Die Kunst zu lieben - Teil 17

Autor: I.AMsterdam
veröffentlicht am: 10.07.2013


– Tag 17 –

Die Sonne blendet mich für einen Augenblick, als ich die Schule verlasse.
Pünktlich zu Beginn der Herbstferien hat das Wetter beschlossen, ausnahmsweise einmal die Sonne scheinen zu lassen. Wo es gestern noch regnete und sich viele Zuhause versteckt haben, laufen einige sogar heute in T-Shirts rum und genießen die letzten warmen Sonnenstrahlen des Jahres.
„Schade, dass ich bei so einem Wetter im Auto sitzen muss“, bedauert Nia, die neben mir schlendert, und wirft einen sehnsüchtigen Blick Richtung strahlendblauen, wolkenfreien Himmel. „Fünf Stunden Autofahrt. Das ist doch zum Kotzen!“
Ich schmunzele und tätschele meiner Freundin mitfühlend den Arm.
Sie fährt heute mit ihrer Mutter und Céline für eine Woche nach Nürnberg, zu ihren Großeltern, was ihr ganz und gar nicht gefällt. Vor allem, weil sie gerne an meinem Geburtstag bei mir gewesen wäre.
Nia lässt resigniert die Schultern sinken. „Und dazu wird es heute mit Sicherheit auch noch jede Menge Staus geben. Das heißt, noch länger im Auto sitzen“
„Ich wäre froh, mal aus der Stadt rauszukommen“, entgegne ich nachdenklich und frage mich, was ich die zwei Wochen wohl über machen werde. Ich weiß noch nicht so genau, was ich von der Auszeit vom schulischen Stress halten soll, bedeuten die Herbstferien doch, dass ich bald 17 werde.
Nur noch vier Tage.
„Da fällt mir ein“, beginnt Nia auf einmal und ihre Mundwinkel heben sich zu einem schelmischen Lächeln, welches mich skeptisch werden lässt. „Damit unser lebenswichtiges Projekt auch planmäßig weiter stattfinden kann, habe ich Milan gefragt, ob er nicht heute mit dir ein wenig… Zeit verbringen will“
Abrupt bleibe ich stehen und schaue meine Freundin mit großen Augen an. „Du hast was?“
Nia grinst triumphierend. „Er hat zugesagt. Das heißt, du darfst deinen ersten Ferientag mit ihm verbringen. Ist doch toll, oder?“
Mit offenem Mund starre ich meine beste Freundin an und bin hin und her gerissen zwischen einer festen Umarmung und der Alternative ihr den Hals umzudrehen. Ein heißer und kalter Schauer jagen mir gleichzeitig den Rücken hinab.
„Das ist nicht dein Ernst“
„Mein voller Ernst“, erwidert sie.
Fassungslos schüttele ich den Kopf, ehe ich mich wieder besinne. „Das wird nicht funktionieren. Meine Mutter hat mein Hausarrest verlängert – lebenslänglich, wie ich befürchte“
Nia schnalzt verärgert mit der Zunge. Sie weiß von meinem Streit mit Mama gestern und ist der vollen Überzeugung, dass ich alles richtig gemacht habe.
Nur ich fühle mich deswegen noch immer hundsmiserabel, denn ich habe das mulmige Gefühl, dass sich dadurch nur noch alles verschlimmert hat. Meine Mutter hat mich heute Morgen mit Nichtachtung gestraft, während meine Schwester mir ständig verstohlene Blicke zugeworfen hat, die ich einfach nicht deuten konnte.
„Hey“
Überrascht schaue ich auf, als plötzlich ein fremder Schüler mir einen Flyer in die Hand drückt und mich freundlich anlächelt.
„Heute Abend um 19:00 Uhr haben wir einen Auftritt im Zero, vielleicht schaut ihr ja mal vorbei?“, trägt er seinen auswendiggelernten Satz vor, nickt uns schnell zu und wendet sich dann ohne unsere Antwort abzuwarten an den nächsten Schüler, um ihm ebenfalls ein Flugblatt zu geben.
Verwirrt schaue ich Nia an, die mir ein schmales Lächeln zuwirft. „Das ist unsere Schulband. Sie ist wirklich gut, du solltest sie dir mal anhören“ Ihr Blick wird eine Nuance düster. „Noch ein Grund, warum ich liebend gerne hier bleiben würde“
Traurig lächelnd stecke ich den Flyer in die Tasche meiner Strickjacke und schaue Nia mitfühlend an. „Ich werde sowieso nicht hingehen, meine Mutter wird es mir nicht erlauben“
Die Brünette seufzt deprimiert. „Das werden ja wirklich wunderbare Ferien…“
„Es gibt schlimmeres“
