Die Kunst zu lieben - Teil 11

Autor: I.AMsterdam
veröffentlicht am: 21.12.2012


Ooh, was hab ich mich schwer getan mit diesem Teil! Bis ich endlich einigermaßen zufrieden war, hat es eine Weile gedauert. :x
Ich hoffe, ihr mögt dieses Kapitel! Ach & frohe Weihnachten! :-)
LG

- Tag 11 -

„Mach dir keinen Kopf, Leona“
Tief atme ich die kalte Luft ein und versuche mühsam meine schlotternden Knie wieder unter Kontrolle zu bringen, ebenso mein wildpumpendes Herz.
Vergeblich.
Nervös beiße ich mir auf die Unterlippe, verlagere mein Gewicht im Sekundentakt von einem Bein auf das andere, kann die Aufregung einfach nicht von mir abstreifen. Es ist, als hätte ich Lampenfieber oder wäre kurz davor, eine der kuriosesten Achterbahnen zu betreten.
Im Grunde genommen könnte man es sogar genauso beschreiben. Denn die Party wird mit Sicherheit einer Achterbahnfahrt mit vielen Loopings, Spiralen, Hochs und Tiefs gleichen.
Ich presse die Lippen aufeinander und kann spüren, wie mir das Herz in die Hose rutscht. Oder besser gesagt: In den Rock, welchen ich auf Nias Drängen hin mit einem mulmigen Gefühl angezogen habe. Er ist nicht sehr kurz, nein, schließlich gehört er Nia selbst und knappe Sachen trägt sie generell nicht.
Zum Glück.
Meine neue Freundin hat - nachdem ich minutenlang ratlos vor ihrem Kleiderschrank stand - das Ruder selbst in die Hand genommen, sich ein wenig nach meinem Geschmack orientiert und schließlich mein Outfit für den heutigen Abend zusammengestellt. Das Ergebnis ist okay, finde ich.
Und nun stehe ich hier, vor der alten Post, und warte mit Nia auf meinen Begleiter, welcher versprochen hat, um 20:00 Uhr hier zu sein.

