Wenn die Gedanken nicht schweigen ... Teil 3

Autor: key
veröffentlicht am: 10.10.2008




'Hallo Frau Berger …', Alexandra schüttelte Frau Steiners Hand.
Wie beim letzten Mal, als sie die kleine, brünette Frau gesehen hatte, fiel ihr der kräftige Händeruck positiv auf.
'Ich sag Ihnen ganz ehrlich, Frau Berger, ich hatte gehofft, Sie nie wieder zu sehen.'
Alexandra nickte.
Ihr ging es genauso.
Denn die Erinnerungen waren umso greifbarer, wenn Frau Steiner vor ihr stand. Sie waren dann fast schon plastisch und nahmen Form an. Lauerten hinter jedem Blick. Warteteten nur darauf, hervorzubrechen.
'Tee?'
Sie machte sich nicht die Mühe, in ganzen Sätzen zu sprechen, denn sie hatte keine Lust auf das übliche 'Hatten-Sie-eine-angenehme-Fahrt-Geplänkel'. Es ging nicht darum, wie die Fahrt der Kommissarin gewesen war, sondern darum, was nun passieren sollte. Es ging nicht um die Kommissarin, sondern um sich selbst und ihre Tochter.
Frau Steiner nickte.
'Ja bitte!'
Sie schwiegen sich an bis der Tee fertig war und setzten sich dann mit den dampfenden Bechern ins Wohnzimmer.
Alexandra fühlte sich seltsam dabei. Es war so normal, Tee zu trinken. Aber wie konnte sie unter diesen Umständen etwas Normales tun? Neben diesen Gedanken, die sie seit Tagen innerlich zerfraßen und aushöhlten, hier sitzen?
Vielleicht, dachte sie sich, liegt es daran, dass ich allein ja doch nichts ändern könnte.
Und zum wiederholten Mal spukte die Frage durch ihren Kopf: Wäre es nicht besser gewesen, mit Jolie darüber zu sprechen? Ihr davon zu erzählen? Sie zu warnen?
'Und jetzt …?', fragte sie die Kommissarin mit schwacher Stimme.
Sie ahnte die Antwort bereits. Und sie wusste, dass die Kommissarin es wusste. Und dennoch wollte Alexandra es hören, es mit ihren Ohren aufsagen, sodass das Gehirn sich in seiner Vermutung bestätigt fühlen konnte. Und dennoch sprach die Kommissarin es aus.
'Dasselbe wie letztes Mal …'
Sie wussten beide, was gemeint war - und was es bedeutete.
In erster Linie, schnelles Handeln und viel Schmerz.
Alexandra nickte langsam und bedächtig. Fast so, als müsste sie darüber nachdenken. Doch sie wusste, dass es da nichts zu denken gab. Sie hatte keine Wahl, sie hatte keine Möglichkeit, es wurde ihr aufgezwungen, ob sie wollte oder nicht.
'Aber eine Frage hätte ich da noch … wie?'
Sie musste nur dieses eine Wort sagen und Frau Steiner wusste, was sie meinte.
In diesem einen Wort, steckten so viele Fragen, doch Alexandra wusste schon jetzt, dass Frau Steiner keine einzige davon beantworten konnte.

***

Dylan drückte die Uhr, um unsre Partie zu starten.
Doch symbolisch gesehen war es für mich der Startschuss zu einer langen, quälenden Partie und einem noch längeren, noch mehr quälenden Tag überhaupt einer qualvollen Zeit, die hauptsächlich mit Angst gespickt sein würde. Doch am meisten Sorgen machte mir nicht das Hier und Jetzt, seine wahrhaftige Anwesenheit in diesem Raum, und auch nicht, was die nächsten paar Wochen bringen würden, am schlimmsten war der Gedanke an das Gespräch, das nach der Partie noch mit Matthew folgen würde.
Was sollte ich ihm sagen?
Alles in mir war dagegen, ihn anzulügen, aber was sollte ich sonst tun? Ihm die Wahrheit sagen? Das konnte ich nicht. Ich hatte noch nie in meinem Leben, über das, was damals passiert war, gesprochen. Nicht mal mit meiner Mutter, auch wenn sie es wusste. Wir hatten einfach so getan, als hätte es die Zeit davor nie gegeben, hatten einfach so gelebt, immer im Jetzt, immer betont darauf, nie etwas zu sagen, was daran erinnern würde, nichts, was damals geschehen war, mit einem Wort nur zu erwähnen, nichts zu hinterfragen. Wir hatten es ausgeblendet.
Ich zog. Er zog. Ich zog. Er zog. Das hatte fast schon etwas Rhythmisches, es war wie ein Tanz. Angesichts der Lage wohl eher ein Tanz auf dem Vulkan, ein Spiel mit dem Feuer. Doch es half mir, meine Gedanken zu konzentrieren. Auf das Spiel. Das Spiel, das mir immer beim Überleben geholfen hatte. Und das meine einzige erfreuliche Erinnerung war, an die Zeit davor, wie Mum und ich es in stillem Übereinkommen getauft hatten. Ich musste jetzt meine ganzen Gedanken auf das Spiel fokussieren, wie wenn man eine Lupe oder ein Stück geschliffenes Glas über einem Stück Holz gegen die Sonne hielt, um die Wirkung der Sonnenstrahlen zu bündeln. Wenn ich an das Spiel dachte, war alles gut. Wenn ich spielte, tauchte ich ab, in eine andere Welt, in eine Welt, in der mir nichts passieren konnte, in der ich vollkommen sicher war, in der ich Dylan und seinen ganzen Clan einfach ausradieren konnte.

