Mit dir, ohne dich - Teil 5

Autor: sunny
veröffentlicht am: 29.09.2011


Mein Geheimnis, dein Geheimnis

„Hör zu, Joelle…“ Luke beugte sich vor und runzelte die Stirn auf diese bestimmte angestrengte Weise. Ich ahnte, dass irgendetwas kommen würde, das ich nicht hören wollte. „Ich weiß ja, dass du niemanden kennst außer uns…“
„Ich kenne Doktor Penny“, unterbrach ich ihn. „Und Fabio und Phillip und Hanni… Ach ja, und Herr Lange.“ Herr Lange, der Psychologe. Er war beinahe ausgeflippt, als ich ihm sagte, ich wolle zu Clara. Aber wir hatten doch gesagt, wir halten sie von ihr fern, bis wir wissen, ob die Kleine durchkommt!, hatte er Doktor Penny verzweifelt angeschrieen, die daraufhin nur kühl entgegnete: Schreien Sie nicht mich so an, ich hab’s ihr nicht gesagt! Offensichtlich hatte Herr Lange verhindern wollen, dass ich eine emotionale Bindung zu dem Kind aufbaute, solange noch nicht klar war, ob sie überleben würde. Er wollte wohl verhindern, dass ich nach dem Gedächtnis schon wieder etwas verlor.
„Das ist nicht der Punkt“, unterbrach Luke meine Erinnerungen. Ungeduldig wischte er sich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht und sah mich an. „Der Punkt ist, dass… naja, dass Jaden… wirklich sehr viel Zeit hier verbringt.“
Das stimmte.
„Ich freue mich, wenn er da ist“, erklärte ich ehrlich.
„Ich... ich weiß!“ Hilflos fuchtelte Luke mit seinen feingliedrigen Händen herum. Eigentlich hieß er Lukas, aber niemand nannte ihn so. Ich betrachtete sein angespanntes Gesicht. Er sah wirklich verteufelt gut aus. Der absolute Mädchenschwarm. Noch eher als Jaden. „Es ist nur so, dass… okay, ich fang einfach mal ganz von vorne an.“ Er schwieg kurz und sammelte sich offensichtlich, bevor er tief Luft holte und begann: „Du weißt, dass Jadens Eltern geschieden sind?“
Das hatte Jaden mal erwähnt. „Jaaaa…?“ In meinem Kopf ratterte es. Ich versuchte, dahinter zu kommen, worauf er hinauswollte.
„Naja, Jadens Vater lebt in England.“
„Aha.“
„Er ist Engländer.“
„Aha…“
„Und Jaden ist bei ihm aufgewachsen.“
„Okay…“
„Er ging dort auf ein Internat, das ich auch ein Jahr lang besuchte…“
„Kennt ihr euch daher?“
„Ja. Und ich lernte da auch noch andere Leute kennen.“
Ich blinzelte ihn an. „Das war anzunehmen gewesen, oder?“
Er winkte ab. „Nein! Ich meine, ja, aber… Naja, ich lernte auch noch Kay und Mike kennen.“
Ich überlegte. „Luke, ich weiß immer noch nicht so ganz, worauf du hinaus willst“, brachte ich ihm sanft bei. Reden war eindeutig nicht Lukes Stärke.
Luke seufzte. „Das Ding ist: Jaden hat mit Kay und Mike und mir eine Band, und wenn wir nicht bald wieder nach England fliegen, um unsere Konzerte wahrzunehmen, können wir den neuen Plattenvertrag haken!“
Ich schwieg kurz überrascht. „Moment“, bat ich, „Ihr habt eine Band?“
„Ja, das habe ich dir gerade erzählt.“
„Cool! Warum hat Jaden mir nichts davon erzählt? Wie heißt ihr? Man, das ist ja cool!“
„Antarctica.“
„Was?“
„Antarctica. So heißen wir.“
„Oh. Wer ist der Sänger?“
Luke zog eine Augenbraue hoch. „Ich.“
Das hätte ich mir eigentlich denken können. Ich grinste. „Und Jaden?“
„Der spielt Geige.“
Mir blieb vor Überraschung der Mund offen stehen. „Jaden spielt Geige?!“
„Und wie. Auch noch andere Instrumente, aber hauptsächlich Geige.“
Ich war verwirrt. „Warum hat er mir das nicht erzählt?“
„Wahrscheinlich wollte er dich da raushalten.“
Ich sah Luke an. „Wieso?“
Er räusperte sich. „Das ist es ja, worüber ich mit dir sprechen wollte. Also, die Band hatte drüben ziemlich viel Erfolg…“
Mich konnte nichts mehr überraschen.