Sie lächelt schwach und umarmt mich kurz zum Abschied. „Telefonieren darf man während des Hausarrests aber noch, oder?“
„Ich denke schon“, antworte ich schulterzuckend.
„Dann wirst du schon bald von mir hören, damit ich dir erzählen kann, wie super spannend es bei meinen Großeltern ist“, meint Nia und grinst spöttisch.
„Freue mich schon drauf“, erwidere ich lachend.
Wir verabschieden uns noch, bevor wir beide verschiedene Richtungen einschlagen. Es ist wirklich ein ziemlich ungewöhnlich warmer Tag für Ende Oktober, den ich unter anderen Umständen wohl draußen verbracht hätte, vielleicht auf meiner Bank im Wald.
Aber der Hausarrest erlaubt es mir nicht.
Resigniert seufzend gehe ich auf das Auto zu, welches ganz vorne in den Reihen der Parkplätze steht, so dass der Insasse alles im Überblick hat. Vielleicht ein wenig zu laut lasse ich die Tür zuknallen, sobald ich mich auf den Beifahrersitz niedergelassen habe.
Wortlos startet meine Schwester den Motor.
Die Stille zwischen uns ist drückend, aber ich traue mich nicht das Radio einzuschalten oder meine Stimme zu erheben – ich habe sowieso nichts mehr zu sagen.
Unsere Mutter hat Lydia damit beauftragt, mich von der Schule abzuholen, damit ich auch ja nicht auf den plötzlichen Gedanken komme, irgendwelche außerschulischen Aktivitäten zu planen.
Ich bemerke, wie meine Schwester ein wenig angespannt mit ihren Fingern auf dem Lenkrad trommelt, während wir vor einer roten Ampel halten. Sie hat die Lippen zusammengepresst, ihre Miene wirkt steinhart.
Verwundert hebe ich die Augenbrauen.
Normalerweise versucht Lydia immer gelassen und selbstsicher zu wirken, als könne sie kein Wässerchen trüben. Dieses Mal scheint sie ziemlich nervös zu sein, so habe ich sie das letzte Mal vor zwei Jahren gesehen, als sie an Heiligabend vor der ganzen Familie ein paar Klavierstücke spielen sollte.
Auf einmal zerreißt ihre leise Stimme die Stille zwischen uns: „Ich habe nachgedacht“
Abwartend drehe ich meinen Kopf zu ihr und hebe erwartungsvoll die Augenbrauen.
„Das, was du gestern gesagt hast… das war wirklich mutig von dir“, fährt sie schließlich fort und beleckt sich fahrig die Lippen. „Ich meine, du hast Recht. Du hast vollkommen recht mit alldem. Unsere Mutter ist ein teuflischer Dirigent und wir haben zu folgen. Aber du…“
Ihre Lippen bilden sich zu einer schmalen Linie und hastig drückt sie auf das Gaspedal, als die Ampel auf Grün springt. Ich bin völlig perplex. Hat meine Schwester gerade ernsthaft zugegeben, dass sie unsere Mutter nicht mag – und mir zustimmt?
„Du glaubst gar nicht, wie neidisch ich auf dich bin“, lässt Lydia die nächste Bombe platzen und wirft mir einen kurzen, spitzen Blick zu, ehe sie tief seufzt. Völlig verwirrt schaue ich sie an und versuche in ihrem Gesicht irgendein Anzeichen dafür zu finden, dass ich mich verhört habe. „Du bist einfach du selbst, ein – wie hast du es gleich noch mal genannt? – ein Individuum. Und ich bin nur eine Kopie von Mama, das Ebenbild von ihr, ein Abklatsch, nichts Besonderes, völlig charakterlos.“
Stopp. Timeout!
Ich verstehe überhaupt nichts mehr.
Warum ist meine Schwester auf einmal so… anders? Wieso sagt sie mir das alles? Und was mich auch noch stutzig macht: Ich dachte immer, Lydia wäre höchst zufrieden in ihrer Rolle als stolze Tochter, dem Vorzeigekind. Aber, dass ich mich so habe täuschen lassen von ihrer Fassade… Ist sie tatsächlich so unglücklich?
„Durch deinen kleinen Vortrag gestern hast du mir irgendwie die Augen geöffnet, Leona. Und ich denke, wir sollten dem Ganzen ein Ende setzen“
„Was… wie…“, stammele ich immer noch völlig überrumpelt aufgrund ihres plötzlichen Wandels und schaue sie prüfend an. „Was hast du vor?“
„Ich werde mit Mama reden. Sie muss sich anhören, was ich zu sagen habe, auch wenn es ihr nicht passen wird“, erklärt sie ernst und trommelt wieder mit den Fingern auf dem Lenkrad rum.
