Die Kunst zu lieben - Teil 7

Autor: I.AMsterdam
veröffentlicht am: 25.11.2012


Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich diesen Teil wirklich so gestalten soll. Nun, schließlich habe ich mich dafür entschieden. :-)
Viel Spaß beim Lesen!

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- Tag 5 -

Heute war ein sonderbarer Tag.
Sonntag.
Viele Leute hassen den letzten Tag der Woche, grauen sich schon vor den Montag und wissen einfach nicht, was sie mit diesen 24 Stunden anfangen sollen.
Schande!
Ich - in meinem Fall - liebe den Sonntag, weil er für mich eine Art Timeout darstellt, ehe am Montag die ganzen Probleme erneut aufgerollt werden. Heute habe ich meine Ruhe, vor meinen Eltern und natürlich vor der Schule.
Für einen Tag verschwindet die Last auf meinen Schultern, für einen einzigen Tag.
Ich liebe ihn dafür.
– Aber heute hätte ich auf ihn verzichten können.
Wenn ich beim Öffnen meiner Augen heute Morgen gewusst hätte, was an diesem Tag passieren würde, dann wäre ich wohl nicht aus dem Bett gestiegen.
Niemals.
Doch es ist passiert.
Nun, eigentlich sollte es mich nicht wundern, schließlich habe ich schon früh genug bemerkt, dass ich und das Glück einfach keine Freunde sind, und auch nie welche werden.
Wahrscheinlich war ich einfach zu gutgläubig.
Oh, ich Dummerchen!

••
Mein Notizblock für den Countdown liegt in meinen Händen.
Vorsichtig streiche ich mit meinen Fingern über den festen Kartoneinband, welcher den Block wie ein gebundenes Buch ausschauen lässt. Er besitzt nicht viele Seiten, vielleicht 50, also genügend, um jeden Tag eine Skizze für meine festgelegte Zeitspanne zu zeichnen.
Ich habe noch 16 Tage zum leben, zum atmen, zum fühlen.
Das Bild einer Sanduhr taucht in meinem Kopf auf und ich sehe, wie mir die Zeit davon läuft. Ich gebe zu, dass es mich ein wenig nervös macht, doch Angst kann man es nicht nennen.
Es ist richtig so.
Ohne weiter nachzudenken, lasse ich den Stift über das Papier gleiten, welches mir strahlend weiß entgegen prangt und mich quasi dazu einlädt, irgendetwas zu zeichnen.
Also tue ich es.
Zuerst nur ein paar grobe Skizzen, die Umrisse, den Rahmen. Danach vertiefe ich das Ganze ein wenig, detailliere den Entwurf, achte auf die Kleinigkeiten, welche dem Bild das gewisse Etwas geben.
Drei Gesichter. Drei Personen.
Nia. Milan. Yoel.
Alle drei sind sie unterschiedlich und doch haben sie etwas gemeinsam: Sie sind auf einmal in mein Leben getreten, urplötzlich, und haben etwas in mir geweckt. Etwas, das lange Zeit vergraben war von negativen Dingen.
Ich habe das beklemmende Gefühl, dass das nicht gut ist. Überhaupt nicht gut. Sie könnten etwas auslösen, tief in mir drinnen, eine Lawine. Etwas, was mich in meinem Vorhaben unsicher werden lässt. Doch das darf nicht geschehen.
Niemals.
Ich befinde mich in einem Zwiespalt.
Sie haben mich alle zum Lächeln gebracht. Und das schafft so schnell keiner. Ist es nicht unfair, dass die Leute, die mich irgendwie akzeptieren, zu meinem seelischen Feind werden?
Sie werden zum Gegner meines heimlichen Vorhabens.
Dabei verbindet man einen Rivalen doch eigentlich mit nichts Positivem, oder? Warum ist das dann bei mir so?

Kopfschüttelend blättere ich die nächste Seite um.
Die Lampe auf meinem Nachttisch spendet nur wenig Licht, doch ich will nicht die große Zimmerlampe einschalten. Sonst würden meine Eltern, die noch unten im Wohnzimmer sitzen, durch den unteren Türschlitz sehen, dass noch Licht in meinem Zimmer brennt.
Und das will ich auf jeden Fall vermeiden.

