Mit dir, ohne dich - Teil 4

Autor: sunny
veröffentlicht am: 28.09.2011


So, jetzt nimmt's langsam Form an ;)



Vier
Überleben

Ich stöhnte genervt.
„Mir geht’s echt gut, OKAY! Darf ich jetzt vielleicht endlich aufstehen und…“
„Nein.“
„Aber mir GEHT ES GUT!“ Hatten die hier vielleicht alle was an den Ohren???
„Das haben Sie auch beim letzten Mal behauptet.“
„Das war ein Ausnahmefall. Und es ist jetzt schon VIER TAGE her!“
„Sie dürfen trotzdem noch nicht aufstehen, Fräulein Joelle.“ Fräulein Joelle. So nannten sie mich jetzt alle hier. Weil immer noch keiner wusste, wer ich wirklich war. Nicht mal ich. Nicht mal die Polizei.
Frustriert schlug ich mit meinen Fäusten auf die Bettdecke ein.
„Halten Sie ihre Hände ruhig, sonst…“
„Ja, ja, ich WEISS!“, fuhr ich dem Pfleger über den Mund. Fabio hieß er. Armer Kerl. Er konnte ja eigentlich auch nichts dafür.
Die Tür ging auf und Doktor Pentragon betrat den Raum.
„Morgen, Doktor Penny“, brummelte ich missmutig.
Doktor Pentragon grinste. „Guten Morgen, Joelle. Sind Sie eine brave Patientin?“
Offensichtlich war sie heute gut drauf. Oh, gut! Das konnte ich auch. „Na, aber sicher doch. Sind Sie eine nette Ärztin?“
Sie schmunzelte und schüttelte den Kopf. „Keine Chance, Joelle. Sie müssen schon noch eine Weile liegen bleiben.“
Mist. Ich knurrte.
Doktor Penny setzte sich neben mich auf einen Stuhl. „Danke, Fabio, den Rest übernehme ich“, sagte sie an den Pfleger gewandt.
Fabio nickte und grinste mir kurz schadenfroh zu, bevor er den Raum verließ. Blödmann. Ich streckte ihm die Zunge raus.
„Na, na, Joelle“, tadelte Doktor Pentragon.
Ich sah sie an und seufzte.
„Sie können sich also immer noch nicht erinnern?“, fragte sie sanft.
Ich schüttelte nur den Kopf. „Neuigkeiten von der Polizei?“
Jetzt schüttelte sie den Kopf.
„Wie geht es… dem Kind?“, fragte ich leise.
„Es lebt.“ Oh. Also sah es nicht besonders gut aus. Ich biss mir auf die Unterlippe.
Dass noch etwas im Busch war, merkte ich an der Art, wie Doktor Penny Luft holte. Ich sah sie an.
„Die Fahndung nach den beiden… Toten“ Sie scheute sichtlich davor zurück, das Wort zu benutzen; dabei erinnerte ich mich gar nicht an sie. Ich erinnerte mich an gar nichts. „Hat Ergebnisse gebracht.“
Also doch Neuigkeiten von der Polizei. Auch mir hatten sie Fotos von den beiden anderen Fahrzeuginsassen gezeigt; nichts. Ich erkannte sie nicht.
Auffordernd sah ich Doktor Pentragon an. „Und?“
„Die Angehörigen wurden befragt. Sie kannten weder Sie… noch das Kind.“
Ich war verwirrt. Mit wem hatte ich da bloß im Auto gesessen? Warum wollten mich die Angehörigen der beiden Toten nicht kennen? Wer war ich bloß???
„Wie kann das sein?“
Doktor Penny zuckte die Schultern. „Die Polizei ist noch dran.“
Ich seufzte. „Also stehen wir wieder am Nullpunkt.“
Sie zuckte die Achseln. „Wir haben immerhin eine Spur.“
Ich nickte. „Vielleicht komme ich aus dem Ausland“, grübelte ich.