„Mama wird dir nicht zuhören“, werfe ich ein.
„Sie muss
„Lydia, ich… meinst du nicht, dass du ein wenig unüberlegt reagierst?“, stelle ich ihr Handeln zögernd in Frage.
„Wenn nicht jetzt der richtige Zeitpunkt ist, wann dann?“, entgegnet sie. „Du bist meine kleine Schwester und ich habe dich immer sehr respektlos und unfreundlich behandelt. Ich habe nie gewusst, dass du dich ungeliebt fühlst und unsere Familie so abscheulich findest, aber dann habe ich festgestellt, dass ich genauso fühle wie du“
Der letzte Satz überrascht mich, sorgt aber gleichzeitig dafür, dass ein Schwall von Zorn in mir aufkeimt. Verärgert ziehe ich die Augenbrauen zusammen. „Warum fühlst du dich denn bitteschön ungeliebt, du bist das Goldstück unserer Mutter! Sie liebt dich mehr als mich, sie vergöttert dich“
„Und hat mich damit einem enormen Druck ausgesetzt“, entgegnet Lydia ein wenig zu scharf. „Stell dir vor, du wirst dein ganzes Leben dazu erzogen, genauso zu sein wie jemand anderes, genauso erfolgreich, ehrgeizig, diszipliniert, hinterlistig. Denkst du, es ist toll, das Leben eines anderen zu führen, nur um den kranken Vorstellungen einer Person gerecht zu werden?“
Lydia fährt mit dem Auto rechts ran und bleibt stehen. Sie dreht sich in ihrem Sitz zu mir um, die Augen fest auf mich gerichtet. Ihr Atem geht heftig. „Ich glaube, unsere Mutter hat einen gehörigen Sprung in der Schüssel. Ich möchte mein eigenes Leben führen, auf eigenen Beinen stehen ohne unter dem Druck von Mama zu stehen. Ich möchte bedingungslos lieben, mich frei bewegen und feste Freundschaften schließen können. Ich möchte mein Leben leben!“
Überrascht schaue ich sie an.
So habe ich das Ganze noch nie gesehen. Wie sich Lydia fühlt, ob ihr die Rolle wirklich gefällt, das habe ich mich nie gefragt, einfach hingenommen – wie so vieles.
Beschämt wende ich den Blick von ihr ab und schaue auf meine Hände. Die plötzlichen Gewissensbisse, die mich überrollen, kommen unerwartet.
Ich habe das Gefühl, neben einer komplett anderen Person zu sitzen, einer jungen Frau mit Träumen, Wünschen, Visionen, die ihr immer verwehrt blieben und die endlich aus dem Käfig ausbrechen will.
Lydia schließt kurz die Augen und atmet tief durch, scheint sich wieder zu sammeln. Sie lehnt sich in den Sitz zurück und schaut aus dem Fenster. „Ich möchte mich für all mein Fehlverhalten bei dir revanchieren, Leona. Ich war nie nett zu dir, das weiß ich. Aber ich habe geglaubt, dass mich diese Rolle irgendwie und irgendwann vielleicht doch noch glücklich machen wird, ich vielleicht doch genauso bin. Aber es war nur ein dummer Glaube, den ich mir selbst in meiner Hilflosigkeit eingetrichtert habe. Es tut mir leid. Bitte lass mich das wieder gut machen.“
Ich schlucke hart. „Wie willst du das anstellen?“
„Dein kleiner Auftritt gestern war die Vorspeise, heute bekommt Mama von mir den Rest des Drei-Gänge-Menüs hineingedrückt“, meint Lydia und schaut mich an.
Ich will irgendetwas sagen, ihr weismachen, dass das nicht klappen wird, aber ich halte den Mund.
Auf einmal werden ihre Gesichtszüge ein wenig weicher und sie deutet auf die Tür. „Steig aus, ich werde das allein mit ihr klären“
„Aber–“
„Um den Hausarrest mach dir mal keine Sorgen. Heute ist der erste Ferientag und ich will, dass du ihn genießt!“, sie greift über mich hinweg zur Tür und öffnet sie. „Na los, ich will, dass du dich amüsierst und so spät nach Hause kommst wie nur möglich!“
Sie lächelt mich an und dieses ehrliche Lächeln ist für mich in diesem Augenblick wertvoller als alles andere.
„Danke“, hauche ich und erwidere ihr Lächeln, ehe ich meine Schultasche packe und aus dem Auto steige. Keine Sekunde später düst Lydia davon und mit einem verlorenen Blick schaue ich ihr hinterher. Viel Glück!