Es ist schon spät Abend und die Geschehnisse des Tages spuken noch immer in meinem Kopf, lassen meine Hand zittern, die den Kugelschreiber fest umklammert. Ich will es aufschreiben. Ich muss es aufschreiben.
Vielleicht bringt es ein wenig Licht in die Dunkelheit.
Tief atme ich die Luft ein, zwinge mein wildpumpendes Herz sich zu beruhigen und meine sich überschlagenden Gedanken zu sortieren.
Ganz ruhig.
Neben meiner Erschütterung verspüre ich auch noch ein anderes Gefühl. Noch immer kräuselt sich meine Stirn zu einer ratlosen Miene, wenn ich an meinen Helfer denke.
Ich kann froh sein, dass er zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort war und mir zur Seite stand.
Vielleicht habe ich doch nicht so großes Unglück gehabt.
Ich setze die Mine des Kugelschreibers auf das Papier, zögere noch einen kurzen Moment, ehe ich beginne zu schreiben.

•°•°•

Es war schon sehr dunkel draußen, obwohl meine Uhr gerade einmal halb Sieben zeigte. Unter mir raschelte das Laub mit jedem Schritt, gab leise seufzend unter meinen Füßen nach.
Heute war ein schöner Abend. Verdammt kalt, aber schön.
Ich marschierte durch die Stadt, beobachtete, wie ein paar Leute sich ausgelassen unterhielten, und bemerkte, wie ein feiner, verführerischer Geruch von den Restaurants zu mir her wehte. Einzelne Atemwolken tauchten vor meinen Augen auf und stiegen in den dunklen, sternenklaren Himmel empor. Die Kälte waberte durch meine Kleidung, so dass ich schaudernd die Schultern hochzog, dabei ein kleines Lied auf meinen Lippen, da mich der Ohrwurm nicht mehr losließ.
Zuvor war ich in der evangelischen Kirche gewesen, habe dort einem Konzert anlässlich des 12. Oktobers zugeschaut. Der Chorleiter - so habe ich erfahren - ist ursprünglich Spanier, und da in diesem südlichen Land der heutige Tag ein Feiertag ist, weil 1492 Christoph Kolumbus Amerika entdeckt hatte, gab es ein Konzert in der Kirche.
Es war toll, wirklich.
Aber ich weiche vom Thema ab.

