Mit dir, ohne dich - Teil 7

Autor: sunny
veröffentlicht am: 02.10.2011


ICH HAB ES GEFUNDEN!!!! Jetzt kann's weiter gehen :)
Vielen Dank übrigens an alle fleißigen Kommentarschreiber :)
Besonders auch an sky und Polarsternchen für ihre Kommentare im dritten Teil! Hab drüber nachgedacht und festgestellt, dass ihr Recht habt... ab und an vergesse ich, dass nicht aller Welt klar ist, was in meinem Kopf vor sich geht :s Werde daher im nächsten Teil nochmal näher drauf eingehen :) Ansonsten, sagt mir bitte auch weiterhin, wenn was nicht stimmt, ich neige nämlich zu Unrealismus :)

Ahhh, was mir noch einfällt: Im Text sind ein paar mal * verwendet worden. Die hab ich einfach am Anfang und am Ende eines längeren kursiv gedruckten Teils verwendet :)




***




Sieben
Clara

Das erste, was ich dachte, als ich sie sah, war… nichts. Da war nichts, kein fassbarer Gedanke; nur Gefühle. Schreck und Angst und Glück und Verwirrung und Verzweiflung und eine riesengroße Hilflosigkeit, alles auf einmal. Ich konnte nichts tun. Ich wusste nicht, in welcher Verbindung ich mit Clara stand, ich wusste nur… dass da eine Verbindung war. Es war ein Gefühl.
Sie sah so winzig aus in dem Kinder-Krankenhausbettchen, ein verlorenes, bleiches Persönchen inmitten weißer Laken und fremdartiger Maschinen.
Ich legte meine Hände an die Scheibe zu ihrem Zimmer und sank daran herab. Ich musste zu ihr. Koste es, was es wolle, ich musste jetzt da rein.
„Kann ich da rein?“ Flehend sah ich zu Jaden auf. „Bitte, ich muss zu ihr.“
Jaden zögerte. „Ich weiß nicht, Joelle, das ist…“
„Jaden!“ Ich packte einen Zipfel seiner Jacke. „B i t t e!“
Einen Moment lang stand es in der Schwebe, einen winzigen, endlosen Moment lang hielt die ganze Welt den Atem an und Jaden sah in meine Augen, bevor er sich kommentarlos umdrehte und murmelte: „Ich frage.“
Erleichtert sank ich in mich zusammen und wandte mich wieder der Scheibe zu. Aus meiner knienden Position heraus konnte ich gerade eben über den Rand und in das Zimmer sehen; Clara sah ich von hier aus nicht wirklich gut. Aber ich war einfach zu schwach, mich wieder aufzurichten und aus stehender Position hinein zu sehen.
„Do you remember anything?“, fragte Valentin leise. Ich hatte ganz vergessen, dass er noch immer hinter mir stand; Clara war jetzt ungleich wichtiger.
„Ich… ich erinnere mich nicht an mein Leben…“, entgegnete ich auf Englisch, „Aber an… grundlegende Dinge, wie… wie man spricht, oder geht, oder… oder dass es im Winter schneit. All so etwas eben. Man nennt das eine retrograde Amnesie, bei der nur das episodische Gedächtnis betroffen ist.“ Ich hatte mit Doktor Penny, Herr Lange und Jaden ausführlich darüber diskutiert. Aber meine Gedanken waren weit fort, während ich mit Valentin sprach. Hinter der Scheibe bei einem kleinen Mädchen, das vielleicht nie wieder aufwachen würde, hinter den Worten bei einem Leben, das vielleicht nie wieder meins sein würde.
*Deux pas sur l’arc-en-ciel,
Et personne ne peut nous attraper.*
Die Zeilen waren plötzlich einfach da, ein Satz, wie aus dem nichts. Ich erstarrte und hielt mitten im Satz inne.
„Bist du okay?“, wollte Valentin unsicher wissen.