Ich weiß nicht, wie lange ich auf dem Bürgersteig stehe – planlos, orientierungslos und mit den Gedanken weit entfernt –, als eine Fahrradklingel mich plötzlich erschrocken zusammenfahren lässt.
Mit dem nächsten Wimpernschlag steht auf einmal Milan neben mir, in einer Hand seinen Drahtesel haltend, während er mich wachsam mustert. „Alles okay?“
„Oh, ähm… ich… äh“, stottere ich total überrumpelt. Augenblicklich schießt mein Herzschlag in die Höhe, ich spüre erneut das Kribbeln in meinem Magen und meine Knie werden ganz weich.
Milan hebt die Augenbrauen. „Bist du gerade auf dem Heimweg?“
„Nein, ich…“, verwirrt kratze ich mich an meinem Hinterkopf. Schließlich seufze ich ergeben und lasse die Schultern hängen. „Das ist eine lange Geschichte, für die du mit Sicherheit keine Zeit hast“
Fragend legt er den Kopf schief und schenkt mir dabei ein kleines Lächeln. „Nia hat mich gebeten mit dir den Tag zu verbringen, warum auch immer, demnach habe ich also ganz viel Zeit. Ich wüsste da einen Ort, wo wir hinkönnten, passt sogar ganz gut zum Wetter“
Aufgeregt presse ich die Lippen aufeinander. „Und wohin?“
„Komm, ich zeig’s dir“, meint er und klopft auf seinen Gepäckträger, während er sich selbst wieder auf den Sattel positioniert. Vorsichtig komme ich seiner Anweisung nach und lasse mich auf dem Träger nieder. „Pass auf, dass deine Füße nicht in die Speichen kommen. Ist mir schon einmal passiert, mein Fuß war danach verstaucht“
Ich schlucke hart und versuche mich so gut es geht festzuhalten. Ohne Vorwarnung tritt Milan in die Pedalen, so dass mein Herz einen aufgeregten Satz macht.
Unwillkürlich stelle ich mir vor, wie wir vielleicht in ein paar Jahren auf einem Motorrad sitzen, ich mich dann aber an ihn festklammere, während das Adrenalin durch unsere Venen pulsiert…
Ich schüttele den Kopf und versuche mich krampfhaft wieder auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren.
Verdammte Hormone!
Verdammter Milan!
Verdammt!