Ich war auf dem Weg nach Hause, wobei ich mich dieses Mal für einen kleinen Umweg entschied.
Leider.
Ich wollte mir Zeit lassen, da ich wusste, dass Zuhause meine Mutter auf mich lauern, Lydia mit ihrem Medizinstudium prahlen und Papa mit rauchendem Kopf über seinem Schreibtisch hängen würde. Und darauf konnte ich wirklich verzichten.
Die Siedlung, in der wir seit drei Monaten leben, befindet sich am Rande des Stadtinneren, in der Nähe eines großen Waldes, den ich auch gerne hin und wieder mal bekunde.
Ich verließ also allmählich das Zentrum, rückte ein wenig zu oft den Umhängegurt meiner Tasche zurecht und spürte, dass ich ein wenig nervöser wurde. Eigentlich bin ich ziemlich immun gegen Finsternis, doch in diesem Moment machte sie mir Angst. Ich weiß nicht, woran das lag. Vielleicht, weil die Stadt noch ziemlich neu und fremd für mich ist und ich mich lieber in vertrauten Gegenden aufhalte. Oder mir zu diesem Zeitpunkt mal wieder unpassende Situationen durch den Kopf gingen, die allesamt aus Thriller oder Horrorfilmen hätten stammen können.
Keine Ahnung.
Jedenfalls hörte ich Schritte. Mehrere.
Sie kamen aus derselben Richtung wie ich, also hinter mir. Mit einem Blick über die Schulter registrierte ich, dass es drei Personen waren. Männer, zwischen 17 und 20, so schätzte ich. Auf jeden Fall waren sie mir nicht ganz Geheuer.
Ich glaube, jeder kann sich vorstellen, wie sehr mein Herz in diesem Moment geklopft hat. Und wie flach mein Atem ging. Und wie aufgeregt ich war.
Vor allem, als sie nach mir riefen.
„Hey, du! Mädel!“
Ich erstarrte für einen Augenblick und blieb dummerweise stehen. In diesem Moment wurde ich meinem Zeugnisdurchschnitt aus der Klasse 10 von 1,3 zum ersten Mal nicht gerecht. Aber zu meiner Verteidigung würde ich meine Unvernunft auf meine Angst schieben. Die lähmende Angst.
Sie lachten leise, als ich sie fragend anschaute. Dabei musste ich aussehen, wie ein verschrecktes Reh, die Augen aufgerissen und das rote Haar durch den Wind zerzaust. Ich presste meine Tasche ein wenig dichter an mich, wusste ich doch, dass sich darin mein Portemonnaie und Handy befanden und ich ein ungutes Gefühl bei den Männern hatte.
Und ich sollte Recht behalten.
Sie waren inzwischen ziemlich nah, doch ich blieb immer noch stocksteif stehen, als hätte ich Wurzeln geschlagen.
Ich Dummkopf!
„Dein Vater… der leitet doch die neue Kanzlei“, sagte jemand.
Woher kannten sie mich?
In der Dunkelheit konnte ich ihre Gesichter nicht richtig erkennen. Sie waren groß, größer als ich. Und sie bewegten sich wie Raubtiere, die auf ihre Beute zugingen. Auf mich, das Opfer.
In einem Anflug von Panik schaute ich mich um, bemerkte, dass es in dieser Gegend mit den dichtbeieinander stehenden Häusern sehr still war. Ich befand mich in einem hässlichen Stadtviertel mit eintönigen, und wacklig-aussehenden Betonwohnungen, dunklen Gassen und kaputten Fenstern.
Es war aussichtslos.
„Hey, wir reden mit dir!“, herrschte mich auf einmal einer von den Männern an und machte einen Schritt auf mich zu. Sofort wich ich zurück. „Bist du die Tochter von Richard Brandt, dem neuen Anwaltsschwuchtel?“
Ich öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Sollte ich die Wahrheit sagen oder doch lieber etwas Falsches behaupten? Ich hatte das Gefühl, dass letzteres sinnvoller wäre.
„N-nein“, flunkerte ich also stotternd.
„Die lügt doch von vorne bis hinten!“, brummte der kleinste von ihnen. „Wir sollten einfach ihre Tasche durchsuchen. Wenn sie die Tochter von dem Alten ist, dann wird sie mit Sicherheit auch ein wenig von Daddys Geld mit sich tragen“
Mein Herz setzte einen Schlag aus.
Die anderen beiden schienen seine Meinung zu teilen, denn auf einmal machten sie einen Satz nach vorne und streckten ihre Arme nach mir aus.
Erschrocken stolperte ich zurück und wollte mich gerade umdrehen, um die Flucht zu ergreifen, als mich einer von ihnen plötzlich an den Haaren packte und schmerzvoll daran zog.
Ich heulte auf und legte reflexartig beide Hände an meinen Kopf, dort wo eine andere Hand meine Haare umfasste. Mit meinen Fingernägeln versuchte ich in die Haut zu bohren, ihn zu kneifen, was jedoch kläglich misslang.
Die anderen beiden umrundeten mich in der Zwischenzeit und es gelang ihnen, mir die Tasche vom Leib zu reißen. Ich trat mit meinen Beinen aus, traf den einen am Schienbein, was er mit einem Zischen quittierte, und den anderen an der Hüfte, woraufhin ich einen erstickten Laut hörte.
„Du miese, kleine Schlampe!“, zischte der, den ich am Schienbein getroffen hatte.
Er ging auf mich zu, riss mich aus dem Griff von dem Typen, der hinter mir stand, los und schubste mich hart gegen die Mauer. In diesem Moment tat ich wohl das erste, was einigermaßen Sinn machte: Ich schrie um Hilfe.
Doch der Schrei ging in einem gedämpften Stöhnen über, als mich eine Faust an der Schläfe traf, so dass mein Kopf benommen zur Seite schnellte. Der Schmerz explodierte hinter meiner Schädelwand.
„Wie viel hat sie dabei?“, bellte einer von den drei.
Der andere lachte in einer Mischung aus Spott und Begeisterung auf. „Muss wohl gerade neues Geld getankt haben. 150€ und eine EC-Karte. Das ist doch - Uuaaah!“
„Verdammt!“
Ich hörte das Schaben von Füßen über den Boden, dumpfes Stöhnen. Mein Gegenüber fluchte, zog mich am Kragen und stieß mich mit einem heftigen Ruck auf den Asphalt.
Das alles war so schnell gegangen. Schon im nächsten Moment lag ich seitlich auf dem kalten Boden, die Ellenbogen mitten in einer Pfütze. Ich hatte das Gefühl, mich mühsam durch eine Schicht von Wackelpudding durchzukämpfen, weil alles so schwer zu realisieren war.
Ich hörte, wie sich mehrere Schritte flugs entfernten und schnell davonrannten.
Die darauffolgende Stille war unheimlich; ich zitterte am ganzen Körper. Nur langsam konnte ich verarbeiten, was gerade geschehen war.
Im nächsten Moment kniete sich auf einmal jemand neben mir nieder, schob eine Hand unter meinen Rücken und setzte mich auf. Erst da bemerkte ich, dass ich weinte. Ein leises Schluchzen entfloh meinem Mund und einige Minuten lang passierte nichts.
Langsam hob ich den Kopf und schaute fragend in das Gesicht meines Helfers. Meine Augen weiteten sich für einen kurzen Moment, als ich Milan sah.
Seine grauen Irden schauten träge auf mich hinab, wirkten beinahe gelangweilt. Ich konnte ein feines Rinnsal von Blut an seinem Mund erkennen und schaute ihn entgeistert an.
Keiner sagte ein Wort.
Ich war zu geschockt, um überhaupt irgendetwas zu begreifen. Meine Gedanken waren ein einziges Durcheinander, einerseits wollte ich von Milan abrücken, als ich wieder an die Gerüchte dachte. Doch andererseits war ich ihm dankbar, dass er aufgetaucht war und die anderen vertrieben hatte.
„Sie sind davon gerannt, ohne deine Geldtasche oder etwas anderes von dir mitzunehmen“, teilte er mir schließlich mit neutraler Stimme mit.
Ich nickte.
„Bist du okay?“
Wieder war ich nur imstande zu nicken. Mir fehlten einfach die Worte.
Er schlängelte seinen anderen Arm unter meine Knie, hob mich kurz hoch und setzte mich dann vor der Mauer ab, so dass ich mich an sie lehnen konnte.
„Ich rufe einen Krankenwagen.“, erklärte er.
Sofort schrillten bei mir die Alarmglocken. „Nein! Das ist nicht nötig!“
Milan, der sein Handy schon in der Hand hatte, schaute mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Bist du dir sicher?“
„Ja!“
Er bedachte mich mit einem skeptischen Blick. „Dann rufe ich eben ein Taxi“
Dagegen hatte ich nichts einzuwenden.
Während Milan einen Fahrer für mich rief, reichte er mir meine Tasche und das Portemonnaie. Tatsächlich. Sie hatten nichts mitgenommen.
Als er auflegte, schaute er mich an.
„Das Taxi wird gleich hier sein.“, sagte er und musterte mich prüfend.
„Du blutest“, erwiderte ich völlig zusammenhangslos.
Er runzelte die Stirn. „Kommt vor“
Wieder entstand eine eisige Stille.
Sein rabenschwarzes Haar schien mit der Dunkelheit zu verschmelzen, wodurch er noch unheimlicher wirkte. Ich wusste nicht, was ich von ihm halten sollte.
Schließlich, als man die Lichter eines herannahenden Autos erkennen konnte, drehte Milan sich auf einmal ohne weitere Worte um und verschwand.
Ich war verblüfft, durcheinander, verwirrt - alles. Und ich habe vergessen, mich bei ihm zu bedanken.

