Mit dir, ohne dich - Teil 2

Autor: sunny
veröffentlicht am: 26.09.2011


Zwei
Joelle

Da war eine Stimme, die mich nicht schlafen lassen wollte, eine Stimme, die mich nicht gehen ließ. Sie sprach von Hilfe. Von Essen. Von Wärme.
Ich wollte schlafen, nichts weiter als schlafen, solange, bis der Schmerz vorüber war… aber der Schmerz ging nicht vorüber.
„Komm schon“, sagte die Stimme, „Mach die Augen auf. Sieh mich an. Mach die Augen auf und sag mir, dass du durchhältst. Es ist nicht mehr weit. Dann bekommst du Hilfe. Und etwas zu Essen. Nur bitte, mach die Augen auf! Sieh mich an, komm schon, komm!“
Also öffnete ich die Augen, und da waren zwei andere Augen, blaue Augen, die meinen Blick erwiderten, und ein Lächeln. Da war schwarzes Haar und eine schmale Nase. Da war ein Gesicht.
„Sehr gut“, lobte der Mund, „Sieh mich an. Nicht wieder einschlafen, ja? Wir haben es nicht mehr weit. Bleib wach.“
Aber wach bleiben war so schwer. Und ich wollte doch schlafen. Ich wollte doch nur schlafen…
„Nanana!“, drohte die Stimme, „Nicht nachgeben! Nicht einschlafen! Bleib bei mir jetzt, gib nicht auf. Kannst du mir sagen, wie du heißt?“
Ich starrte in diese blauen Augen hinauf und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber – da war nichts. Kein Name. Wie hieß ich? Ich wusste es nicht. Wer war ich, wo war ich, was tat ich hier? Wer war der Mensch, der mich trug?
„Offensichtlich nicht“, erkannte der Mensch richtig. Ein Junge, es war ein Junge, vielleicht so um die zwanzig. Wieso wusste ich das, aber nicht, wie ich hieß?
„Keine Panik“, fuhr der Junge fort, „Kein Problem. Dann nenne ich dich eben solange Joelle, das passt zu dir. Also gut, Joelle, wir sind gleich da. Dann hilft dir jemand, und sicher wirst du dich bald wieder erinnern. Kannst du mir sagen, was dir wehtut? Kannst du sprechen? Versuch es, ja?“
Ich versuchte es. „E… es… tut alles… weh.“ Meine Stimme klang kratzig und komisch, aber sie war da. Reden konnte ich also.
„Oh, gut, du kannst reden. Du sprichst mit mir. Gut. Das ist gut. Was tut dir am meisten weh? Kannst du mir das sagen?“
Ich überlegte. Eigentlich tat mir alles weh, mein ganzer Körper – was schmerzte wohl am meisten? „… Kopf…“, brachte ich schließlich hervor, denn mein Kopf tat wirklich höllisch weh und ich konnte mir nicht vorstellen, dass noch etwas diesen Schmerz übertreffen könnte. Deshalb wollte ich ja auch schlafen. Schlafen, damit nichts mehr wehtat.
„Schlafen… bitte…“, bat ich.
„Ach herrje, nein! Um Himmels Willen, nein! Bitte schlaf jetzt nicht, Joelle, erst recht nicht, wenn dein Kopf so doll wehtut.“
Das tat er, das konnte er ruhig glauben.
„Du stirbst mir sonst noch unter den Händen weg, und das könnte ich nicht ertragen, klar? Also nicht sterben jetzt, bitte. Nicht schlafen und nicht sterben. Schlafen gleich sterben. Klar?“
Ich krächzte. „Klar.“ Dann verzog ich das Gesicht vor Schmerz. Tränen quollen unter meinen Augenlidern hervor. „… weh…“
Der Junge sah mich besorgt an. „Ich weiß, ja, ich weiß, Joelle, ich kann’s mir vorstellen – oder eigentlich auch eher nicht – ich glaube, ich will’s mir gar nicht vorstellen. Schau, da vorne ist das Krankenhaus, okay, wir haben’s gleich geschafft. Gott sei Dank. Du bist schwer. Mir fallen gleich die Arme ab…“
Ich wimmerte.
„Ist gut, Joelle, ist ja gut. Ich bin bei dir, okay? Und jetzt wird dir auch geholfen… die Schmerzen werden bald nachlassen, ja? Okay. Okay, gut.“
Eine zweite Stimme mischte sich ein. „Was ist mit ihr? – Michael, schafft eine Trage her, schnell! – Was ist passiert?“
„Autounfall. Unten an der Skinroad. Luke ist noch da“, erklärte der Junge. Ich hörte, wie klappernd eine Liege herbeigeschoben wurde. Der Junge legte mich darauf und ließ erleichtert seine Arme kreisen. „Sie erinnert sich nicht an ihren Namen. Aber sie lebte, also hab ich sie so schnell wie möglich hergebracht. Das Auto ist frontal gegen einen Baum gefahren, Luke und ich haben’s gesehen.“
„Waren noch weitere Personen in dem Wagen?“
Er nickte. „Wir hatten kein Handy dabei, und sie atmete, also…“
„Die anderen Personen?“
Er zögerte kurz, schüttelte dann den Kopf. „Schickt trotzdem jemanden vorbei. Ich kann mich geirrt haben.“
„Wie viele?“
„Drei. Ein K… Kind. Es war eingeklemmt. Wir kamen nicht ran.“
„Alles klar.“ Zum ersten Mal nahm ich die Person wahr, die mit ihm sprach; eine Krankenschwester. „Schiebt sie zum Röntgen, und gebt ihr Schmerzmittel“, fuhr sie an einen Pfleger gewandt fort. Die Liege setzte sich in Bewegung.
Panisch hob ich einen Arm, streckte ihn unter Schmerzen nach dem Jungen aus. „… nicht… gehen!“
Ich wollte nicht, dass er ging. Er war das einzige einigermaßen Vertraute in diesem riesigen Chaos.
Fragend sah der Junge die Krankenschwester an. Die nickte und er folgte mir.
„Und gebt Doktor Pentragon Bescheid!“, rief die Schwester uns hinterher.
„… heißt… du?“, fragte ich den Jungen, während wir durch lange weiße Flure eilten.
„Hm? Oh! Jaden. Ich bin Jaden.“
Jaden war wirklich hübsch. Ich hatte noch nie solche Augen gesehen… Ich versuchte ein Lächeln. „Danke… Jaden.“
Er lächelte zurück. „Hey, das war doch selbstverständlich.“
Immer noch lächelnd, schüttelte ich sehr langsam den Kopf. Und dann schlief ich ein.







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