„Das wird mit Sicherheit lustig werden, glaub mir“, versucht meine Freundin meinen Optimismus anzustacheln.
Ich werfe ihr einen zweifelnden Blick zu.
Zugern würde ich mich von ihrer Zuversicht anstecken lassen, einfach ein bisschen entspannter sein. Doch es klappt nicht.
„Ich kenne dort doch niemanden“, gebe ich zu verstehen und stelle mir erneut vor, was alles Schreckliches passieren könnte.
„Dann wirst du sie eben kennenlernen!“
„Aber ich… ich bin nicht so offen und kontaktfreudig. Ich weiß jetzt schon, dass ich wie das letzte Mauerblümchen in der Ecke stehen werde und–“
„Ach, Quatsch!“, unterbricht mich die Brünette. „Bekomm jetzt bloß keine kalten Füße, Leona. Das ist die Chance, mal etwas Aufregendes zu tun!“
Ich seufze.
Wahrscheinlich hat Nia Recht. Es ist eine gute Gelegenheit ein wenig Abstand von der Realität zu erlangen, kurz die Welt zu vergessen. Yoel weiß über mich und meinen Familienumstand Bescheid, er kennt meine Lage.
Dennoch bin ich mir unsicher.
War es zu leichtsinnig von mir einfach zuzustimmen? Oder war es richtig, weil ich endlich mal eine gewagte Entscheidung gemacht habe? Und somit einen Schritt mehr zur Selbstverwirklichung antrete?
Ich schüttele den Kopf.
Zu viele Fragen, zu wenig Antworten.
Vielleicht sollte ich meine verkrampfte Haltung einfach ablegen, rücksichtslos und spontan sein, alles auf mich zukommen lassen, überrascht werden und mir keine schlechten Gedanken mehr machen.
Ja, das klingt nach einem guten Plan. Zumindest in der Theorie.
„Du hast meine Handynummer. Wenn etwas ist, dann ruf mich an“, fährt Nia lächelnd fort. Doch ich kann sehen, dass ihre scheinbare Unbeschwertheit nicht mehr so präsent ist, wie sie es sich vielleicht erhofft. Nia wirkt nun doch ein wenig besorgter, zumindest kann ich in ihren Augen einen Hauch Befangenheit erkennen „Und selbst, wenn es mitten in der Nacht sein sollte - zögere nicht, Leona! Hörst du?“
Ich nicke stumm.
„Orientiere dich am besten an diesen Jungen, äh… wie heißt er doch gleich?“
„Yoel“, helfe ich ihr auf die Sprünge.
„Ah, genau. Hefte dich einfach an ihm, dann kann nichts schief gehen. Und wenn es zu langweilig werden sollte, dann ruf dir ein Taxi“
„Ja, Mama“
Nia lächelt schief. „Jetzt bin ich wohl diejenige, die Panik schiebt, was?“
Meine Lippen kräuseln sich zu einem kleinen, belustigten Lächeln. „Scheint so“
Nia streicht sich verlegen eine braune Strähne hinter das Ohr und will gerade zu einer Antwort ansetzen, als uns die Scheinwerfer eines herannahenden Autos blenden.
Ergriffen und verwirrt kneife ich die Augen zusammen und hebe überrascht die Brauen hoch, als der Wagen neben uns hält.
Erst dann realisiere ich – es ist soweit.
Sofort schießt mein Herzschlag in die Höhe, scheint mir aus der Brust springen zu wollen. Mein Lächeln gefriert.
Die Beifahrertür geht auf und ich kann Yoel erkennen, wie er mit einem freudigen Grinsen auf mich zukommt.
„Hey, Leona! Gut siehst du aus!“, lobt er mich und mein Outfit bestehend aus Jeansrock, blickdichter Strumpfhose und einem - zugegeben - eher langweiligen, dunkelgrünen Sweatshirt mit halblangen Ärmeln.
Aber ich möchte auch nicht auffallen. Schlicht und einfach ist mein Ensemble und es beißt sich nicht mit meinen roten Haaren, worauf ich immer sehr penibel achte.
Es gefällt mir, diese Einfachheit.
Kein Glitzer, nicht zu viel Haut. Andere, gewisse Leute würden mich wohl als Nonne bezeichnen. Doch in dieser Kleidung fühle ich mich wohl und normal - auch wenn sie nicht mir gehört.
Unsicher lächelnd bedanke ich mich für sein Kompliment.
„Wie geht’s dir so?“, fragt er.
„Ganz okay“, erwidere ich nervös. „Und dir?“
„Naja, selbe Scheiße, anderer Tag“, antwortet er grinsend.
Unwillkürlich muss ich bei seinen Worten ebenfalls lächeln.
„Was hast du deinen Eltern gesagt, wo du heute bist?“
Ich tausche einen kurzen Blick mit Nia aus. „Dass ich bei einer Freundin übernachten werde. Meine Mutter war nicht wirklich begeistert, aber schließlich konnte ich ihr glaubhaft versichern, dass Nia und ich noch für die Schule Sternenbilder abzeichnen müssen. Und es dann am besten wäre, ich würde gleich dort übernachten“
Yoel hebt die Augenbrauen und gesteht: „Auf so eine Lüge wäre ich nie gekommen“
Ich lächele.
Eigentlich ist es nur die Halbwahrheit.
Das mit dem Sternenbilderabzeichnen ist Quatsch, aber ich werde tatsächlich bei Nia schlafen, sobald die Party vorbei ist. Sie hat mir extra einen Schlüssel unter die Fußmatte gelegt und alles mit ihrer Mutter geklärt - diese hat erstaunlicherweise nichts dagegen.
Zurückkommen werde ich wohl mit einem Taxi, genug Geld habe ich dabei. Ich sollte mir also keine Sorgen machen, alles ist geplant, nichts kann schief gehen.
„Was ist das eigentlich für eine Party? Feiert jemand Geburtstag oder hat eine Prüfung bestanden?“, hake ich nach, weil mir auf einmal durch den Kopf geht, dass ich in solch einem Fall gar kein Geschenk hätte.
Yoel schüttelt lachend den Kopf. „Das ist einfach nur eine Party, Leona. Ohne irgendwelche Beweggründe - außer Spaß haben und für einen Moment alles ausblenden zu können“
Alles ausblenden zu können.
Das klingt gut.
Yoel wirft einen Blick über seine Schulter und lächelt dann entschuldigend.
„Ich glaube, wir sollten nun los. Paolo ist nicht sehr geduldig“, erklärt er.
„Paolo?“
„Unser Fahrer. Ein Halbitaliener, der nicht viel redet. Er bringt uns nur hin, bleibt aber nicht auf der Party“
Ich nicke und verabschiede mich rasch mit einer Umarmung von Nia, die mir augenzwinkernd die Daumen drückt.
„Viel Spaß!“, ruft sie mir noch zu.
Ich presse die Lippen zu einer schmalen Linie. Den werde ich gebrauchen können.