„Klar, es ist alles…alles…“ Ich bemerkte, dass ich unbewusst vom Englischen zum Französischen gewechselt hatte, und wiederholte den Satz noch einmal auf Englisch. „Es ist alles okay.“
Valentin starrte mich an. „Du… hast gerade französisch gesprochen“, bemerkte er.
„Ich… ich… ja.“ Fassungslos starrte ich auf meine Hände, als könnten sie mir erzählen, wer ich war.
Jaden kam mit einem Arzt den Flur entlang auf uns zu.
„Jaden“, sagte ich.
„Sie hat gerade französisch gesprochen!“, unterbrach mich Valentin ungeduldig. Ich sah ihn an. Immer noch dasselbe fantastische Äußere, immer noch dieselbe unglaubliche Stimme, und doch… irgendwie… Es war nur ein Gefühl, aber etwas sagte mir, dass Valentin nicht ganz… r i c h t i g war. Er begann, lästig zu werden. Das Gefühl passte nicht in mein Gesamtbild von ihm, aber es war definitiv da.
„Du hast was?“ Jaden starrte mich fassungslos an.
Ich zögerte. „Ich… ich… weiß auch nicht – es war einfach plötzlich da…“
„Wie gut hast du französisch gesprochen?“
„Was?“
Ungeduldig sah er mich an. „War es schulfranzösisch?“
Neben mir schüttelte Valentin entschieden den Kopf. „Klang eher nach Muttersprache.“
Mir fiel auf, dass wir immer noch auf Englisch kommunizierten. Der Arzt sah uns schon merkwürdig an, also wechselte ich zurück ins Deutsche. „Ich hab ja noch nicht mal einen ganzen Satz gesagt.“
„Antworte mir auf Französisch“, verlangte Jaden, nun ebenfalls auf Deutsch. „Was löst Clara bei dir aus?“
Das war eine unfaire Frage, und sie kam so unerwartet, dass ich nicht anders konnte als improvisieren. Zu meiner eigenen Überraschung fiel es mir nicht schwer, in den Französisch-Modus zu wechseln.
„Mélancolie. Et la peur. Et un peu... un peu autre... je ne peux pas saisir... sous la surface...“ Hilflos hob ich die Hände. „C'est... je ne sais pas... Cela fait de la peine!“
Jaden sah mich auf eine merkwürdig ausdruckslose Weise an. Schließlich stützte er sich mit einem tiefen Ausatmen an der Wand neben sich ab. „Es wird immer kurioser…“, begann er, aber er kam nicht dazu, seine Ansichten weiter auszuführen, denn in diesem Moment räusperte sich der Arzt ungeduldig und warf einen Blick auf die im Gang hängende Uhr.
„Entschuldigen sie, aber ich habe nicht den ganzen Tag Zeit, und ich kann Sie nicht unbeaufsichtigt hinein lassen. Wollen Sie jetzt zu dem Kind oder nicht?“
Augenblicklich richtete ich mich auf und fixierte ihn aufgeregt. „Ja! Ja, bitte…“
Raschen Schrittes trat der grauhaarige Herr an uns vorbei und öffnete die Tür zu Claras Zimmer. „Sie haben zehn Minuten. Rühren Sie keine der Maschinen an und tun Sie nichts, was dem Kind schaden könnte.“
Abwesend nickte ich und ging vorsichtig an ihm vorbei in die summende Stille des Zimmers. Ein monotones Piepen begleitete jeden meiner Schritte, dasselbe Geräusch, das auch ich beim Aufwachen aus meiner Ohnmacht gehört hatte.
Fern nahm ich wahr, dass der Arzt die Tür hinter mir schloss und sich an der Glasscheibe positionierte. Es interessierte mich nicht, nicht ein bisschen. Wie gebannt tat ich einen Schritt nach dem anderen auf Clara zu.
Das Bett war klein. Ein kleines, steriles weißes Gitterbett, das Gitter auf der mir zugewandten Seite momentan halb herunter geschoben; sie bewegte sich ja nicht.