••

Milan fährt aus der Stadt hinaus, wo es nur noch weit und breit Wiesen und Felder gibt, die sich bis zum Horizont erstrecken. Es ist ein toller Anblick, der einem das Gefühl vermittelt, der Freiheit einem Stück näher zu sein.
Die Sonne strahlt uns entgegen, der Fahrtwind streichelt unsere Gesichter und ich werde dieses dämliche Grinsen einfach nicht mehr los, als hätte es sich in meinen Mundwinkeln festgetackert.
Wir fahren eine Landstraße entlang, die uns durch einen kleinen Wald führt, welcher mit jedem Meter immer mehr zu wachsen scheint. Die Baumkronen verwehren nun zum Teil den Weg der Sonnenstrahlen und augenblicklich wird mir kälter.
Aber Milan scheint einen festen Plan im Kopf zu haben, denn als er plötzlich links auf einen unscheinbaren Trampelpfad abbiegt, der uns tiefer in den Wald hineinführt, hebe ich erstaunt die Augenbrauen.
Wo will er denn hin?
Ich werde ein wenig nervös und lausche angespannt den Geräuschen des Waldes, während mir kurzzeitig der Gedanke durch den Kopf schießt, dass es ziemlich leichtsinnig von mir war, einfach mit Milan mitzugehen.
Aber was habe ich zu befürchten? Er würde mir niemals etwas antun, davon bin ich fest überzeugt.
Auf einmal lichtet sich der Wald vor uns, der Weg ist zu Ende und das, was ich nun zu sehen bekomme, lässt meinen Atem stocken. Vor uns erstreckt sich eine große Wiese, das Gras knöchelhoch und mit einigen Laubblättern bedeckt. Doch das Beste: Der See, spiegelklar und herrlich einladend.
Ich habe den Eindruck, als würde die Sonne wie ein Scheinwerfer auf diese wunderschöne Lichtung scheinen und uns diesen verborgenen Schatz des Waldes präsentieren.
Ich steige vom Fahrrad und schaue mich ergriffen um. Nirgendwo eine einzige Person, Milan und ich haben diesen Ort ganz allein für uns.
„Wow“, stoße ich anerkennend aus.
„Toll, nicht wahr?“, meint Milan schmunzelnd und legt sein Rad in das Gras.
„›Toll‹ ist gar kein Ausdruck dafür. Das ist wunderbar, atemberaubend, einfach… wow!“, entgegne ich staunend und bekomme den Mund gar nicht mehr zu.
„Ich dachte mir, dass ich dir den schönsten Ort zeige, den ich kenne – nun, das ist er“, erklärt Milan und nimmt mich kurz am Ellenbogen, um mich zum alten Steg zu führen, der schon ziemlich in die Jahre gekommen zu sein scheint.
„Ich habe immer geglaubt, solche Plätze gäbe es nur in Büchern oder Filmen“, gestehe ich begeistert.
Wir setzen uns an den Steg und ich ziehe mir die Schuhe aus und krempele die Hose hoch, damit ich die Füße in das klare, angenehm kühle Wasser tauchen kann. Entzückt seufze ich auf und schließe für einen Moment genießerisch die Augen. Das ist einfach herrlich, am liebsten würde ich diesen Augenblick auf ewig anhalten.
Als Naturfreak ist diese Wiese wie ein kleines Paradies für mich. Ich höre keinen von Menschen verursachten Lärm, sondern nur das fröhliche Zwitschern der Vögel, das Rauschen des Windes und das leise Plätschern des Wassers, wenn ich meine Füße bewege – oh, das klingt alles so schön kitschig!
Ein leises Räuspern lässt mich schließlich verwirrt die Augen öffnen.
„Also, willst du mir noch sagen, warum du auf dem Bürgersteig standst, wie bestellt und nicht abgeholt?“, hakt Milan nach und schaut mich abwartend an.
Ich verziehe das Gesicht, ist der schöne Moment doch nun dahin. Aber ich gebe mir einen Ruck. „Na gut…“
Schließlich beginne ich ihm von meinem Streit mit meiner Mutter zu erzählen, beichte ihm von meiner verkorksten Familiensituation und berichte von dem plötzlichen Sinneswandel meiner Schwester.
Erstaunt stelle ich fest, dass es ziemlich einfach ist, ihm all dies zu erzählen. So unkompliziert und angenehm. Milan ist ein aufrichtiger Zuhörer. Ab und an wirft er mir einen stirnrunzelnden Blick zu, nur um dann wieder nachdenklich in das Wasser zu starren.
„Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. So kenne ich Lydia nicht“, beende ich dann meinen Monolog und streiche mir seufzend eine Strähne hinter das Ohr.
„Auf mich wirkt das, als hätte sich bei deiner Schwester endlich ein Schalter umgelegt. Durch deine Worte hat sie irgendwie einen Weg aus dem Nebel gefunden, ich glaube, das ist ein gutes Zeichen“, bemerkt Milan und schaut mich an.
Hilflos zucke ich mit den Schultern. „Aber wie will sie das denn unserer Mutter erklären? Das wird nicht klappen, ganz bestimmt nicht“
„Mit deinem Pessimismus bist du ja wirklich großzügig“, erwidert er spöttisch und zückt eine Augenbraue.
„Ich versuche die Dinge nur realistisch zu sehen, das hat nichts mit Schwarzseherei zu tun“, kontere ich und verschränkte trotzig meine Arme vor der Brust.
Milan grinst und stößt mich leicht mit seinem Ellenbogen in die Seite, woraufhin er einen schwachen Schlag gegen die Schulter kassiert. Daraufhin schubst er mich ein wenig heftiger, was ich nicht auf mich sitzen lasse und ihn ebenfalls beinahe ins Wasser befördere.
„Hey, das war ganz schön knapp“, meint er nervös lachend und fährt sich mit einer Hand fahrig durch das Gesicht. Verwundert schaue ich ihn an und frage mich, wieso er auf einmal so zerstreut reagiert, bevor es mir schlagartig wieder einfällt: Milan hat eine Wasserphobie.
Siedend heißt läuft es mir den Rücken hinab. „Oh, ich… das habe ich ganz vergessen. Tut mir leid, ich wollte dir keine Angst machen“
„Schon okay, es…“, er stockt und schaut mich fragend an. „Kannst du schwimmen?“
„Klar“, erwidere ich schulterzuckend und hebe die Augenbrauen. „Waru–“
Doch Milan lässt mich meine Frage gar nicht erst aussprechen. Im nächsten Moment spüre ich auf einmal seine Hände an meinem Rücken, die mich ruckartig nach vorne stoßen. Überrascht schnappe ich nach Luft und rudere nach Gleichgewicht suchend mit den Armen.
Doch es ist bereits zu spät.
Ehe ich es überhaupt realisieren kann, werde ich vom kühlen Nass empfangen und vom See verschluckt. Prustend tauche ich wieder auf und schaue Milan vorwurfsvoll an. Im Stillen frage ich mich, ob er durch diese Aktion vielleicht von sich und seiner kleinen Phobie ablenken wollte.
„Wofür wir das denn?“, frage ich ihn aufbrausend und stelle irritiert fest, dass er anfängt zu… lachen?
Er lacht, als hätte jemand den Witz des Jahres gerissen, als würde er sich über irgendein Missgeschick köstlich amüsieren. Noch nie habe ich ihn so ausgelassen lachen gesehen, vielleicht hier und da mal ein kleines Lächeln oder Grinsen, aber wirklich laut lachen?
„Das ist überhaupt nicht witzig!“, versuche ich mich wütend zu beschweren, aber unwillkürlich heben sich meine Mundwinkel nach oben.
Milan gluckst vergnügt. „Tut mir leid, aber das war einfach zu komisch. Du hättest dich sehen sollen! Wie ein Fisch hast du nach Luft geschnappt und dabei gleichzeitig mit den Armen gerudert, als würdest du irgendeinen Vogel imitier– hey!“
Empört fährt er mit einer Hand durch sein nasses Gesicht, weil ich ihm mit einem Schwall Wasser nass gespritzt habe. Ich grinse und klettere schließlich wieder auf den Steg. Meine Kleidung ist komplett durchweicht, die Haare kleben mir strähnig im Gesicht und das feuchtkalte Gefühl ist alles andere als schön – dennoch ging es mir noch nie besser.