••
Hemmungslos, wild und leidenschaftlich.
Genauso könnte man das Mädchen mit dem cognacfarbenen Fledermausshirt beschreiben, welches sämtliche Blicke auf sich zieht.
Mit geschlossenen Augen tanzt sie zu der Musik, die laut und vibrierend durch das ganze Haus schallt, und hat dabei ein seliges Lächeln auf den Lippen.
Ich bewundere sie.
Sie ist eine hübsche Amazone mit aalglatten Haaren, die schwärzer sind als die Nacht. Eine Gazelle mit unglaublich langen Beinen und makelloser Schneewittchenhaut.
Das Seufzen aus meinem Mund klingt frustriert.
Ich bewundere sie nicht wegen ihrer Schönheit, sondern einfach aufgrund ihrer Art.
Sie kann loslassen, alles wie eine Decke von sich abstreifen und genießen.
Genießen.
Kopfschüttelnd wende ich meinen Blick von ihr ab und gehe wieder in die Küche. Als ich die Tür hinter mir schließe, wird die Musik automatisch ein wenig gedämpft und ich kann mich wieder meinem Selbstmitleid widmen.
Eigentlich habe ich vorgehabt, erneut den Versuch zu starten, Yoel zu finden. Aber bereits nach ein paar Minuten, habe ich diesen Plan in den Sand gesetzt und stattdessen ein wenig die Leute beobachtet.
Und nun befinde ich mich wieder in der Küche.
Erbärmlich.
Vor einer Stunde habe ich den Blondschopf aus den Augen verloren.
Nachdem er mir gesagt hat, er würde kurz auf der Toilette verschwinden, kam er nicht mehr wieder und meine Suche nach ihm, habe ich nach einer halben Stunde aufgegeben, als ich orientierungslos durch das ganze Haus mit seinen 40 Gästen gelaufen bin.
Also habe ich mich in der Küche verschanzt, das Handy in meinen Fingern gedreht und mich gefragt, ob ich Nia anrufen soll oder nicht. Als ich zu keinem Entschluss kam, habe ich erneut Yoel gesucht - Ohne Erfolg, wie man sieht.
Seufzend schließe ich die Augen.
In meinen Vorstellungen habe ich es mir nicht so… langweilig vorgestellt. Vielmehr dachte ich, man würde mir irgendwelche, finsteren Blicke zuwerfen, mich einschüchtern, oder gar bloßstellen. Doch ich muss verblüfft feststellen, dass die Leute hier eigentlich ganz nett sind und mir bisher noch nichts Negatives aufgefallen ist; alle benehmen sich korrekt, keiner tanzt auffällig aus der Reihe.
Es wirkt beinahe schon ein wenig zu friedlich.
Aber vielleicht liegt das auch einfach daran, dass die Party gerade erst in den Schwung kommt, somit der eigentliche Boom, die Aktion noch ansteht.
Man darf gespannt sein.

