Wenn die Gedanken nicht schweigen ... Teil 2

Autor: key
veröffentlicht am: 04.10.2008




Schon wieder diese Kopfschmerzen.
Immer wieder wurde sie in letzter Zeit davon heimgesucht. Und wie so oft in den letzten Tagen dachte sie an ihre Tochter. Sie hatte ihr unglaublich viel zugemutet. Und immer wieder fragte sie sich selbst - nein, machte sich Vorwürfe - ob es nicht vielleicht zu viel gewesen war. Hoffentlich tat ihr dieser Matthew gut. Hoffentlich tat er ihr nicht weh. Hoffentlich erkannte er, dass hinter der offenen, witzigen Fassade ein zartes Pflänzchen steckte, das nach einem langen Winter, einer Zeit voller Kälte, zum ersten mal wieder den Kopf aus der Erde hervorstreckte und dem Sonnenlicht entgegen blinzelte. Und hoffentlich beschützte er sie.Sie nahm keine Kopfschmerz-Tablette. Wozu sich auch mit unnötiger Chemie voll pumpen. Sie wusste, dass es doch nichts helfen würde. Sie wusste ja, woher diese Kopfschmerzen kamen. Seit dem Anruf der Kommissarin, die damals dafür zuständig gewesen war, hatte sie kein Auge mehr zugetan. Jede Nacht hatte die Angst sie wach gehalten. Hatte sich über sie gelegt, wie eine zweite Haut oder war über ihr durch den Tag gewabert, wie Nebel, deutlich sichtbar, aber nicht greifbar, nicht zu fassen und das Schlimmste: nicht wegzusperren.

***

Er brauchte keinen Spiegel, um zu wissen, dass er lächelte. Er fühlte es, auch wenn er längst nicht mehr fühlte, dass dies sein eigener Körper war. Er hatte so lange auf diesen Moment gewartet. Über fünf Jahre. Über fünf Jahre, in denen er sich nur als halber Mensch gefühlt hatte. Über fünf Jahre, die in seinen Augen vergeudete Zeit waren. Über fünf Jahre, nutzlos, überflüssig und trotzdem quälend langsam und zäh wie Kaugummi waren sie dahin geflossen, jede Sekunde eine Ewigkeit, das ganze Warten eine Folter. Und er konnte in ihr lesen, wie in einem offenen Buch. So, wie es immer gewesen war. Er sah das Entsetzen in ihren hübschen, grünen Augen, ihre Angst war greifbar für ihn, er hörte förmlich, wie sie dachte, dass das nicht wahr sein konnte, wie sie sich schutzlos fühlte, ausgeliefert, er vermeinte, ihr Herz schlagen zu hören, obwohl er wusste, dass das absolut unmöglich war, auf diese Entfernung. Dennoch wusste er, dass es da war. Ihr Herz. Irgendwo unter dem schwarzen Rollkragenpullover, der eng anliegend ihre schmale Taille betonte, und auf dem ihre blonden Haare aussahen wie Sonnenstrahlen, irgendwo darunter schlug ihr Herz.
'Und es schlägt für mich!', dachte er bei sich.
Dabei schlug es nur wegen ihm.
Doch selbst wenn er das gewusst hätte, hätte er es nicht vermocht, den Unterschied zu begreifen.

