieren gegangen!“
Geschockt starre ich sie an.
„Ich frage mich, wie du es überhaupt noch fertig bringen kannst, einen Atemzug zu machen. Wie du es wagen kannst die Welt weiterhin zu beschmutzen“, fügt sie grollend hinzu.
Wirsch streicht Jenny sich eine schwarze Strähne hinter das Ohr und stellt sich wieder aufrecht hin. Ihr Blick ist düster.
Ich schlucke hart.
Der Schlagrhythmus meines lebenswichtigen Organs nimmt eine höhere Frequenz an, scheint flüchten zu wollen, sich zu wehren.
– Vergebens.
Jenny schnaubt. „Also, dann. Wir sehen uns mit Sicherheit noch einmal“
Wie auf Kommando entfernen sich auch die anderen drei von mir, nehmen Abstand, und schauen mich mit einem vernichtenden Blick an. Als sie schließlich aus meiner Sichtweite sind, klappe ich das Geschichtsbuch mit einem dumpfen Laut zu und - hole zitternd Luft.
Ich versuche meine Schutzmauer nicht bröckeln zu lassen, die Worte von Jenny nicht zu ernst zu nehmen, sie zu vergessen.
Doch es ist zu spät. Ich bin eben auch nur ein Mensch, und Worte treffen immer - direkt ins Herz.
Tief in mir drinnen spüre ich, wie ein Vulkan ausbricht. Heiße Lava durchflutet meinen Körper, verglüht meine Seele, alles von mir.
Ich unterdrücke einen Schrei.
Noch nie hat mir jemand so offen und hart solche brennenden Worte entgegen geschmettert. Jede einzelne Silbe hat mich wie eine Ohrfeige getroffen.
Es ist, als hätte Jenny mit einer Peitsche auf mein Herz eingeschlagen, jede Art von fühlen schmerzt.
Mein Innerstes bricht zusammen.

Abrupt stehe ich auf, sammele meine Geschichtssachen ein und flüchte.
Ich muss raus.
Weg.
Hinfort, einfach verschwinden. Die Blicke der anderen, diese angeekelten, spöttischen Blicke zerren an meinen Nerven. Dazu schwirren noch die Worte von Jenny in meinem Kopf, als wären sie eingebrannt wie ein Tattoo.
Du bist ein Parasit.
Alle hassen dich.
An deiner Stelle würde ich mich schämen, in Grund und Boden!

Ich werde die Worte nicht mehr los. Ich kann sie nicht vergessen, nie wieder.
Ich verliere.

Mit energischer Wucht stoße ich die Türen zum Hintereingang auf, sauge die kühle, frische Herbstluft ein und laufe - weg.
Schritt für Schritt.
Ein feiner Nieselregen schlägt mir entgegen, empfängt mich, durchweicht meinen Pullover, meine Hose, meine Tasche. Die Jacke habe ich im Klassenraum über den Stuhl gehängt, doch das macht nichts.
Ich brauche es, diese Art von Gefühl. Die Kälte, die mich betäubt.
Ein leises Wimmern ertönt aus meinen Mund, ertappt presse ich die Lippen aufeinander. Der Regen benetzt mein Gesicht wie ein Spinnennetz, welches sich sofort wieder auflöst. Mein Atem kommt nur stoßweise.
Orientierungslos laufe ich über den menschenleeren Schulhof, marschiere mit schnellen Schritten über den Asphalt und schließlich zur Turnhalle. An die Mauer gelehnt und geschützt von ein paar Bäumen, lasse ich mich auf den feuchtkalten Boden nieder, schließe keuchend die Augen.

Stille.
Abstand.

Kurzschlussreaktion nennt man so etwas wohl.
Einzelne Tränen, die sich unerträglich heiß in der Kälte anfühlen, rennen meine Wangen hinab, vermischen sich mit dem Regen. Fröstelnd verschränke ich die Arme vor meiner Brust.
Ich warte, bis ich mich wieder beruhige; bis mein Anfall verebbt und ich wieder einen klaren Gedanken fassen kann.
Es dauert ein paar Minuten.
Die Wucht von Jennys Worten ist heftig gewesen, ich habe mich nicht gewappnet. Und mit der Wucht kamen die Erinnerungen wieder hoch, der Schmerz. Ein Dominoeffekt, quasi.
All mein Leid, die negativen Gefühle, haben mich wie eine Lawine überrollt. Und Jennys Worte sind der Anstoß gewesen, der das Ganze ins Rollen gebracht hat.
Ich hasse sie.
Und die drei Analphabeten.
Und meine Familie.
Und den Rest der Welt.
Schluchzend schlinge ich meine Arme um die angewinkelten Beine, lege meine Stirn an das Knie und versuche einfach alles auszublenden.