Ich weiß nicht, wie lange ich da so sitze, als plötzlich die Tür aufgeht.
Verwundert drehe ich mich in meinem Stuhl um und hebe im nächsten Moment überrascht die Augenbrauen.
Das Mädchen mit dem Fledermausshirt.
„Oh hey!“, begrüßt sie mich mit einem strahlenden Sonnenscheinlächeln. Trotz ihrem eher düsteren Erscheinen wirkt sie auf mich wie ein heller, fröhlicher Mensch.
„Hi“, gebe ich verdutzt zurück.
Sie geht zum Tresen, nimmt sich ein Pappbecher und schenkt sich etwas von der Cola ein. Außer Bier gibt es hier kein Alkohol, das habe ich schon nach ein paar Minuten des skeptischen Inspizierens erstaunt festgestellt.
In meinem ganzen Leben habe ich erst zweimal Alkohol getrunken. Und jedes Mal war es Sekt gewesen - einmal zu meiner Konfirmation und ein weiteres Mal an meinem sechzehnten Geburtstag.
„Was machst du hier so alleine in der Küche?“, fragt mich das Mädchen offen und lehnt sich an den Küchentresen, mustert mich mit ihren grünen Augen. „Warum gehst du nicht mal in das Wohnzimmer, wo sich die meisten Leute befinden, oder auf die Terrasse?“
„Keine Lust“, murmele ich und schiele kurz zu der Uhr. 22:24 Uhr.
Die Fremde legt den Kopf schief. „Ich habe dich mit Yoel kommen sehen. Seid ihr zusammen, oder so?“
Mit großen Augen schaue ich sie entsetzt an, ehe ich verächtlich schnaube. „Wir sind nur Freunde!“
„Schon klar“, lacht die Amazone und grinst keck.
Glucksend dreht sie mir den Rücken zu, nimmt sich einen zweiten Pappbecher und füllt diesen ebenfalls mit Cola auf. Sie setzt sich zu mir an den Tisch und schiebt den Becher in meine Richtung.
„Du bist so verklemmt. Mach dich doch ein wenig lockerer“
„Mit Cola?“
Sie grinst geheimnisvoll und zaubert dann auf einmal ein kleines Päckchen aus ihrer Hosentasche. „Was glaubst du, warum es hier so wenig Alkohol gibt? Der Schein trügt. Alles nur eine Fassade, damit niemand Verdacht schöpft, wenn wir hier plötzlich mit irgendwelchen ominösen Flaschen ankommen. Henrys Eltern sind strikt gegen Alkohol, dabei wird er nächstes Jahr schon 18“
Sie verdreht die Augen und öffnet die Dose - lauter kleine Pillen kommen zum Vorschein. Scharf sauge ich die Luft ein und schaue sie entgeistert an.
„Also begnügen wir uns lieber mit anderen Dingen. Schließlich gibt es auch Alternativen, um seine Sorgen zu vergessen“, erklärt die Schönheit süffisant lächelnd, legt sich eine Tablette auf die Zunge und spült diese mit der Cola hinunter.
Ich schaudere angewidert. „Henry ist also der Gastgeber, ja? Und wo sind seine Eltern dieses Wochenende?“
„Die feiern ihren 15. Hochzeitstag in einem Wellness-Hotel, die ganzen drei Tage über. Diese Gelegenheit hat Henry natürlich gleich für sich genutzt“, antwortet sie nonchalant.
Als das unbekannte Mädchen mir die Dose hinhält, schüttele ich heftig mit dem Kopf. Sie seufzt gespielt bedauernd und lässt das Metallpäckchen in ihrer Hand zuklappen.
„Dann eben nicht“
Yoel hat mir erzählt, dass auch er manchmal Drogen nehmen würde, aber ich habe nicht gewusst, dass er mich gleich auf eine Drogenparty schleppen würde. Augenblicklich beschleicht mich ein ungutes Gefühl.
Das Mädchen erhebt sich, trinkt den Rest ihrer Cola in einem Zug leer und lässt kurz ihren Nacken kreisen, bevor sie mich wieder ansieht.
„Ich heiße übrigens Cloe“, sagt sie und öffnet die Küchentür.
„Leona“, murmele ich.
Sie grinst. „Also dann, Leona. Sag Bescheid, wenn du doch Bedarf haben solltest - der Abend ist noch jung“
Mit diesen Worten verlässt die schwarzhaarige Amazone die Küche und lässt mich allein zurück.
Ich blinzele verwirrt.