Clara selbst war noch viel kleiner als das Bett, in dem sie lag, winzig und blass. Fast schon porzellanweiß sah ihre Haut aus, wie sie da lag mit geschlossenen Augen.
Sie hatte dieselben braunen Locken wie ich.
Unwillkürlich fuhr meine Hand an meinen Kopf, als mir das auffiel; mein Haar reichte in weichen Locken bis unter meine Schulterblätter, es hatte die Farbe von Kastanien, ein dunkles, sattes Braun. Lange hatte ich mein eigenes Spiegelbild studiert in dem Versuch, herauszufinden, wer ich war. Zu einem Ergebnis war ich nicht gekommen; aber Clara… Clara hatte definitiv etwas mit mir zu tun.
Ihre kleine Gestalt unter der weißen Decke schien dünn und schwach zu sein, die winzigen Hände lagen welken Lilien gleich darauf, schlaff und reglos.
Ihr Gesicht hatte etwas ungemein Niedliches und gleichzeitig Schwaches und Trauriges an sich. Forschend starrte ich ihre geschlossenen Augen mit den langen, dunklen Wimpern an, im Versuch, heraus zu finden, welche Augenfarbe sie hatte; natürlich nutzte es nichts.
Clara.
C l a r a.
*Deux pas sur l’arc-en-ciel,
Et personne ne peut nous attraper.*
Da waren sie wieder, die Worte, wie aus dem Nichts erschienen in meinem Kopf, und ich hielt verwirrt inne. Ich konnte sie nicht zuordnen. Was waren das für Worte? Woher kamen die französischen Zeilen…
*Ma main dans la tien, un moment de verre.*
Meine Hand krampfte sich zusammen. Ich war kurz davor, mich an etwas zu erinnern, das spürte ich.
*Deux pas sur l’arc-en-ciel,
Et personne ne oeut nous attraper.
Ma main dans la tien, un moment de verre.*
Immer lauter, immer wieder hallten die Worte in meinem Kopf, und ich stand ganz reglos, starrte Clara an, ohne sie wirklich zu sehen, hielt ganz still. Reglos. Ich gab keinen Mucks.
*Deux pas sur l’arc-en-ciel…*
Und plötzlich war es, als hörte ich die Worte von einer fremden Stimme gesprochen, eine helle, fröhliche Stimme. Ein Lachen mischte sich unter die Worte.
*Deux pas sur l’arc-en-ciel!*
Laut und fröhlich, und dann bekamen die Worte eine Melodie.
Jemand sang sie.
Eine fröhliche, unbeschwerte Mädchenstimme sang die Worte laut in die begriffsstutzige Leere in meinem Kopf.
*Deux – pas – sur l’arc-en-ciel…
Deux – pas – sur l’arc-en-ciel…
Deux – pas –sur l’arc-en-ciel,
Et personne – ne peut – nous attraper !
Deux – pas – sur l’arc-en-ciel,
Et personne, personne, personne ne peut
Nous attraper !
Ma main dans la tien,
Et personne, personne, personne ne peut
Nous attraper !
Hm – hm…
Ma mains dans la tien,
En moment de verre.*
Keuchend hielt ich inne, sackte hilflos zusammen auf dem Stuhl neben Claras Bettchen. Ein Gefühl stieg in mir auf, das fremd war und vertraut zugleich. Ein Gefühl, das wehtat, weil etwas fehlte.
Weil jemand fehlte.
Die helle Stimme, die das Lied gesungen hatte… ich kannte sie… das war…
„Fräulein!“
Erschrocken zuckte ich zusammen und fuhr zu dem Arzt herum, der in der Tür stand und mich mit hochgezogenen Augenbrauen ansah.