„…Und dann gab es da diese Geschichte mit dem Mädchen.“
Moment. „Welches Mädchen?“
„Lynn.“ Luke sah mich an. „Sie hat Jaden ziemlich übel wehgetan, und daher waren wir auch bereit, nach unserer Deutschlandtournee noch ein paar freie Tage hier dranzuhängen, damit Jaden seine Mum… seine Mutter besuchen konnte.“
„Ihr wart auf Deutschlandtournee?“ Ich konnte nicht fassen, was Jaden mir alles verschwiegen hatte. Gut, ich kannte ihn erst ein paar Tage, aber er war doch… mein bester Freund… Deutschlandtournee! Nicht zu fassen!
„Naja, und Jaden war grade dabei, sich zu erholen“, fuhr Luke fort, als hätte er mich nicht gehört, „als wir den Unfall sahen.“ Er sah mich an und intonierte unnötigerweise: „Deinen Unfall.“
Ich nickte ungeduldig. „Schon klar.“ Ich sprach nicht gern über den Unfall. Ganz abgesehen davon, dass er ziemlich schmerzhaft gewesen war, verband ich mit ihm irgendwie… unheimliche Gefühle. Geradeso, als sei der Unfall ein Monster, vor dem ich mich verstecken musste.
„Und dann lernte Jaden dich kennen. Durch den…“
„…Unfall, ich weiß.“ Wir kamen der Sache schon näher.
„Na, und jetzt will er jedenfalls nicht mehr nach Hause.“
Ich richtete mich kerzengerade auf und starrte Luke an. „Was?“
Luke zuckte die Schultern. „Zumindest nicht jetzt im Moment.“
Ich dachte nach, aber mir fiel kein vernünftiger Grund dafür ein. „Warum?“
Er sah mich beinahe mitleidig an. „Na, deinetwegen! Er sagt, du brauchst ihn.“
So bescheuert es auch war – da hatte Jaden wahrscheinlich sogar recht. Aber…
„Das ist doch kein Grund, seine Konzerte abzusagen!“
Luke knetete seine Hände. „Naja, wir denken uns… vielleicht ist es nicht nur so, dass du ihn brauchst… vielleicht braucht er dich auch.“
Oh. Das war ja mal was Neues. „Denkst du?“
Luke nickte. „Wir alle denken das.“
Moment. „Wer ist ‚wir alle‘?“
„Kay, Mike, Josh, Nick und ich“, zählte Luke auf.
Du liebe Güte, das wurden ja immer mehr. Wie viele Leute wussten denn von mir? Naja, ich meine… von mir und Jaden.
Von mir und Jaden. Wie merkwürdig das klang. Als wären wir heimlich ein Paar. Dabei waren wir alles andere als das, und heimlich war an uns auch nichts.
Gut, vielleicht ein bisschen. Ein bisschen auf seiner und ein bisschen auf meiner Seite. Okay, ab heute war es auf meiner Seite vermutlich ein bisschen mehr als bei ihm. Aber ich tat es ja nicht absichtlich!
„Joelle, bist du noch da?“ Luke befreite mich aus meinem verworrenen Gedankensalat.
„Ja, klar. Ich hab nur…“ Ich zögerte, „Nachgedacht.“
Luke seufzte und kam noch einmal zum ursprünglichen Thema zurück. „Also, die Sache ist die: Wir müssen nach England zurück, und zwar möglichst bald. Auch Jaden.“
Ich wollte nicht, dass Jaden ging. Zumindest wollte ich nicht, dass er ohne mich ging. Denn wenn er ging, wer spielte dann mit mir Mensch-ärgere-dich-nicht außerhalb sämtlicher Besuchszeiten? Wer brachte mir Kreuzworträtsel mit? Wer besorgte mir heimlich Informationen über Clara? Er konnte nicht gehen. Nicht jetzt schon.
