Wenn die Gedanken nicht schweigen ... Teil 6

Autor: key
veröffentlicht am: 13.04.2009




'Jolie, kommst du bitte frühstücken?'
Es überraschte sie nicht, dass sie keine Antwort bekam. Vermutlich war Jolie noch immer sauer wegen der erneuten Umsiedlung. Warum konnte sie nicht erkennen, dass es die einzige Möglichkeit war? Warum machte sie es noch schwerer? Merkte sie nicht, dass es auch ihr als Mutter nicht völlig egal war, dass ihre Tochter furchtbar litt?
Sie dachte an John.
Zum ersten Mal seit dem tragischen 'Unfall'. All die Jahre hatte sie die Gedanken an ihn vermieden. Und auch jetzt, fünf Jahre später, kamen ihr noch immer die Tränen, wenn sie in ihren Gedanken seine grünen Augen - deren hundertprozentiges Ebenbild Jolie's Augen waren - vor sich sah. Oder sich an die Art erinnerte, wie er sie immer ganz liebevoll angelächelt hatte. Nein, sie würde diesen Mann nie vergessen. Er war ihre große Liebe gewesen und es würde nie jemanden geben, der nur im Entferntesten seinen Platz einnehmen können würde. Trotz seines Berufs, seinen Forschungen, den ständigen Geschäftsessen und den wichtigen Persönlichkeiten, die ihm Tag ein Tag aus seine Aufwartungen machten, hatte er immer Zeit für seine Familie gehabt.
Ob Jolie wohl das Gleiche für ihren Matthew fühlte? In diesem Moment fragte sich Alexandra, ob ihre Tochter nicht zu jung war, als dass man überhaupt von Liebe reden könnte ...

Der Gedanke, dass sie selbst nicht viel älter gewesen war, als sie John kennen und lieben gelernt hatte, kam ihr erst gar nicht.
'Jolie, es ist mir ernst, komm bitte runter!'
Sie wollte nicht an John denken. Es brachte ja doch nichts. Tot war tot und würde auch durch ihre Tränen nicht lebendig. Viel mehr sollte sie jetzt dafür sorgen, dass das Einzige, was von ihm noch auf dieser Welt übergeblieben war, der einzige Mensch, in dessen Adern sein Blut noch floss, nicht einen Hungertod aufgrund von Liebeskummer sterben würde.
'Jetzt reicht es aber, junge Dame ...'
Alexandra knipste das Licht im Zimmer ihrer Tochter an - und erstarrte.
Bei den drei rostroten, winzigen Flecken, die am Abend zuvor noch nicht da gewesen waren, handelte es sich eindeutig um …

***

'Blut!', stellte der Kommissar der Spurensicherung nach einem einzigen Blick fest.Sandra Steiner war wie vom Donner gerührt. Das konnte doch nicht sein. War es die Möglichkeit? Wie sollte er sie so schnell wieder gefunden haben? Das konnte nur eines bedeuten: I
Irgendjemand in ihrem Team war korrupt!
Und sie würde dieses Schwein finden und ihn eigenhändig ungespitzt in den Boden rammen. Wer konnte die Zukunft, das Leben eines solchen jungen Mädchens für Geld, für Papier, für Metall verkaufen? Wer war zu so etwas fähig?
Da kam ihr ein erschreckender Gedanke: Wie viele besitzen heutzutage noch die Tugend, so einem Angebot zu widerstehen?

***

Er war stolz auf sich.
Sicher war es sein Team gewesen, das sie ausfindig gemacht hatte. Das Geld, seines Vaters, mit dem er das Team bezahlt hatte. Die Geldgier des Polizisten, das ihm so leichtes Spiel ermöglicht hatte. Alles in allem eben ein Zusammenspiel glücklicher Faktoren, aber:Er selbst war es gewesen, der sie zurück geholt hatte. Er allein. Er hatte keine Unterstützung von einem seiner bis auf den letzten Körperfaser durchtrainierten Schränke gebraucht. Er allein war unbemerkt in das Haus eingedrungen und hatte sich zurückerobert, was ihm rechtmäßig zustand. Er erinnerte sich vage an die deutschen Märchen, das er vorgelesen bekommen hatte. In den meisten ging es darum, dass ein Prinz seine Prinzessin rettet und erobert. Und genau wie einer dieser Prinzen fühlte er sich jetzt.
Er blickte auf ihr Gesicht.
Schön war sie.
Wie ein schlafender Engel.
Sein schlafender Engel.