„Es tut mir Leid, aber ich muss Sie bitten, jetzt auf Ihr Zimmer zurück zu gehen, Fräulein. Ich verspreche Ihnen, man wird sich hier gut um das Kind kümmern.“
Benommen sah ich ihn an, dann nahm ich Jaden hinter ihm war, blinzelte und nickte leicht mit dem Kopf. Bevor ich aufstand, warf ich einen letzten Blick zurück auf Clara.
So winzig lag sie da, so reglos.
Clara, der Schlüssel zu allem, meine einzige Stütze in Bezug auf die im Nebel verborgene Vergangenheit.
Clara, die ich jetzt ein einziges Mal gesehen hatte.
Und ich hatte sie noch nicht einmal berührt!
Weil ich zu sehr mit Erinnerungen beschäftigt war… v e r s c h ü t t e t e n Erinnerungen…
Also wirklich, als ob ich der einzige Mensch auf der Welt wäre, der Probleme hatte! Genau hier vor mir lag ein winziges, zartes, hilfloses Wesen, das ganz offenkundig noch viel schlechter dran war als ich! Und ich verplemperte meine Zeit… ich sollte mich echt schämen.
Widerstandslos folgte ich dem schweigenden Jaden und dem auf Englisch vor sich hin schwadronierenden Valentin auf mein Zimmer. Es fiel mir nicht einmal auf, dass Valentin ging; erst, als Jaden sich auf den gewohnten Platz neben meinem Bett setzte, erwachte ich aus meinen Grübeleien und sah ihn an.
„Jaden“, stellte ich fest, und dann, nach einem tiefen Luftholen: „Wir müssen reden.“
„Worüber?“, fragte Jaden ziemlich erstaunt.
Tja, das musste ich ihm jetzt schnell sagen, bevor es wieder aus meinem Kopf verschwand, weil es einfach so viel war, das ich ihm mitteilen wollte.
Vorher fiel mir aber etwas anderes ein. Verdutzt sah ich ihn an.
„Ähm… wo ist denn Valentin?“
Jadens Gesichtsausdruck wechselte von überrascht zu verwirrt zu resigniert. Er seufzte. „Gegangen. Hast du das nicht mitgekriegt?“
Ich schüttelte den Kopf. „Ähm… nein. Ich war ziemlich in Gedanken.“ Das mit dem „Ähm“ sollte ich schleunigst wieder lassen.
„War’s das, worüber du reden wolltest?“, fragte Jaden mit gerunzelter Stirn.
Ich sah auf. „Oh, nein! Nein. Mir ist etwas… eingefallen. Und etwas aufgefallen. Und darüber… muss ich mit dir sprechen.“
Ohne mich aus den Augen zu lassen, lehnte Jaden sich auf seinem Stuhl zurück. „Okay. Schieß los.“
Konzentriert senkte ich den Blick und begann mit dem Wichtigsten.
„Ich will nicht, dass du gehst“, platzte ich heraus.
Ups. So direkt war das eigentlich nicht geplant gewesen.
„Was?“, fragte Jaden auch direkt und richtete sich wieder auf.
„Naja, Luke war bei mir, und er hat gesagt…“
Ich erzählte ihm, was ich von Luke erfahren hatte; nur das mit Lynn ließ ich vorsichtshalber weg, und ich ging nicht zu sehr ins Detail, was das Gebaucht-werden anging. Jaden hörte still und mit konzentrierter Miene zu.
„Die Sache ist, ich habe Angst, dir im Weg zu stehen, weil ich dich nicht gehen lassen will; aber ich will dich trotzdem hier behalten, denn du bist doch mein einziger Freund auf der Welt und ich… ich… ich weiß einfach nicht, was ich tun soll!“, schloss ich meinen Redeschwall. Ich konnte nicht sagen, wann genau ich beschlossen hatte, Jaden nicht zu sagen, er solle fortgehen; Fakt war aber, d a s s ich es beschlossen hatte, und ich würde auch dabei bleiben. Ich wollte nicht, dass Jaden ging. Punkt. Es war besser, ihm von Anfang an zu sagen, wie ich dachte.