„Aber habt ihr nicht…“ Ich dachte fieberhaft nach, „…einen…“ Wie hieß das noch gleich? Ah! „…Manager?“
Luke nickte. „Josh, ja.“
Ah, Josh war also der Manager. Blieb nur noch der geheimnisvolle Nick. „Naja, kann der da nicht irgendwas… managen?“ Blöde Wortwahl, ich weiß. Aber etwas Besseres fiel mir in dem Moment nicht ein.
Luke schnaubte. „Das hat er ja versucht. Nur ist das Problem, dass man nicht eben mal einfach ohne Grund ausverkaufte Konzerte absagt!“
Da hatte er vermutlich recht. Was aber nichts daran änderte, dass ich es nicht hören wollte. Eigentlich wollte ich viel lieber hören „Oh, na klar! Warum haben wir da nur nicht gleich dran gedacht? Warte, ich rufe eben Josh an, dann managet er das und Jaden kann für immer hier bleiben…“ Naja, für immer war wahrscheinlich zu viel verlangt. Aber wenigstens noch so lange, bis ich wieder fit war! Und bis ich wusste… wer ich war.
Vermutlich war es sehr selbstsüchtig von mir, so zu denken. Ich sollte mich nicht an Jaden klammern. Was wollte ich überhaupt von ihm? Eigentlich kannte ich ihn gar nicht, wie mir heute wieder einmal klar geworden war. Er war nur zufällig zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen. Ich sollte ihn nicht festhalten. Ich sollte ihn gehen lassen.
Ich seufzte sehr tief. „Okay, und was genau willst du jetzt von mir?“
Luke knetete schon wieder nervös seine Hände. „Wir haben gedacht, du könntest… mit ihm reden. Ihm sagen, dass er gehen soll… dass du ihn nicht brauchst.“ Hoffnungsvoll blickte er auf, aber mir war unwohl bei dem Gedanken.
„Ja und… nein“, schränkte ich ein.
Luke sah mich fragend an.
„Ich kann mit ihm reden, ja“, erläuterte ich, „Ich kann ihm sagen, dass er gehen soll. Aber ich kann ihm nicht sagen, dass ich ihn nicht brauche.“
Ich sah ihn nicht an, als ich das sagte, und nach einer kleinen Weile des Schweigens stand Luke auf und ging zur Tür.
„Danke, Joelle“, sagte er, und es klang ehrlich.
Erst eine Weile, nachdem er wieder weg war, wurde mir bewusst, was er mir da erzählt hatte.
Lynn. Das war der Grund für Jadens Traurigkeit.
Was sie wohl getan hatte, das ihn so verletzt hatte?
Was sie wohl für ein Mensch war…?
Ich wusste es nicht. Im Grunde war es auch vollkommen egal. Ich konnte sie jetzt schon nicht leiden, denn sie hatte Jaden wehgetan.
Jaden war wirklich mein bester Freund. Eigentlich auch mein einziger, aber diesen Gedanken schob ich mit aller Macht weit von mir fort. Ich wollte nicht ins Grübeln geraten. Ich wollte nicht darüber nachdenken, ob ich wohl vor dem Unfall Freunde gehabt hatte und wo sie sich jetzt befanden. Warum sie sich nicht meldeten. Was mit meiner Familie war – denn ich musste schließlich eine Familie gehabt haben, irgendwann mal, zumindest. Was war mit ihr geschehen? Warum meldete sie sich nicht? Warum schien niemand mich zu kennen, warum fühlte es sich so an… als sei ich ganz allein auf der Welt?
Schluss jetzt. Ich brauchte Ablenkung. Wo war nur Jaden? Heute war er noch gar nicht hier gewesen. Ich bereute schon, Luke nicht nach ihm gefragt zu haben.
Natürlich wollte ich ihn nicht einengen. Und natürlich war er mir keine Rechenschaft schuldig. Schließlich hatte er ja auch noch ein eigenes Leben. Es war nur… irgendwie ungewöhnlich, dass er sich so lange nicht blicken ließ. Auf jeden Fall war es nicht gut für mich.
Ich wollte gar nicht daran denken, wie es sein würde, wenn Jaden wieder nach England flog. So ganz allein hier…
Halt. Stopp.
Ich musste jetzt irgendetwas dagegen tun. Jetzt. Sofort.
Also… was konnte ich tun?







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