Doktor Pennys Mundwinkel zuckten. „Unwahrscheinlich. Sie sprechen perfekt Deutsch. Muttersprachlich, da wette ich.“
Ich seufzte. „Ja, aber könnte doch sein…“
Die Tür ging auf. Jemand streckte zaghaft seinen Kopf herein. Jaden.
„Stör ich?“, fragte er vorsichtig. Er sah mich an. Gott, ich hatte wirklich noch nie solche Augen gesehen…
Warum war ich mir da bloß so sicher?
Wieso wusste ich solche unwichtigen Details, aber nicht, wie ich hieß?
„Nein, gar nicht. Komm rein.“
Schüchtern trat Jaden ein. „Guten Morgen, Doktor Pentragon.“
Sie stand auf. „Guten Morgen, Jaden.“ Mit einem Blick auf mich fügte sie hinzu: „Joelle, nehmen Sie ihre Medizin!“
Ich winkte ab. „Ja, ja.“
Sie ging. Jaden setzte sich auf den Stuhl, auf dem sie gesessen hatte. Er trug heute eine graue Pulloverjacke, die ihm unheimlich gut stand. In seinen schwarzen Haaren hingen unzählige weiße Schneeflocken. Richtig; es schneite ja. Es war Winter.
„Ähm… die sind für dich.“ Er streckte mir einen kleinen Blumenstrauß hin. Irgendwelche hübschen, weißen Blumen.
„Oh!“, machte ich überrascht, „Danke!“
„Von meiner Mutter“, erklärte er.
Ich sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.
Er seufzte. „Sie macht sich Sorgen. Um mich, hauptsächlich. Sie denkt, ich… könnte traumatisiert sein. Ich hab ihr gesagt, sie solle sich lieber erstmal Sorgen um dich machen. Da hat sie dir Blumen gekauft.“
„Sie hat ganz Recht.“
Irritiert sah er mich an.
„Mit den Sorgen, meine ich“, fuhr ich fort. „Du könntest wirklich traumatisiert sein. Ich meine… du hast immerhin Albträume.“ Ich hob eine Hand, als er widersprechen wollte. „Bestreite es nicht! Ich hab’s doch gesehen. Naja, und ich… ich kann mich nicht mal erinnern.“ Ich hob die Schultern. „Um mich muss man sich echt keine Sorgen machen.“
Ich sah seinen zweifelnden Gesichtsausdruck. „Hey, keine Erinnerungen heißt nichts, was ich vermissen könnte. Nichts, was mir wehtut. Okay?“ Missmutig zupfte ich an meiner Bettdecke. „Das einzige, was mich stört, ist, dass Doktor Penny mich immer noch nicht aufstehen lässt.“
Jaden grinste. „Sie hat ganz Recht.“
Ärgerlich schlug ich nach ihm. „Du, such lieber eine Vase für die Blumen, bevor ich ausfällig werde!“
Lachend stand Jaden auf und öffnete einen der Schränke im Zimmer.
„Gibt’s Neuigkeiten?“, fragte er, während er darin herum wühlte.
„Nein“, seufzte ich, „Also, ja. Schon. Nicht wirklich.“
Etwas rumpelte. Der Schrank stand um die Ecke, sodass ich nicht wirklich erkennen konnte, was Jaden tat; Besorgt verrenkte ich mir den Hals, um einen Blick darauf zu erhaschen.
„Jaden, alles okay?“, fragte ich vorsichtig.
Er winkte ab. „Ja, ja.“
Ich ließ mich zurück plumpsen. „Was hast du umgeworfen?“
„Nichts Wichtiges.“ Er rappelte irgendetwas herum. „Was ist nun mit deinen Neuigkeiten?“
Ich zupfte wieder an meiner Bettdecke herum. „Sie haben Angehörige von den beiden Toten gefunden.“
Jaden hörte auf zu rappeln und guckte um die Ecke, um einen Blick in mein Gesicht zu werfen. „Und?“
„Sie kennen mich nicht.“ Und bevor er fragen konnte, fügte ich hinzu: „Das Kind auch nicht.“
„Oh.“ Jaden sah etwas ratlos aus. Mit hängenden Armen stand er neben dem geöffneten Schrank. Ich blickte auf seine leeren Hände.