••
Dadurch, dass ich größtenteils in Ruhe gelassen werde, habe ich viel zu lange Zeit, um zu überlegen, um alles noch einmal genau zu überdenken.
Ich kann meinen baldigen Tod nicht ignorieren.
Unmittelbar steht er vor meiner Türschwelle, lauernd und wissend. Es wird nicht lange dauern, da klopft er zaghaft gegen die Tür - und entweder werde ich sie ihm öffnen oder mich dagegen stemmen.
Letzteres stelle ich mir nicht so einfach vor, überfallen mich doch solch zwiespältige Gefühle, dass ich nicht mehr klar denken kann. Wo ich zuvor noch eine einheitliche Linie vorfand, ein Ziel, einen Weg, da stoße ich nun auf einen dichten Nebel, der mich mehr als verunsichert.
Was ist, wenn meine Entscheidung gar nicht so richtig ist, wie ich bisher immer angenommen habe? Ich tapse im Dunkeln und wünsche mir, ich würde wieder diese Entschlossenheit und Disziplin wie am Anfang besitzen.
Es hat sich viel geändert. Zu viel.
Ich schlucke hart.
Mein Blick wandert über die vielen Menschen, wie sie sich unterhalten, diskutieren, lachen, leben. Sie wirken alle so unbeschwert, so glücklich.
Und da frage ich mich, warum ich es nicht sein kann? Warum mir dies nicht vergönnt ist? Wieso ich so schwach bin?
– Oder bilde ich mir das nur ein?
Milan hat seine Mutter verloren und trotzdem lebt er.
Nia vermisst ihren Vater und trotzdem kann sie lächeln.
Yoel befindet sich in derselben Lage wie ich und trotzdem kann er sich entfalten.
Und ich?
Ein Kloß bildet sich in meinem Hals und ich spüre, wie meine Augen anfangen zu brennen. Nicht hier, nicht jetzt.
Ich befinde mich im Wohnzimmer, habe mich aus der Küche raus getraut, und nun schon eine Weile die Leute beobachtet. Das war eine schlechte Idee.
Der Drang zur Flucht überwältigt mich.
Hastig drehe ich mich um, suche den langen Flur nach einem Badezimmer ab und finde es schließlich. Es ist glücklicherweise nicht besetzt.
Ich verschließe die Tür hinter mir und lasse mich auf den gefliesten Boden nieder, lehne mich an die Badewanne und versuche meine Gedanken zu sortieren. Mit geschlossenen Augen unterdrücke ich einen Schluchzer.
Auf einmal macht er mir Angst, der Tod.
Nur noch zehn Tage bis zu meinem Geburtstag, dann ist alles vorbei. Dann gibt es mich nicht mehr, nie wieder.
Eine leichte Hysterie erfasst mich.
Soll das wirklich schon alles gewesen sein?
Soll das das Leben von Leona Brandt gewesen sein?
Ich ziehe meine Beine an die Brust, umschlinge sie mit meinen Armen und klammere mich an ihnen fest. Ich bin ein Loser, eine Verliererin.
Noch nie habe ich wirklich gekämpft, noch nie gewonnen. Sollte ich dann nicht… wenigstens um mein Leben ringen? Im wahrsten Sinne des Wortes?
Soll mein Leben wirklich schon vorbei sein?
Ich lehne meine Stirn an meine Knie und schluchze einmal kurz laut auf.
Der Damm bricht.
Ein Wort, so präsent, so deutlich, hallt in meinem Kopf. Nein.
Nein.
Zitternd hole ich Luft, wische mir die Tränen vom Gesicht. Mein ganzer Plan gerät ins Schwanken, ich fühle mich hin und hergerissen.
Dieses Gefühl, welches mich auf einmal erreicht, ist so ungewohnt, so fremd, dass ich es noch gar wirklich aufgreifen kann. Dieses „Nein“ klingt so bestimmend, es erschreckt mich und nur zögernd kann ich es annehmen.
Restzweifel bleiben.
Ich spüre das Klopfen meines Herzens, welches mir verrät, dass ich lebe. Das Blut rauscht mir in den Ohren, ich starre die Fliesen an, welche vor meinen Augen verschwimmen.
Mir ist klar: Ich will leben. Es zumindest auskosten.
Mir kann nichts passieren. Ich lebe nur einmal, ich muss es ausnutzen.
Es gibt sicherlich eine Lösung, für jedes Problem gibt es eine Lösung, warum also nicht auch für meines?
Schwerfällig stehe ich auf, schaue mich kurz im Spiegel an.
Meine Augen sind rotunterlaufen, das Haar klebt mir an den nassen Wangen. Schnell spritze ich mir ein wenig kaltes Wasser ins Gesicht, gehe kurz auf das Klo, weil meine Blase nach vier Cola-Bechern nun doch ein wenig drückt, und verlasse schließlich mit straffen Schultern das Badezimmer.
Genau in diesem Moment stoße ich mit Cloe zusammen, überrascht weiche ich zurück und gebe ein seltsames Quieken von mir.
„‘tschuldigung“, murmele ich.
Die schwarzhaarige Amazone mustert mich neugierig und als sie meine roten Augen sieht, legt sie fragend den Kopf schief, ehe ihre Mundwinkel sich langsam heben.
Ein wissendes, triumphierendes Lächeln umschmeichelt ihre Lippen, als sie die Metalldose aus ihrer Jeanshose zückt.
Ich beiße mir auf die Unterlippe und schaue unsicher zu ihr hoch. Irgendetwas muss sie in meinen Augen gesehen haben, etwas anderes als die Nervosität. Vielleicht einen Funken Hoffnung, einen Funken Lebendigkeit?
„Wusst ich’s doch“, meint sie.
Tief atme ich durch, verdränge meinen rechthaberischen Verstand, versuche stattdessen die Neugierde in mir anzustacheln.
Schließlich nicke ich, wenn auch nur zögernd.
Man lebt nur einmal.
Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.