***

'Hallo', presste ich mit der wenigen Luft, die in meinen Lungen tatsächlich noch ankam, mühsam und betont locker hervor. Was sollte ich sonst tun? Wäre Matthew nicht hier gewesen, hätte ich IHN vermutlich angeschrieen, was er wollte, ob es ihm noch nicht reichte, oder aber ich wäre geflohen, aus dem Fenster durch den Park zu meinem Platz am See, den nur ich kannte und niemand sonst. Wäre so schnell gelaufen, wie meine Beine mich hätten tragen können. Und ER hätte keine Chance gehabt, mir zu folgen, denn ich kannte jeden Baum, jeden Strauch und er war hier ein völlig Fremder. Doch es brachte nichts, darüber nachzudenken, was wäre, wenn Matthew nicht hier wäre. Denn er war hier. Doch noch konnte ich mich nicht entscheiden, ob ich das erleichternd empfand oder hindernd.
'Wollen wir dann mal anfangen?', fragte ich ohne jeglichen Elan.
Woher sollte auch ein Elan kommen? Von meinem Magen, der das Bedürfnis hatte, seinen Inhalt wieder der Öffentlichkeit in halb verdauter Form preiszugeben, loszuwerden, auf demselben Weg, auf dem er auch hineingekommen war? Von meinem Gehirn, dass wie gelähmt zu keinem vernünftigen, logischen Gedanken mehr fähig war? Von meinem Herzen, das sich nicht entscheiden konnte, ob es einfach stehen bleiben und mir den Dienst versagen sollte, oder sich mit Arbeit und übermäßig schnellem Pumpen abzuregen, oder gar einen Infarkt zu kriegen? Der Stillstand und der Infarkt hätten mir beide die Qualen erspart.Ich spürte Matthews brennenden Blick in meinem Nacken und sie durchbohrten mich wie Pfeile. Deswegen vermied ich es bewusst, ihn anzusehen. Ich wusste, dass es das nicht besser machte. Nicht für ihn und nicht für mich. Für ihn nicht, weil er sich Sorgen machte. Und für mich nicht, weil er dadurch umso mehr merkte, dass etwas nicht stimmte, dass ich ihn umso mehr anlügen musste, denn ich konnte ihm die Wahrheit nicht sagen, oder wie sollte ich ihm erklären, dass der Mensch, der eben zur Tür hereingekommen war und sein Vater der Grund dafür waren, dass … Halt, gar nicht erst weiter denken!! Das würde nur unnötig weh tun und Wut wecken, die ich mir nicht erlauben konnte, weil ich zu schwach dafür war.
'Okay!', antwortete Dylan und ließ sich mir gegenüber auf dem Stuhl nieder.
Konzentrier dich auf das Spiel!, befahl mir eine innere Stimme.
Ja wie denn?, antwortete eine andere.
Ich kannte das schon. Ich redete oft mit mir selbst. Diese inneren Gespräche halfen mir, meine Gedanken zu ordnen und meine Gefühle, Für und Wider von etwas abzuwiegen, sie waren die Logik in mir.
Du musst!! Anders kannst du diesen Nachmittag nicht durchstehen!, konterte die erste Stimme. Und ließ keinerlei Widerrede zu, denn ich wusste, dass die Stimme recht hatte. Anders würde ich das hier vermutlich nicht überleben.
'Als dann, mein Name ist Dylan …', fuhr er fort und streckte mir mit einem selbstgefälligen Lächeln die Hand hin.
Er konnte doch nicht ernsthaft von mir erwarten, dass ich …

***

Das Telefon klingelte.
Mit einem Mal spannten sich alle Muskeln in ihrem Körper an und sie war noch vor dem zweiten Läuten am Telefon. 'Ja, bitte?'
'Sandra Steiner hier! Frau Berger, es gibt Neuigkeiten …', hörte sie die Stimme mit einem Unterton, der nichts Gutes ahnen ließ. Irgendwie fand sie diese Frau sympathisch. Sie war nicht wie diese Kommissare in all den Krimis, die sie gelesen hatte. Nicht so stur, eigensinnig und eigenbrötlerisch. Sie arbeitete gut mit Kollegen zusammen, konnte Aufgaben auch mal abgeben ohne dabei das Gefühl zu haben, sie würde dabei die Kontrolle verlieren. Zumindest schätzte Alexandra Berger diese Frau so ein. Das einzige, was Frau Steiner mit ihrer Vorstellung eines typischen Kommissars aus den Filmen und Büchern gemein hatte, war, dass sie manchmal nicht nach Fakten und Logik zu handeln schien, sondern nach Instinkt. Nach Intuition. Aber hieß es nicht immer, weibliche Intuition sei gut? Vielleicht war das so … Immerhin hatte ihr diese Intuition schon einmal das Leben gerettet.
'Es stimmt also?', fragte sie mit kleiner Stimme.
'Ja!' Keine Beschönigungen, kein 'Alles-wird-gut!'-Gequassel, keine Vorspiegelung falscher Tatsachen, kein Irreführen, einfach nur die nackte Wahrheit. Vermutlich überraschte das Alexandra mehr, als die eigentliche Antwort.
Doch als dieses eine Wort, diese zwei Buchstaben endlich ihren Weg bis zum Gehirn gemeistert hatten, fühlte sie sich in eine andre Welt abdriften, in längst vergangene Tage, es war, als würde sie ihren Körper von außen betrachten. Sie sah sich also dabei zu, wie sie mit vor Schock weit aufgerissenen Augen den Telefonhörer anstarrte, den sie so weit sie ihren Arm strecken konnte, von sich entfernt hielt, als wäre er eine giftige Schlange, die nur auf die Gelegenheit wartete, zuzupacken.