„Ich weiß nicht, wer ich vorher war, aber seit dem Unfall ist das Wichtigste, was ich habe, du! Ich kann es nicht erklären… vielleicht einfach, weil du der erste warst, den ich gesehen habe… jedenfalls… gibst du mir ein gewisses… Gefühl der Sicherheit, das ich nicht einfach so verlieren will. Nicht auch noch meinen letzten Halt.“ Ängstlich gespannt auf seine Reaktion, sah ich zu ihm auf und fragte vorsichtig: „Verstehst du?“
Jaden sah mich lange einfach nur an.
Dann nickte er.
„Okay“, erklärte er. „War das alles?“
Einen Moment starrte ich ihn nur fassungslos an. Ich schüttete ihm mein Herz aus, und alles, was er dazu sagte, war „War das alles?“
„Was?“, entgegnete ich vollends verwirrt. „`War das alles?` Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?“
Verwirrt hielt ich inne, als ich meinen Wortlaut bemerkte, und sah Jaden an, dessen Augen belustigt funkelten.
Gleichzeitig brachen wir in Gelächter aus.
„Hfff… okay… Joelle“, keuchte er nach einer Weile in dem Versuch, sich wieder zu beruhigen, und griff mit einer Hand nach meinem Arm. „Lass mich… einfach darüber nachdenken, ja? Ich kann dir noch keine konkrete Antwort geben, aber… ich denke darüber nach, okay?“
Seine Worte ließen mich schlagartig wieder ernst werden, als ich daran dachte, dass mit Jaden mein einziger Halt in diesem verwirrenden Leben verschwinden würde.
Besorgt nickte ich. „Okay.“
„Also…“, begann Jaden und strich sich das wirre dunkle Haar aus der Stirn. „War das alles, was du mir erzählen wolltest?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Nein“, präzisierte ich. Ich hob den Blick und sah ihn an. „Ich glaube… mir ist etwas… eingefallen. Gerade eben… bei Clara.“
„Clara…“, wiederholte Jaden nachdenklich. Fest sah er mich an. „Was genau ist dir eingefallen, Joelle? Erzähl mir alles.“
Ich starrte auf meine Bettdecke und schüttelte den Kopf. „Es ist nicht viel. Nur ein Lied.“
„Ein Lied?“
„Ja.“ Ganz leise begann ich zu singen. „*Deux pas sur l’arc-en-ciel… et personne ne peut nous attraper. Ma mains dans la tiens, en moment de verre*.“ Ich sah Jaden an, und auf einmal schoss es mir durch den Kopf – das Lied. Das ganze Lied. Mit fester werdender Stimme fuhr ich fort. „*Deux pas sur l’abîme, et personne ne peut nous suivre. Ma mains dans la tien, en moment en feu. Deux pas dans l’avenir, et aucun retour. Ma main dans la tien, un moment parfait.*“
Schweigend starrte ich ihn an, bevor ich mich räusperte und nachdenklich den letzten Satz wiederholte. „Un moment parfait. Ein perfekter Moment. Ja… sie hat das immer gesungen.“
„W…wer hat das immer gesungen?“, hakte Jaden angespannt nach.
Aber ich konnte wieder nur den Kopf schütteln. „Keine Ahnung.“
Enttäuscht sank Jaden zurück.