••
„Hey Leona!“
Verwundert drehe ich mich um und entdecke Yoel, der sich mit einem erfreuten Grinsen neben mich stellt und ebenfalls ein Pappbecher mit Cola füllt. Ich weiß gar nicht, wie lange ich hier schon stehe.
„Oh hey! Wo warst du denn die ganze Zeit, ich habe dich gesucht!“, erkläre ich und schaue ihn fragend an.
Er grinst. „Hab mir ein bisschen die Zeit vertrieben. Sorry, muss dich wohl vergessen haben. Aber nun bin ich ja da“
Ich schiebe die Unterlippe hervor und bemerke, wie sich bei mir langsam alles zu drehen beginnt. „Lass uns doch ein wenig Karussell fahren“
„Karussell?“, hakt Yoel lachend nach.
„Oder Achterbahn“
Ich kichere und wanke ein wenig.
Ein dichter Nebel macht sich in meinem Kopf breit, raubt mir den Verstand, ist undurchdringlich. Doch das macht nichts, ich mag diesen Nebel.
„Oder wir gehen einfach tanzen?“, schlägt Yoel vor.
Ich schaue zu ihm hoch und blinzele verwirrt, weil sich meine Sicht immer wieder wie eine Kamera verschärft und dann wieder grobmaschig wird. „Klingt gut“
Er lächelt, nimmt mich vorsichtig bei der Hand und führt mich dann aus der Küche. Dieses Gefühl, welches mich wie rosarote Zuckerwatte einhüllt, ist fantastisch. Grinsend lasse ich zu, dass es die Oberhand gewinnt.
Ich möchte auch so unbeschwert und frei tanzen wie die anderen, alle Sorgen vergessen. Und ich bin auf dem besten Wege.
Das ganze Wohnzimmer ist inzwischen zu einer einzigen Tanzfläche mutiert worden.
Der Bass vibriert durch meinen Körper, jagt mir einen Schauer bis in die Zehenspitzen und scheint die Lebensgeister in mir zu erwecken.
Wir gesellen uns zu den zappelnden Menschen, dessen Leiber sich verschwitzt und unkontrolliert zuckend zur Musik bewegen. Auf jedem fremden Gesicht kann ich ein glückseliges Lächeln erkennen.
Yoel zieht mich zu sich ran und ich lasse mich einfach von meinem Gefühl leiten, bewege mich, tanze. Lebe.
Mein Kopf legt sich in den Nacken und ich grinse die Scheinwerfer an, welche man an der Decke installiert hat. Die Lichtblitze machen alles viel echter.
„Wo bleibt der Donner?“, frage ich glucksend.
Yoel runzelt die Stirn. „Welcher Donner?“
„Na der, der immer bei einem Gewitter auftaucht“, erkläre ich. „Hier sind überall Blitze, wo ist der Donner?“
Der Blondschopf grunzt vergnügt, beugt sich ein wenig zu mir runter und streicht mir eine Strähne hinter das Ohr.
Mit glasigen Augen schaue ich ihn an.
„Wir sind der Donner, Leona. Zusammen lassen wir es krachen, bis diese scheiß Welt in Fetzen vor unseren Füßen liegt“, flüstert er in mein Ohr.
Ich starre ihn an.
Einzelne Stromstöße jagen durch meinen Körper, pulsieren durch meine Venen. Mein Herz klopft begeistert gegen die Brust und allmählich verziehen sich meine Mundwinkel zu einem Grinsen.
– Und genau in diesem Moment setzt mein Filmriss ein.
Alles, was ich wahrnehme, sind nur noch Bruchteile, ungenau und zusammenhangslos.
Lachen. Hände. Lippen.
Licht.
Dunkel. Hell. Dunkel. Hell.

Finsternis.






Teil 1 Teil 2 Teil 3 Teil 4 Teil 5 Teil 6 Teil 7 Teil 8 Teil 9 Teil 10 Teil 11 Teil 12 Teil 13 Teil 14 Teil 15 Teil 16 Teil 17 Teil 18 Teil 19


© rockundliebe.de - Impressum Datenschutz