„Was hast du mit den Blumen gemacht?“
„Oh!“ Hastig wandte er sich um, gruschelte etwas im Schrank und warf die Schranktüren wieder zu. Mit den Blumen in einer Blumenvase in der Hand marschierte er an mir vorbei Richtung Badezimmer. Ich hörte, wie er das Wasser aufdrehte.
„Und was jetzt?“, rief er über den Lärm des einströmenden Wassers hinweg.
„Keine Ahnung!“, rief ich zurück. „Doktor Penny meinte, die Polizei wäre dran.“ Irgendwie hatte ich nicht so ein riesig großes Vertrauen in die Polizei.
Das Wasser wurde abgestellt. Grinsend kam Jaden aus dem Bad zurück.
„Doktor Penny?“, fragte er glucksend, während er die Vase ordentlich auf meinem Nachttisch platzierte. „Lässt sie sich das gefallen?“
Missmutig zuckte ich die Schultern. „Sie kann doch nicht allen Ernstes von mir verlangen, dass ich jedesmal diesen langen Namen ausspreche!“
Jaden sah mich mit einem wehmütigen Lächeln an. „Weißt du, Joelle…“, begann er leise, „Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich dich schon ewig kenne.“
Ich musterte ihn. „Und was ist daran schlimm?“
Er schüttelte den Kopf. „Nichts. Es ist nur… naja, ich wünschte… dass es tatsächlich so wäre. Dass ich dich wirklich schon ewig kennen würde.“
Nachdenklich betrachtete ich das Faltenmuster der Bettwäsche. „Dann hätte ich jetzt eine Vergangenheit.“
Jaden lächelte schief. Ich liebte sein schiefes Lächeln! „Und ich eine beste Freundin.“
Ich setzte mich auf. „Ich kann doch auch so deine beste Freundin sein!“
Er guckte schief. „Wirklich?“
„Was spricht dagegen?“
„Ich weiß nicht… ist das nicht irgendwie… ungewöhnlich?“
Ich seufzte und ließ mich zurück in die Kissen sinken. „Was ist bei uns schon gewöhnlich?“
Er grinste. „Da hast du auch wieder Recht.“
Eine Weile schwiegen wir beide.
„Jaden?“
„Hm?“
„Ich bin echt froh, dass ich dich hab.“
Er lächelte, irgendwie traurig. „Du wirst es nicht glauben: Ich bin auch echt froh, dass ich dich hab.“
Ich lächelte ebenfalls. „Und irgendwann wirst du mir auch erzählen, was dich so traurig macht.“
Überrascht sah er mich an. Ich schlug unter der Decke die Beine übereinander. „Hast du wieder Kreuzworträtsel mitgebracht?“
„Äh… ja.“ Zerstreut kramte er das Heft aus seiner Tasche.
Ich klatschte in die Hände. „Perfekt! Wenigstens etwas, das ich darf.“ Überraschenderweise war ich im Allgemeinwissen immer noch recht gut, auch wenn mir sämtliches Wissen über mich selbst abhanden gekommen war.
„Wie lange hast du Zeit?“, fragte ich Jaden.
Er seufzte. „Je länger, desto besser.“
Ich grinste. „Für den Satz könnte ich dich knutschen.“ Lachend winkte ich ab. „Keine Angst, ich tu’s natürlich nicht!“

„Das Kind hat einen Namen, weißt du?“ Jaden setzte seine Figur auf dem Spielbrett fünf Felder weiter.
„Wie heißt es?“ Ich ließ mir nicht anmerken, wie gespannt ich in Wirklichkeit war, würfelte und warf Jadens Spielfigur raus. Ich konnte Mensch-ärgere-dich-nicht spielen!
Jaden sammelte seine Spielfigur ein, stellte sie zurück ins Häuschen und würfelte. Er ließ sich Zeit mit der Antwort.