Ich frage mich, wie du es überhaupt noch fertig bringen kannst, einen Atemzug zu machen.
Du bist ein Loser. Ein Nichtsnutz.

Ich habe das Gefühl, dass ich soeben einen Rückschlag erlitten habe.
Aber das wäre nicht die korrekte Bezeichnung, schließlich kann ein Gegenprall nur dann erzeugt werden, wenn man gerade auf dem Weg zur Besserung war. Auf dem Weg, glücklich zu sein.
Doch das bin ich nicht gewesen.
Oder?


– Ein Geräusch ertönt.
Ich höre, wie Füße durch Pfützen stapfen. Wie sich jemand nähert.
Langsam hebe ich den Kopf, meine nassen Haare bilden eine Gardine vor meinem Gesicht, die sich erst durch ein kaum merkliches Zucken wie ein Vorhang zur Seite schieben lässt.
So dass ich Milan sehen kann.
Ich erstarre für einen kurzen Moment und schaue ihn mit großen Augen an.
Nein, das kann nicht wahr sein! Nicht er! Nicht schon wieder!
Am liebsten würde ich das Schicksal einmal in die Hand nehmen, es schütteln und fragen, warum es mir solche Streiche spielt.
Das ist gruselig.
Meine Lippen formen sich zu einer bleistiftdünnen Linie, ich hebe die Schultern und warte darauf, dass Milan mich ebenfalls bemerkt. Mich, die seelisch, kranke Person.
Er geht in ruhigen, gelassenen Schritten an mir vorbei, die Hände in den Vordertaschen seiner Jeans. Der Regen scheint ihm nicht im Entferntesten etwas auszumachen.
Ein paar Meter weiter bleibt er stehen, verharrt auf der Stelle mit dem Rücken zu mir.
Sein Kopf rückt zur Seite, als würde er etwas lauschen. Ich presse die Lippen aufeinander und mache mich kleiner.
„Kennst du Winston Churchill?“, fragt er auf einmal.
Verwundert hebe ich den Kopf.
Milan schaut mich nicht an, wirft noch nicht einmal einen Blick über die Schulter, lediglich sein Ohr ist meine Richtung gedreht.
Für einen kurzen Moment frage ich mich, ob er wirklich mich angesprochen hat. Doch mit wem sollte er sonst reden, hier ist ja niemand.
Ich runzele die Stirn. „Ähm, ja“
„Weißt du, was er einmal gesagt hat?“, hakt er weiter nach. Doch es ist eine rhetorische Frage, weshalb er nicht auf eine Antwort meinerseits wartet, sondern von selbst fortfährt. „Es gibt ein Zitat von ihm: »Die Kunst ist, einmal mehr aufzustehen, als man umgeworfen wird.«“
Überrascht hebe ich die Augenbrauen, sage jedoch nichts.
In meinem Kopf rattert es, lauter Fragen sprudeln wie ein Wasserfall in meinen Schädel hinein. Ich bleibe stumm.
Milan wendet seinen Kopf wieder ab, zieht die Schultern hoch und setzt anschließend schweigend seinen Weg fort. Meine Stirn kräuselt sich zu einer ratlosen Miene, während ich ihm hinterher starre.
Was war das denn jetzt?
Will er mich mit diesem Zitat etwa… motivieren?
Ich schüttele den Kopf.
Ich verstehe Milan nicht, und werde es wohl nie tun.
Mit geschlossenen Augen lehne ich meinen Kopf an die kalte Wand und atme tief durch. Es wird wohl Zeit, dass ich die Kunst, von der Winston Churchill sprach, ausübe.


••

Nachdem ich eine Stunde lang in die Zeit des 20. Jahrhunderts zurückversetzt wurde (ich habe es noch rechtzeitig zum Unterricht geschafft), packe ich hastig meine Sachen ein und flüchte aus dem Klassenraum, um ein langes Anstehen in der Cafeteria zu vermeiden. Die Mittagspause steht nun an.
Es ist immer wieder das Gleiche: Wer zu spät kommt, muss sich hinten anstellen und ungeduldig warten, während man in der Schlange zerquetscht wird, weil jeder unbedingt nach vorne will, um seinen knurrenden Magen zu stillen.
Ich hasse es. Dieses Drängeln geht mir tierisch auf den Geist.
Auf meiner alten Schule war das etwas anders, weil es direkt in der Nähe eine große Bäckerei gab, wo die Schüler - obwohl sie es eigentlich nicht durften - ein paar belegte Brötchen oder Sonstiges für einen billigen Preis bekommen haben. Dafür war es in der Schulcafeteria immer sehr leer - sehr zu meinem Vorteil.
Ich versuche die Mittagspause immer irgendwie zu genießen und mich mental auf die bevorstehende Schulstunde vorzubereiten. Für den heutigen Tag ist das mehr als nötig, denn für den Nachmittagsunterricht muss ich in Sportsachen schlüpfen und unmotiviert in der Turnhalle beweisen, wie sehr ich schwitzen kann.
Und darauf habe ich wirklich keine Lust.