***

Langsam schlug ich die Augen auf. Wo war ich? Was war geschehen? Und warum schmerzte mein Hals so sehr? Warum fühlte ich mich so benommen?
Ich hörte Motorenlärm, blinzelte, machte etwas aus, was an den Innenraum eines Flugzeuges erinnerte.
'Sie wacht auf! Bringt ihr etwas Wasser, es soll ihr an nichts fehlen!'
Als ich diese Stimme hörte kehrte die gesamte Erinnerung mit einem einzigen Schlag zurück. Und dieser Schlag war so heftig, dass es mich beinahe umhaute. Langsam sickerte die Erkenntnis in mein Bewusstsein, dass ich Angst haben sollte.
Doch ich fühlte keine Furcht. In mir drin war nur nach wie vor eine unbeschreibliche Leere und ein Gefühl von Verlust und Sehnsucht. Sehnsucht nach Matthews liebevollem Lächeln, nach seinen starken Armen, nach ihm. Schon komisch, dass man auch in Situationen, die ausweglos und gefährlich sind, nicht aufhören kann, an DEN geliebten Menschen zu denken.Doch ich musste mich der Realität ja doch stellen. Es brachte mich keinen Schritt weiter mich in meiner Traumwelt zu verkriechen und den Tagen mit Matthew nachzuhängen. Denn ich musste etwas tun, sonst würde ich noch verrückt werden.
Ich öffnete also endgültig die Augen, durch deren Wimpern ich vorhin nur hindurch geblinzelt hatte. Da sah ich sein Gesicht ganz nahe vor meinem, sah, wie seine Hand sich näherte. Ich wich vor ihr zurück, als wäre sie eine giftige Schlange. Ich wollte nicht von diesem Dreckskerl angerührt werden.
'Was ist los, meine Schöne? Hast du nicht gut geschlafen? Jetzt wird alles gut!'
Ich spürte, wie mein Atem schneller wurde und die Panik in meiner Brust aufstieg. Immer weiter wich ich wie in Zeitlupe mit dem Kopf zurück. Doch irgendwann kam die Wand. Ängstlich presste ich mich wie ein in die Enge getriebenes Tier dagegen, atmete schneller und flacher, doch es half nichts: Seine Finger strichen zärtlich aber mit dem eindeutigen Hintergrund 'du gehörst zu mir' über meine Wangen.
Ich drehte den Kopf weg und schloss die Augen.
Hörte sein dreckiges Lachen.
Es vermischte sich mit dem Pochen des Blutes in meinen Ohren und meinem lauten Herzklopfen.
Wie ich diesen Mistkerl verachtete. Wie sehr ich ihn hasste für all das, was er mir angetan hatte. Ich konnte noch gar nicht realisieren, wie schlimm die Lage wirklich war, denn ich war blind vor Wut. Wut und Hass, die langsam und schäumend - feuerrot - in meiner Brust hoch kochten.
'Warum so schüchtern, meine Schöne? Sieh mich nur an! Deinen künftigen Herrn und Meister, denn als dein Ehemann …'
Während er das sagte, umfasste er mein Kinn und zwang mich mit roher Gewalt, ihn anzusehen, flösste mir ein bisschen Wasser ein.
Immer weiter und höher brandete die Wut in mir hoch, erreichte den Höhepunkt bei seinem letzten Wort.
'Niemals, eher sterbe ich, bevor ich dich erbärmlichen Wurm heirate!'
Ich spukte ihm ins Gesicht - und wusste im selben Moment, dass ich das noch bereuen würde …

***

Sein Herz begann viel schneller zu schlagen, als seine Finger die weiche Haut ihrer Wange berührte.
Endlich! Nach fünf Jahren!
Sie drehte das Gesicht weg. Es machte ihm nichts aus. Er fand ihren Widerstand erregend, genauso, ihre Angst zu spüren. Denn ihre Furcht war eine weitere Demonstration für seine Macht. Macht über alles und jeden - auch über sie. Er konnte sie haben, wann immer er wollte. Doch noch zwang er sich zur Zurückhaltung. Nicht vor der Hochzeit. Deswegen musste es genügen, noch ein bisschen mit ihr zu spielen.
Langsam umfasste er mit Daumen und Zeigefinger ihr Kinn, spürte ihr Sträuben, fühlte ihren panischen Atem, zwang sie nichtsdestotrotz ihn anzusehen und von dem Wasser ein paar Schluck in den Mund zu nehmen.
'Warum so schüchtern, meine Schöne? Sieh mich nur an! Deinen künftigen Herrn und Meister, denn als dein Ehemann …'
Wie lebendig er sich fühlte, wenn er seine eigene Stimme das sagen hörte, was solange sein Traum gewesen war und nun Wirklichkeit werden würde.
In diesem Moment fühlte er, wie er etwas feuchtes ins Gesicht bekam, erkannte, dass sie ihn angespukt hatte.
Er holte aus und schlug mit aller Kraft zu.
Und seine vorherige Erregung wuchs nur noch, als er die ersten Tropfen Blut aus ihrer Nase laufen sah und die großen hasserfüllten Augen taten das ihre noch dazu.
'Du wirst es ganz gewiss noch lernen!'
Oh ja, das würde sie ... und er selbst würde ihr Lehrmeister sein.