„Clara. Mit C.“
Ich wartete, bis Jaden seine drei Chancen ohne eine sechs vertan hatte und würfelte ebenfalls. Fünf. Ich lief vor. Noch drei Schritte bis zu meinem Haus. Jaden hatte gar keine Chance.
„Woher weißt du das?“
Jaden würfelte erneut. „Sie trug eines dieser goldenen Armbändchen mit dem eingravierten Namen.“ Beim zweiten Versuch hatte er Glück und konnte sein Männchen vor die Tür setzen. Er würfelte; eine drei. Jaden ging die drei Schritte und überließ mir den Würfel.
„Warst du bei ihr?“ Ich würfelte… eine vier! Yes! Perfekt! „Gewonnen!“
Jaden nickte gedankenverloren. Mit routinierten Bewegungen begann er, das Spiel zusammen zu packen. Ich zog die Beine an und schlang die Arme darum. „Wie geht es ihr?“
Er setzte den Deckel auf die Schachtel und zuckte unbestimmt die Schultern. „Sie sah so winzig aus“, beschrieb er leise.
„Wie alt, denkst du, ist sie?“
Wieder zuckte er die Schultern. „Ich kenn mich da nicht so aus. Die Ärzte sagen, etwa achtzehn Monate.“
„Eineinhalb Jahre?“, fragte ich und er nickte. „So klein noch…“
Ich fröstelte. „Clara.“ Ich sprach den Namen sehr langsam, sehr deutlich aus. „Clara.“ Ganz weich. „Der Name sagt mir überhaupt nichts.“
Ich schlang die Arme noch fester um mich. „Ist das nicht komisch?“, fragte ich, ohne ihn anzusehen. „Ich muss sie doch gekannt haben. Müsste mir der Name nicht irgendwas sagen?“
Jaden stellte den Spielkasten beiseite, beugte sich vor und umarmte mich spontan.
„Weißt du“, flüsterte er an meinem Ohr, „Ich glaube nicht, dass Gedächtnisverlust bedeutet, nichts zu haben, das man vermissen kann. Ich glaube, man vermisst es schon, man weiß eben nur nicht, was es ist.“
Ich schlang die Arme um ihn und hielt ihn ganz fest. Es war unsere erste Umarmung.
„Gedächtnisverlust?“, schluchzte ich. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich zu weinen angefangen hatte. Rasch machte ich mich von ihm los und wischte in meinem Gesicht herum. „Wie können sie sagen, ich hätte mein Gedächtnis verloren? Ich weiß doch noch so Vieles! Ich weiß, wie man spricht. Wie man isst. Steht. Geht. Ich weiß, wie Krankenschwestern aussehen und wie man das verfluchte Mensch-ärgere-dich-nicht spielt! Ich weiß, dass ich noch nie solche Augen gesehen habe wie deine. Ich weiß sogar, wie der deutsche Kaiser mit sieben Buchstaben hieß!“ Wütend sah ich ihn aus meinen tränenverschmierten Augen an. „Warum, zum Teufel, weiß ich dann nichts mehr über mein bisheriges Leben?“ Ich steigerte mich immer mehr hinein. „Warum weiß ich, dass ich Spritzen schon immer gehasst habe, aber nicht, wo ich wohne? Warum weiß ich, dass ich Albträume vom Stummsein hatte, aber nicht den Namen meiner Mutter? Warum weiß ich noch nicht mal meinen eigenen verdammten Namen?!“ Schluchzend verbarg ich mein Gesicht in meinen Händen. „Das ist so ungerecht!“
Jaden setzte sich neben mich aufs Bett und nahm mich wieder in den Arm, ganz sanft diesmal, ganz sacht. „Schschsch“, flüsterte er. „Ist gut, ist ja gut. Es ist ungerecht, da hast du Recht. Es ist verdammt ungerecht.“
Er sagte nichts weiter. Er hielt mich einfach nur und ließ zu, dass ich mich an seiner Schulter ausweinte.







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