„Autsch“, fluche ich leise, als ich einen Ellenbogen in meinen Rücken gestoßen bekomme.
Die vielen Leute um mich herum engen mich ein, geben mir keinen Raum zum bewegen. Sie reden, kichern, lachen, schimpfen. Und sind sehr hartnäckig. Ich presse die Lippen aufeinander und werde automatisch nach vorne gedrückt, als die glückliche Person am Tresen ihr Essen in den Händen hält.
Ein paar Minuten später darf ich diese Rolle der Person übernehmen, bekomme grimmig mein Käsebrötchen in die Hand gedrückt und werde sofort von den gierigen Schülern hinter mir zur Seite geschoben.
Ich atme auf.
Schnellen Schrittes entferne ich mich von der verhungernden Masse, verlasse die Cafeteria und lasse mich schließlich in dem Schulfoyer auf einen der gepolsterten Sitze nieder.
Seufzend puste ich mir eine rote Strähne aus dem Gesicht und beiße herzhaft in das neutrale Brötchen.
Während ich esse, schweifen meine Gedanken wieder ab, jedoch bemühe ich mich krampfhaft, dass sie mich nicht wieder an die letzten zwei Stunden erinnern.
Doch es nützt nichts.
Ich wurde schon öfters verbal gemobbt, aber Jennys Worte haben eindeutig den Bogen überspannt. Warum sagt sie mir das? Bin ich tatsächlich so schlimm, so verabscheuungswürdig? Aber was habe ich ihr denn getan?
Es macht mich wahnsinnig, dass ich auf diese Fragen keine Antworten finde. Jennys Worte haben mich verletzt, mir den Wind aus den Segeln genommen.
Ich würde am liebsten - ich weiß auch nicht - einfach den ganzen Frust, die Wut, die Enttäuschung, den Schmerz, alles irgendwie loswerden.
Doch ich weiß nicht, wie.

„Leona?“
Verwirrt schüttele ich den Kopf und lande abrupt wieder in der Gegenwart. Nia steht neben mir und bedenkt mich mit einem skeptischen Blick.
„Alles okay? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen“, meint sie und setzt sich neben mich auf den freien Platz.
Ich raffe mich zu einem Lächeln auf. „Nein, alles bestens. Ich war nur in Gedanken“
„Scheinbar keine guten Gedanken“, bemerkt sie und wirft mir einen prüfenden Seitenblick zu. „Ich habe vorhin in der Pause Jenny und die drei Hampelmänner um dich herum stehen sehen. Was wollten sie von dir?“
„Das übliche“, erwidere ich wenig lukrativ.
Nia hebt die Augenbrauen, schaut mich nachdenklich an und seufzt schließlich ergeben. „Na gut, dann werde ich nicht weiter nachbohren. – Du warst gestern auch in der Kirche, oder? Ich habe dich gesehen“
„Ach, tatsächlich?“, frage ich verwundert.
„Ja, du saßt irgendwo in der letzten Reihe. Ich wollte noch nach dem Konzert zu dir gehen, aber du warst schon so schnell wieder weg“, erklärt sie mit einem zerknirschten Lächeln.
Ich beiße mir auf die Unterlippe, erwidere nichts.
Nia beugt sich ein wenig vor, tastet mit ihren Augen mein Gesicht ab, und runzelt argwöhnisch die Stirn. „In der Kirche hattest du aber noch nicht diesen Bluterguss, oder? Was ist passiert?“
Nervös presse ich die Lippen zusammen.
Das Hinterfragen der Brünette gefällt mir nicht. Sie scheint auf alles eine Antwort finden zu wollen und - zugegeben - sie scheint sich ebenfalls ernsthafte Sorgen zu machen. Das kenne ich nicht.
„Ich… bin hingefallen“, lüge ich und weiche ihrem forschen Blick aus.
Sie hebt spöttisch eine Augenbraue. „Hingefallen, ja?“
Gestern war es wesentlich einfacher gewesen, meine Eltern hinters Licht zu führen, wahrscheinlich weil sie es einfach glauben wollten und nicht weiter nachhakten. Bei Nia bekomme ich prompt ein schlechtes Gewissen.
Zugegeben, es ist eine schlechte Ausrede.
„Leona, ich sehe doch ganz genau, dass dieses Veilchen nicht einfach entstanden ist, weil du-“, sie schnaubt verächtlich, „-hingefallen bist“
„Ist aber so“, nuschele ich und interessiere mich urplötzlich für den roten Stoffbezug des Sitzes, streiche mit meinen Fingern darüber und meide es, dem Mädchen in die Augen zu schauen. Ich schlucke hart.
„Sieht aber nicht so aus“, entgegnet Nia skeptisch. „Du kannst mir die Wahrheit sagen, Leona. War es… war es vielleicht dein Vater, oder so? Es soll ja oft solche Vorfälle geben und–“
„Verdammt, das ist Unsinn!“, unterbreche ich sie barsch und stehe ruckartig auf. „Es kann dir doch einfach egal sein!“
„Es ist mir aber nicht egal“, widerspricht sie und zieht die Augenbrauen zusammen.
„Wieso?“ Ich kann nicht verhindern, dass meine Stimme eine Oktave höher rutscht und dabei meine Verzweiflung zum Ausdruck kommt. „Warum bist du so… so besorgt und fürsorglich? Das ist doch… - ich meine, ich bin es nicht wert“
„Das glaubst vielleicht du“, erwidert Nia. „Aber ich sehe das anders.“
Zweifelnd schaue ich sie an.
Für mich ist das einfach nicht verständlich, warum jemand sich um mich kümmern, mit mir abhängen, mich vielleicht sogar mögen sollte.
Diese Entschlossenheit von Nia verwirrt mich. Scheinbar will sie uns, der Freundschaft, tatsächlich eine Chance geben. Damit habe ich nicht gerechnet. Ich hätte gedacht, dass sie es sich noch anders überlegen, einen Rückzieher machen würde. Aber anscheinend ist das nicht der Fall.
Ich beiße mir auf die Unterlippe.
Die Erleichterung, die ich bei dieser Erkenntnis verspüre, ist beängstigend schön.