***

Ich blickte hinunter auf das trübe Wasser. Seufzte schwer. Nachdem ich aus der Polizeiwache gestürmt war, hatte ich mich einfach von meinen Füßen tragen lassen, hatte nicht darauf geachtet, wohin. Und plötzlich stand ich an der Brücke im Wald, an der nie jemand vorbeikam.
Stand auf dem Geländer und blickte hinab.
Konnte nicht sagen, was ich fühlte, konnte es nicht mit Worten ausdrücken.
Am liebsten hätte ich geschrieen. Meinen ganzen in der Brust angestauten Schmerz hinaus in die Welt geplärrt, sodass jeder es hören konnte. Meine Finger verkrampften sich um das eiskalte Metall.
Hatte ich ihr nicht noch neulich ein Gedicht geschickt, dass ich im Internet gefunden hatte?Was nützen Worte,
wenn sie vergessen werden!
Was nützen Hoffnungen,
wenn sie wie eine Seifenblase zerplatzen!
Was nützen Träume,
wenn sie nicht war werden!
Was nütz die Liebe,
wenn sie nicht erwidert wird!
Wenn sie wie eine Blume verwelkt, und ihren Glanz verliert!
Sag mir:
Was nütz mir das ganze Leben,
wenn du nicht bei mir bist?
Ja, was nütze mir mein Leben, wenn sie nicht da war?
Und mit jeder Sekunde, die ich mit geschlossenen Augen dort stand und an sie dachte, mit jedem Atemzug, der meine Lungen füllte, es aber dennoch nicht schaffte, das Gefühl des Verlustes, der Sehnsucht und der Trauer in meinem Brustkorb zu ersetzen, wuchs mein Wille, meinem Leiden ein Ende zu machen.
Hier und jetzt.
Ich hatte Schmerz noch nie gut ertragen können!
Ich schwang ein Bein über das Geländer, das andre gleich hinterher. Ehe ich mich versah stand ich schon auf der anderen Seite, nur noch wenige Zentimeter vom Abgrund entfernt.Oder der Erlösung? Der Erlösung von all dem Schmerz, den ich nicht mehr zu tragen vermochte, von dem Kummer, der mich langsam, aber sicher und qualvoll erdrückte!Mein Atem wurde schneller.
Würde es sehr weh tun? Allerdings wäre es kaum möglich, dass es schmerzhafter war, als ihr Verlust. Sie war in mein Leben getreten, hatte alles auf den Kopf gestellt, meine ganze Welt verändert - nein, sie war zu meiner Welt, meinem Leben geworden.
Aber nahm mir dieser Ausweg, dieses Ende nicht jede Chance, sie doch noch wieder zu sehen? Sollte ich nicht kämpfen? Versuchen, sie zu finden? Gab es nicht immer einen Weg? Oder versuchte man nicht immer, uns das einzutrichtern? Dass es immer eine Lösung gab?Meine Finger lösten sich langsam vom Geländer. Ich schluckte. Schloss die Augen. War bereit, es zu tun.
Doch, halt! Springen konnte ich immer noch! Dann, wenn ich sie nicht fand, wenn es sich nicht mehr lohnte, zu kämpfen. Ich konnte nicht, wenn es noch eine winzige Möglichkeit gab, wenn sie auch nicht größer war, als ein Stecknadelkopf.
Ich kletterte wieder zurück auf die andere Seite.
Taumelte, fiel beinahe aufgrund meiner Knie, die mir beinahe den Dienst versagt hätten. Mir wurde schwarz vor Augen ob der Dummheit, die ich fast getan hätte. Ich hatte für einen Moment die Kontrolle verloren. Das durfte nie wieder geschehen. Ich konnte mir eine solche Schwäche einfach nicht leisten. Zitternd und keuchend lehnte ich mich gegen das Geländer, schloss die Augen, atmete tief durch.
'Hättest du nicht der Welt einen Gefallen tun und springen können? Aber selbst dafür bist du zu schwach. Zu schwach, um deine Geliebte zu schützen und zu schwach, um dir selbst ein Ende zu machen! Erbärmlich!', hörte ich in diesem Moment eine dunkle Stimme, gefolgt von einem verächtlichen Lachen.







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