***

'Fein', dachte er sich. 'Du willst so tun, als würden wir uns nicht kennen. Ich werde auf dein Spielchen eingehen, aber wenn du das Spiel spielen willst, dann richtig und nach meinen Regeln. Aber vergiss dabei nicht, was der Einsatz ist, denn er ist hoch …'

***

Ich konnte mir einfach nicht erklären, was plötzlich in Jolie gefahren war.Ich hatte diesen Ausdruck in ihrem Gesicht noch nie gesehen. Und das, obwohl ich immer geglaubt hatte, ihre Mimik sei mir mit all ihren Facetten und Nuancen bekannt. Waren es Angst und Entsetzen, die sich da auf ihrem Gesicht spiegelten? Aber weswegen? Oder waren es doch Freude und Überraschung? Ich hatte keine Ahnung. Ich konnte es wirklich nicht sagen. Und das erschreckte mich!!
Doch ich merkte, dass etwas hier ganz und gar nicht stimmte. Die beiden kannten sich. So viel zumindest merkte ich. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Und etwas, begann in meinem Inneren an mir zu Nagen. Selbstzweifel und Eifersucht. Ich sträubte mich gegen diese beiden mir bis dato unbekannten Eindringlinge in meine Gefühlswelt. Doch ich konnte nicht vermeiden, dass sie hereinspazierten wie alte Bekannte und es sich in meinem Herzen gemütlich machten. Was, wenn er ein Ex-Freund von ihr ist? Ihre erste große Liebe? Sie wurden getrennt ohne einander auf Wiedersehen sagen zu können, weil seine Eltern wegzogen? Und er war so sensibel, dass er merkte, wer ich war und sagte aus Rücksicht nichts?
Stopp, das sind nur Hirngespinste!!!
Red dir keinen solchen Blödsinn ein!!!
Jolie war dir immer treu und das weißt du auch!!!
Klar, das konnte ich mir so oft denken und sagen, wie ich wollte, doch mein Herz ignorierte das Ganze einfach und es war, als würde es stumm und anklagend auf diese Erinnerung verweisen, wie leicht sie Aaron, um den sie zwei Jahre lang hatte kämpfen müssen, gegen mich eingetauscht hatte. Sicher, ganz so leicht war es nicht gewesen, es hatte einige Komplikationen gegeben, aber letzten Endes hatte sie sich für mich entschieden. Für mich, den sie grade mal vier Tage so richtig kannte. Wer konnte mir garantieren, dass sie sich jetzt nicht für Dylan entscheiden würde? Dass es sich nicht alles wiederholen würde? Nur, dass mir diesmal die Rolle von Aaron zuteil wurde?

***

Ich sah die Furchen auf Matthews Stirn.
Das bedeutete, dass er angestrengt nachdachte. Was ich jetzt auch tun sollte. Versuch einfach das, was um dich herum passiert, auszublenden, wie immer, wenn du spielst. Lass es sein, wie immer, dann behältst du auch die Kontrolle.
Ich biss innerlich die Zähne zusammen. Das hier war aber kein Spiel mehr. Das hier war Realität. Echtes Leben. Da konnte man die handelnden Personen nach der Partie nicht einfach wieder in der Grundstellung aufstellen und von vorne beginnen. Hier galten andere Regeln. War ein Zug erst mal gemacht, konnte er nicht wieder zurückgenommen werden. Dinge oder sollte ich lieber sagen Personen, die auf der Strecke blieben, waren für immer und unwiederbringlich verloren. Ich selbst sollte das doch am besten wissen.

Zögernd reichte ich Dylan meine verkrampfte Hand und ließ es geschehen, dass er sie schüttelte. Bei der Berührung durch ihn spannten sich mit einem Male alle Muskeln meines Körpers an, so als würden sie ganz und gar auf Abwehr gehen. Alles in mir sträubte sich gegen diese Berührung, doch ich musste den Schein wahren. Musste die Fassade nach außen hin weiter tragen.
'Hi, ich bin Jolie …' So schnell wie möglich entzog ich ihm meine Hand wieder.Sicher, diese Berührung hatte nur wenige Sekunden gedauert und dennoch blitzten dabei Bilder an längst vergessen geglaubte - oder sollte ich besser sagen, gehoffte - Erinnerungen in mir auf. Grelle Lichter. Stimmengewirr. Die kalte Nachtluft.
Ich blickte nach oben. Böser Fehler. Denn ich sah mitten in seine Augen. Sie waren noch immer so kalt, wie eh und je. Fast so dunkel wie ein Opal. Auch diese nur kurze Berührung unsrer Blicke, förderte eine weitere Welle Erinnerungen zu Tage, ja stieß die Tür zur Vergangenheit einen kleinen Spalt weit auf, so dass weitere Bilder entweichen konnten. Bilder, von denen es Jahre gedauert hatte, sie hinter die Tür zu zwingen und verblassen zu lassen. Bilder, von denen es Jahre gedauert hatte, dass die Träume davon aufhörten. Bilder von dem vielen Blut. Dem verdrehten Körper. Und diesen Augen, kalt und starr, in einem Gesicht, das etwas fünf Jahre jünger gewesen war.







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