Milan und ich haben uns auf die Wiese gelegt, damit ich mich in der Sonne trocknen kann. Eine halbe Ewigkeit lassen wir uns nun schon schweigend von den warmen Strahlen bräunen, zupfen Grashalme aus dem Boden und hängen unseren Gedanken nach.
Im Moment fühle ich mich einfach unbeschwert und frei, würde am liebsten den Rest meines Lebens einfach hier neben Milan liegen und mich von der Sonne wärmen lassen. Gibt es ein schöneres Gefühl?
„Bist du eigentlich oft hier?“, frage ich ihn und drehe meinen Kopf zur Seite, damit ich den Schwarzkopf anschauen kann. Er schaut in den Himmel, die Arme hinter dem Kopf verschränkt und scheint in einer völlig anderen Welt zu sein.
„Manchmal“, meint er und zuckt – soweit es eben in seiner Haltung geht – mit den Schultern. Fasziniert beobachte ich, wie sein Brustkorb sich mit jedem Atemzug hebt und wieder senkt. „Aber in letzter Zeit nicht mehr sooft“
Er wendet sein Gesicht mir zu und unsere Blicke kreuzen sich. In seinen grauen Augen kann ich beim genaueren Hinsehen mich selbst erkennen, wie ich ihn mit einem leichten Lächeln anschaue.
Das Kribbeln in meinem Magen macht sich wieder bemerkbar, während sich meine Armhärchen aufstellen. Milans Blick gleitet über mein Gesicht, über Hals, Brust und Bauch, ehe er mir wieder in die Augen schaut. Mein Atem geht ein wenig schneller. Dass er mich so ungeniert mustert, hätte mir wahrscheinlich unter anderen Umständen die Schamesröte ins Gesicht getrieben. Doch in diesem Moment empfinde ich es nicht als peinlich.
„Ist dir kalt?“, fragt er mich und deutet auf meine Gänsehaut.
Überrascht blinzele ich ihn an. „Nein, ich…“
„Sonst zieh dir doch deine Strickjacke wieder an, sie ist bestimmt trocken“, meint er und greift neben mich, um besagte Strickjacke aufzuheben, die ich mir vorhin ausgezogen habe.
„Das ist nicht nötig, ich–“, wende ich ein, während ich mich aufsetze, verstumme aber, als plötzlich ein Blatt aus der Seitentasche segelt. „Oh“
Stirnrunzelnd nimmt Milan den Flyer in die Hand, welcher aus meiner Strickjacke gefallen ist, ehe er verwundert feststellt: „Das ist unsere Schulband“
„Ja, einer von ihnen hat mir den Flyer gegeben“, erkläre ich. „Sie haben heute Abend einen Auftritt“
Milan dreht den Flyer um und liest sich die Informationen durch. „Ich habe mir die Band schon einmal angehört, sie machen gute Musik, schreiben eigene Songs und covern auch Lieder“
„Nia hat auch gesagt, dass sie gut sein sollen“, erinnere ich mich laut und hebe die Schultern.
Milan schaut auf und wirft mir einen langen, nachdenklichen Blick zu.
Ein wenig unbehaglich rutschte ich hin und her. „Was ist?“
„Wir könnten heute dorthin gehen“, schlägt er vor.
„Du willst dahin?“, frage ich erstaunt.
„Warum nicht?“
Ich presse die Lippen aufeinander. „Naja, da werden mit Sicherheit viele Mitschüler sein und wie du selber weißt, sind wir beide nicht unbedingt die beliebtesten…“
Milan verdreht die Augen. „An diesem Abend geht es doch nicht um uns, sondern um die Band, da ist es den anderen scheißegal, wer dort ist und wer nicht“ Er wirft einen Blick auf seine Uhr. „Wir haben noch zwei Stunden Zeit, bis dahin kannst du es dir ja noch überlegen“
Seufzend lege ich mich wieder zurück in das Gras und schließe die Augen. „Okay“