Nia stößt die Luft aus und wirft mir einen teils zornigen, teils traurigen Blick zu, der mich irgendwie irgendwo im Herzen trifft. „Warum willst du nicht verstehen, dass ich das wirklich ernst meine, Leona? Ist dir eine Freundschaft so zuwider? Findest du das so schlimm?“
„Es ist… ungewohnt“
„Das ist kein Grund“, entgegnet sie. „Ich habe das Gefühl, dass du das gar nicht willst. Dass ich dich dazu zwinge“
Sie verzieht das Gesicht.
„Für mich ist das auch nicht einfach. Diese ganze Situation… ich habe auch meine Probleme, weißt du? Und manchmal da wünsche ich mir einfach jemanden, mit dem ich darüber reden kann. Jemand, der mich versteht“
Ihr Adamsapfel zuckt.
„Aber wahrscheinlich bleibt dieser Wunsch für immer unerfüllt“, flüstert sie.
Ihre Lippen bilden sich zu einer bleistiftdünnen Linie, mit ihren Händen umfasst sie die Träger ihrer Tasche.
Ein Stich durchfährt mein Herz, den ich zuvor noch nie gespürt habe. Und den ich nun, wo ich ihn zum ersten Mal begegne, schnell wieder loswerden will. Gewissensbisse nennt man so etwas wohl.
Ich will nicht, dass Nia wegen mir traurig ist. Ich mag es nicht, der Verursacher zu sein. Vor allem nicht bei Menschen, die mir… wichtig sind?
„Nia“, sage ich vorsichtig.
Sie schaut auf.
Ihre Augen sind verdächtig glasig, aber noch hält sie die Tränen zurück.
Tief hole ich Luft.
„Ich…“, mein Herz pumpt aufgeregt gegen die Brust, „…ich wäre gerne diese Person“
„Wirklich?“, hakt sie verwundert nach.
„Ja. Ich weiß, dass ich ein wenig eigen bin“ - Ein wenig sehr eigen - „und du musst mir Zeit geben, aber… eigentlich suche ich auch jemanden, der mich akzeptiert, mich versteht, mir hilft.“
Ja, das wäre schön, gestehe ich mir seufzend ein.
Es ist eine sehr gewagte Entscheidung, aber sie tut auf eine seltsame Art und Weise unheimlich gut. Diese Freude, die in mir aufwallt, ist ungewohnt und grotesk, aber… sie ist schön. Wunderbar.
Ich kann einfach nicht gegen sie ankämpfen. Wenn einem das Glück vor den Augen wie ein Fähnchen geschwenkt wird, warum soll man dann nicht zugreifen? Warum soll man dem keine Chance geben?
Ich glaube, dass ich mich bisher einfach zu sehr selbst in eine Schublade gesteckt, mir selbst Grenzen gesetzt habe. Das ist nun vorbei.

Ein ehrliches Lächeln umspielt meine Lippen, Nia strahlt mich an.
Im nächsten Moment finde ich mich in einer Umarmung wieder, die mich mehr als überrumpelt. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal in die Arme genommen wurde, zu lange ist das schon her.
Wohlig seufzend erwidere ich die Umarmung, genieße sie.
Das ist also Freundschaft.







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