•°•°•

Ich bin das Opfer eines Überfalles.
Eigentlich habe ich gedacht, dass es so etwas nur in Filmen oder Büchern gäbe. Aber anscheinend kann es auch real werden. Unglaublich.
Und Milan, ausgerechnet er, hat mich aus dieser miesen Lage gerettet, bevor schlimmeres passieren konnte.
Gerettet.
Das klingt so heldenhaft, heroisch.
Als würde es danach ein glückliches Happy End geben. Ein Klischee, welches es wohl nur in meinen Träumen gibt.
Für mich ergibt das keinen Sinn.
Warum sollte er so etwas für mich tun? Eine Person, die - laut den Gerüchten - Drogen verkauft, Jungfrauen vergewaltigt, Polizisten beleidigt und Waffen mit sich trägt.
Warum?
Es ist mir schleierhaft.
Dennoch bin ich Milan sehr dankbar. Wenn er nicht gewesen wäre, hätte die Situation ganz anders ausgehen können. Doch ich will mir nicht die Fragen stellen, was passiert wäre, wenn…? Es ändert nichts. Ich bin mit dem Schrecken und einer Verletzung davon gekommen, und das reicht.


Da ein Veilchen in meinem Gesicht nicht zu verhindern ist, habe ich mir als Ausrede ganz einfach für ein tollpatschiges Hinfallen entschieden. Obwohl meine Eltern, und allem voran Lydia, sehr skeptisch waren, haben sie mir schließlich geglaubt - oder zumindest so getan.
Wahrscheinlich, weil sie die richtige Lage so oder so nicht interessiert. Da wollen sie lieber meiner Erfindung glauben, als der Tatsache ins Auge zu schauen.
Feiglinge!
Ich weiß, dass die Wahrheit wie ein harter Diamant ist, der vieles beschädigen kann, was vorher heil war.
Und die heile Welt meiner Familie möchte ich nicht zerstören. Noch nicht.
Erst in 16 Tagen, dann ist ihre Schonzeit zu Ende.







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