••

Es ist brechend voll, als Milan und ich das Zero betreten. Die Kneipe mit der runden Bar in der Mitte und einer unauffälligen Bühne am Rand ist einfach zu klein für die halbe Schule.
Das Licht ist gedimmt und es riecht nach Rauch, Alkohol, Schweiß und dem typischen Geruch einer Nebelmaschine. Milan legt einen Arm um meine Schulter und zieht mich durch die Schülermasse nach vorne zur Bühne, die mit bunten Lichtern beleuchtet ist.
Ich fühle mich unwohl.
Am liebsten würde ich mit Milan wieder zurück zum See fahren, auch wenn es schon dunkel und kalt wird, hatten wir dort wenigstens Freiraum und frische Luft. Doch ich bin tapfer und bleibe mit ihm geduldig in mitten der Schülermasse stehen mit einem guten Blick auf die Bühne, wo ich vier Leute ausmachen kann. Einer sitzt am Keyboard, während ein anderer eine Bassgitarre in der Hand hält und ein weiterer nun das Mikrofon umfasst. Der Schlagzeuger ist derjenige, der mir den Flyer gegeben hat, wie ich überrascht feststelle.
„Hallo, hallo, hallo!“, ruft der vordere Junge fröhlich ins Mikrofon und grinst in die Menge, die daraufhin anfängt zu jubeln. „Schön, dass so viele gekommen sind. Wir wollen auch gar nicht lange rumfackeln, sondern gleich loslegen!“
Die Bühne wird nun von einem hellen Licht beleuchtet, während der Rest des Raumes fast dunkel bleibt. Ohne die Lichter an der Bar und über den einzelnen Tischen wäre es ziemlich düster in der Kneipe.
Die Schulband beginnt mit einem selbstgeschrieben –und komponierten Song, welcher mir – so muss ich zugeben – sehr zuspricht. Der Sänger hat eine tolle Stimme, welche super mit den Instrumenten harmoniert. Ich hätte nicht gedacht, dass es mir gefallen könnte.
Begeistert lausche ich der angenehmen Stimme, während ich im Takt mit wippe und allmählich die Anspannung von mir abfällt.
„Die sind wirklich gut!“, rufe ich Milan zu, welcher sich daraufhin in seiner Meinung bestätigt fühlt und grinst.
Meine Befürchtung, dass andere Schüler uns vielleicht schikanieren würden, war völlig unbegründet. Alle schauen gespannt zur Band, die ein Lied nach dem anderen spielen und nehmen alles andere gar nicht mehr wahr.
Genau wie ich.
Die Zeit vergeht wie im Flug.
Überrascht werde ich aus meinem tranceartigen Zustand wieder rausgeholt, als der Sänger plötzlich verkündet: „Und nun werden wir das letzte Lied für heute singen. Ich bin mir sicher, viele von euch werden es kennen“
Einzelne enttäuschte Buh-Rufe ertönen, die sich jedoch schnell in ein freudiges Jubeln verwandeln, sobald die ersten Töne des Songs gespielt werden. Auch ich kenne das Lied, im Radio ging es eine Zeit lang mal rauf und runter.
Bei einer bestimmten Textpassage schießt mir eine Erinnerung durch den Kopf.