„Kein Ahnung…“ Wiederholte ich flüsternd, dann sah ich auf. „Ich war so kurz davor, mich zu erinnern. Ich konnte ihre Stimme hören, in meinen Gedanken. Ich w u s s t e, wer das war. Verdammt, ich w e i ß es!“ Frustriert hämmerte ich mit meinen Fäusten gegen meinen Kopf. „Wenn nur nicht dieser blöde Arzt reingekommen wäre!“
„Beruhige dich, Joelle!“ Jaden beugte sich vor und hielt meine Hände fest. „Du kannst dich erinnern. Ich weiß es. Irgendwann wird die Erinnerung zurückkehren. Du hast doch gesagt, du hast ihre Stimme gehört, in deinem Kopf, oder?“ Er sah mir fest in die Augen. Ich nickte. „Na also. Das bedeutet, es ist noch da, irgendwo tief in dir. Es braucht vielleicht nur ein bisschen Zeit, um zurückzukommen. Ein bisschen Zeit und die richtigen Stichworte.“ Er holte tief Luft, ließ mich wieder los und setzte sich gerade. „Also. Die Stimme, die gesungen hat. War das ein Mädchen? Oder eine Frau?“
Ich dachte nach. „Ein… Mädchen“, erkannte ich. „Sie klang fröhlich. Ich kannte ihre Stimme. Sie hat immer gesungen.“ Ich sank nach vorn und presste meine Fäuste an meine Stirn. „Sie hat immer gesungen…“
„Also ein Mädchen“, analysierte Jaden. „Dann war es vielleicht eine Freundin. Oder deine Schwester. Eine Cousine oder Ähnliches. Könnte das sein, Joelle? Denk nach!“
Fest sah er mich an.
Ich blickte in seine Augen. Blaue Augen. Solche, wie ich noch nie gesehen hatte. Ich dachte an Clara.
Ein Bild schoss mir durch den Kopf. Einen Moment nur, dann war es wieder fort.
Ich keuchte auf.
„Joelle? Was ist? Ist alles in Ordnung?“, fragte Jaden sofort besorgt und sprang auf.
Ich nickte, schüttelte den Kopf, winkte ab. Ich starrte ins Leere, versuchte dieses Bild zurück zu holen; aber es war nicht da. Es bleib verschwunden. Frustriert schlug ich auf die Bettdecke.
„Joelle?“, hakte Jaden vorsichtig nach.
„Es ist okay“, knurrte ich, noch immer frustriert. „Ich kann mich nicht erinnern!“
Aufatmend ließ Jaden sich zurück auf den Stuhl fallen.
„Vielleicht sollten wir es für heute lassen“, schlug er erschöpft vor. „Vielleicht ist das erstmal genug.“ Er schwieg kurz, bevor er fortfuhr: „Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt!“
Ein kleines Lächeln zuckte über mein Gesicht. „Wann?“, frotzelte ich.
Jaden kicherte. „Soll ich dir das wirklich alles aufzählen?“
Wir mussten beide lachen, kurz nur diesmal, und versanken gleich darauf in einvernehmlichem Schweigen.
„Es ist schon dunkel“, stellte Jaden nach einer Weile fest.
„Hmm“, brummte ich zustimmend. „Es ist Winter…“
„Januar, um genau zu sein“, präzisierte Jaden. „Noch zwei Tage Januar.“
„Ich bin jetzt schon länger als eine Woche hier“, erkannte ich.
Jaden nickte. „Eine Woche und zwei Tage.“
„Eine so kurze Zeit…“ Ich lächelte grimmig. „Es ist verrückt. An die ganzen Jahre, die ich davor gelebt habe, kann ich mich nicht ein bisschen erinnern. Aber seit du mich gerettet hast… Jeder Tag… jede einzelne Minute… ich erinnere mich an alles.“ Ich schenkte ihm ein Lächeln. „Ich bin so froh, wenigstens einen Freund zu haben in diesem Chaos.“ Dann fiel mir etwas auf. Ich runzelte die Stirn. „Eigentlich weiß ich gar nichts von dir. Ich kenne Luke. Ich weiß das, was er mir heute erzählt hat. Sonst nichts.“ Bittend sah ich ihn an. „Ich würde dich gerne kennen lernen, Jaden.“
Jaden lachte, während hinter ihm die Tür auf ging. „Okay“, stimmte er zu.