Dass ich dich mag heißt nur, dass ich nicht weiß, wie man das anders sagt.
Ich bin nicht besonders gut in sowas, ich kann das nicht.
Ich mag dich einfach, weil du anders als die Anderen bist.


Vor ein paar Tagen, als Nia mich damit konfrontiert hat, dass sie meinen Notizblock gefunden hat, bin ich in den Wald gerannt. Milan ist mir gefolgt und zum Schluss sind wir beide auf einen gemeinsamen Nenner gekommen und haben dem anderen gestanden, dass wir ihn irgendwie… mögen.

Es ist nicht das, wonach es aussieht.
Schon aus Prinzip sing ich kein Liebeslied.
Denn dieses Lied ist nicht gut genug und die Geigen klingen schief.
Dieses Lied ist gar kein Liebeslied.


Auf einmal werde ich grob von jemanden angerempelt, so dass ich unwillkürlich gegen Milan geschubst werde. Empört schaue ich den Übeltäter an, welcher von mir jedoch keine Notiz zu nehmen scheint, ehe ich entschuldigend zu Milan aufschaue – und hart schlucken muss.
Sein Blick geht mir durch und durch, unsere Augen scheinen wie Honig aneinander zu kleben. Ich halte den Atem an.
Plötzlich rutscht die Musik sehr weit in den Hintergrund und ich habe das Gefühl, dass alles nur noch sehr langsam abläuft. Milan hebt seine Hand und streicht mit seinen Fingerkuppen federleicht meine Wange entlang, fährt mit seinem Daumen meine Gesichtszüge nach.
Mein Herz donnert in einem halsbrecherischen Tempo gegen die Brust, ich wage es kaum Luft zu holen oder zu blinzeln. Sein warmer Blick verursacht bei mir einzelne Schauer, langsam beugt Milan sich zu mir runter.
Ich kann seinen Atem spüren. Das Prickeln zwischen uns macht es mir unmöglich auch nur einen weiteren, klaren Gedanken zu fassen.
Und dann küsst er mich.
Reflexartig schließe ich die Augen, während sich seine Lippen sanft auf meine pressen. Ich glaube, mein Herz bleibt für einen Moment stehen, in meinem Kopf dreht sich alles.
Sein Mund ist unglaublich weich, vorsichtig bewegt er seine Lippen auf meinen, schenkt mir einen so unschuldigen, behutsamen Kuss.
Wow.

Du kannst mir glauben, sowas wollt ich nie.
Aber irgendwie ist das ein Liebeslied.
Dieses Lied ist zwar nicht gut genug und die Geigen klingen schief.
Doch es ist und bleibt ein Liebeslied.


Die Leute um uns herum fangen an zu jubeln, als das Lied vorbei ist.
Milan löst sich von mir und als ich verwirrt die Augen öffne, ist es in der Kneipe für ein paar Sekunden stockduster, um den Effekt hervorzuheben, dass es nun das Ende des Auftritts ist.
Als das Licht langsam wieder angeht, stelle ich irritiert fest, dass Milan nicht mehr da ist. Völlig durcheinander schaue ich mich hektisch um, finde ihn in diesem Gewusel jedoch nicht.
Wo ist er nur hin?
Energisch kämpfe ich mir einen Weg nach draußen und atme gierig die frische Luft ein, während ich mich umschaue. Aber nirgendwo ist ein Milan zu sehen.
Mein Herz krampft sich zusammen, als ich einsehen muss, dass er nicht mehr da ist. Frustriert und bitter enttäuscht versuche ich meine Tränen der gescheiterten Hoffnung krampfhaft zurückzuhalten.
Ich schaue die Straße links und rechts ab und sehe noch gerade, wie ein Fahrrad, das grelle Hinterlicht rot leuchtend wie eine Warnung, und der Radler ein einziger Schatten, welcher mit der Dunkelheit verschmilzt, um die Kurve davon fährt.
Er ist… weg.


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Tadaa! :-)
Ich will zu diesem Kapitel gar nicht viel sagen, sondern bin vielmehr auf eure Reaktionen gespannt! Ich hoffe, ihr findet es nicht schlimm, dass ich diesen Moment mit dem Lied untermalt habe.
Und noch einmal vielen lieben Dank für eure Kommentare; ich versuche nun wirklich, weniger Selbstzweifel zu haben! :-)
Liebe, liebe Grüße!






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