Dann stand eine wütende Doktor Penny vor meinem Bett, die Hände in die Hüften gestemmt, und funkelte mich an. „JOELLE!“
Die Art und Weise, wie sie meinen Namen aussprach, ließ mich Schlimmes ahnen. Ich kroch tiefer unter meine Bettdecke. „Es war nicht meine Schuld! Ich schwör’s!“
Doktor Penny atmete tief durch. „Jaden, ich denke, Sie sollten jetzt lieber gehen.“
Jaden kicherte, wofür ich ihm einen tödlichen Blick zu warf.
„Okay“, wiederholte er und stand auf. „Gute Nacht, Joelle.“ Er wandte sich zur Tür, öffnete sie und drehte sich, schon halb draußen, noch einmal zu uns um. „Ach, und eins noch, Joelle…“
Fragend sah ich ihn an.
„Du hast eine fantastische Singstimme.“ Er lächelte mich aufrichtig an, bevor er die Tür hinter sich schloss und ging.
Vor lauter Verblüffung gingen die ersten Sätze von Doktor Pennys Standpauke vollkommen an mir vorbei.
„… denken Sie eigentlich, wozu man das hier KRANKENHAUS nennt?“, schimpfte sie wütend. „Weil hier KRANKE liegen, Joelle! KRANKE! Ich hatte Sie eigentlich für intelligent genug gehalten, in Ihrem eigenen Interesse…“
„Doktor Penny?“, unterbrach ich sie und sah sie mit großen Augen an.
„Äh… was?“, fragte sie, aus dem Konzept gebracht.
„Hat Jaden gerade wirklich gesagt, dass ich gut singen kann?“, fragte ich nachdenklich.
„Ähm.“ Doktor Penny wirkte verwirrt. „Ja, ich glaube schon.“
„Hm.“ Angestrengt dachte ich nach. „Das ist merkwürdig.“ Ich knäuelte die Bettdecke zwischen meinen Händen. „Aber er ist ja auch der einzige, der mich singen hören hat. Und er ist mein bester Freund. Vielleicht wollte er nur nett sein.“ Fragend sah ich sie an. „Oder?“
Doktor Penny stieß die Luft aus und ließ sich auf den Stuhl fallen, den Jaden soeben freigemacht hatte. „Okay, Joelle“, seufzte sie, „Okay.“
Abwehrend wedelte sie mit einer Hand durch die Luft. „Ich bin n i c h t hier, um mit Ihnen über Ihre Beziehung zu Jaden zu reden, klar? Ich bin hier, um Ihnen deutlich zu machen, dass Sie sich hier in einem K r a n k e n h a u s befinden, in dem sie sich gefälligst an die Regeln zu halten haben wie jeder andere Patient auch! Und das bedeutet, k e i n e unerlaubten Ausflüge mehr, klar?!“
Eingeschüchtert nickte ich.
Doktor Penny seufzte. „Ich glaube zwar nicht, dass Sie sich das sonderlich zu Herzen nehmen, aber…“ Sie wandte sich zum Gehen, griff nach der Tür und drehte sich noch einmal nach mir um, um mir (wie klischeehaft!) mit dem Zeigefinger zu drohen. „Tun Sie sowas einfach nie wieder, klar?!“
Nickend sah ich zu, wie sie das Zimmer verließ, und versuchte zu rekonstruieren, wie oft sie in den letzten Minuten „klar“ gesagt hatte.
Ziemlich oft, ohne Zweifel.



***



Achja, für alle Nichtfranzosen: Der Text (übrigens auch das, was ich gesucht hatte xD) bedeutet auf Deutsch soviel wie:

Zwei Schritte über den Regenbogen,
Und keiner kann uns fangen.
Meine Hand in deiner, ein gläserner Moment.
Zwei Schritte über den Abgrund,
Und keiner kann uns folgen.
Meine Hand in deiner, ein brennender Moment.
Zwei Schritte in die Zukunft,
Und kein Zurück.
Hand in Hand, ein perfekter Moment.


Ich hoffe, ich habe alles ungefähr richtig überesetzt :)





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