***

Er betrachtete fasziniert, wie sie dasaß und nur auf das Brett schaute. Er bewunderte das. Er konnte das nicht. Er musste sie ansehen, immerzu. Und es war ihm egal, ob der Andere es merkte oder nicht. Überhaupt war es ihm egal, wer der Andere war oder was er hier tat, denn er war völlig unwichtig, solange er sich raus hielt. Solange er ihm nicht dabei im Weg stand, seine Familientradition fortzusetzen. Er lebte für die Familie. Wie schon sein Vater das getan hatte und dessen Vater und wiederum dessen Vater. Wenn er so recht darüber nachdachte, war alles in seiner Familie mit Traditionen geregelt. Und nur deswegen war er heute überhaupt hier, nein, durfte er überhaupt hier sein. Wie gut es doch war, in der Obersten zu sein. Wäre er nur in einer der Mittleren gewesen oder gar in der Untersten hätte er sich nicht aussuchen können, wen er wollte, aber so ergab sich das Problem erst gar nicht.

***

Ich wurde aus ihr nicht schlau.
Jetzt sah ich wieder die Konzentration in ihrem Gesicht. Sie blendete alles um sich herum aus, wie sie es immer tat, wenn sie spielte. Saß stundenlang reglos in der gleichen Haltung da und schaute fast träumerisch auf das Schachbrett, als wäre es nichts, was ihre ganze geistige Anstrengung förderte, sondern ein entspannender Film oder ein gutes Buch. Oder aber ihre Augen flitzten über das Brett, als wollte sie es mit ihren Blicken streicheln.
Es gefiel mir immer wieder, ihr dabei zuzusehen. Sie einfach nur anzusehen. Zu merken, wie mein Herz raste. Aber für einen Moment einfach auszublenden, dass wir wirklich zusammen waren. Und hinterher war es jedes Mal fast wie eine Überraschung, wenn sie auf mich zukam und mich küsste oder mich einfach nur umarmte.
Vielleicht, kam da in diesem Moment ein Hoffnungsschimmer in meinen Gedanken vor, aber nur vielleicht hast du dir das vorhin wirklich nur eingebildet. Vielleicht ist wirklich alles wie immer. Vielleicht war sie einfach nur geschockt, weil er sie an irgendjemanden erinnert?Doch so recht wollte ich das selbst nicht glauben und so beschloss ich einfach, sie hinterher danach zu fragen. Wir hatten uns bisher immer alles gesagt. Und soeben wurde mir bewusst, dass ich einem Mädchen noch nie so nahe gewesen war, dass ich noch nie jemandem so sehr vertraut hatte, noch nie jemanden so sehr gebraucht hatte. An manchen Tagen war sie für mich wie die Luft, die ich zum Atmen brauchte. Ich schaute sie an und in diesem Moment sah sie hoch. Sie lächelte. Doch irgendwie wirkte dieses Lächeln anders als sonst. Eine Art schmerzende Zärtlichkeit, ein stummer Schrei nach Hilfe. Aber vermutlich bildete ich mir auch das ein. Ich sah eben schon Gespenster. Oder hoffte, dass ich es tat.

***

'Matt', flüsterte ich heiser und wartete mit brennender Kehle darauf, was nun geschehen würde. Mein Magen hatte sich zu einem kleinen schmerzhaften Klumpen zusammengezogen. Ich hatte Dylan noch nie besiegt. Und ich wusste nicht, ob er es dulden würde. Ich wusste nicht viel über seine Kultur, doch ich wusste, dass es bestimmt nicht gut war, gegen ein Mädchen, ein niedriges, unwürdiges, unmündiges Mädchen zu verlieren.
Und eine neue Welle der Angst, die ich beim Spielen unterdrückt hatte, brandete auf. Noch höher als die, die ich zuvor gespürt hatte. Ich sah, wie seine Lippen bebten und wie seine schwarzen Augen mich zornig funkelnd anblitzten und ich schloss die Augen und faltete die Hände unter dem Tisch wie zum Gebet.
Es war schon komisch: Ich war katholisch erzogen worden, doch hatte irgendwann mit vierzehn oder fünfzehn beschlossen, dass ich nicht an Gott glaubte, war also atheistisch, was meine Mutter nach vielen endlosen Diskussionen endlich akzeptiert hatte und dennoch behielt man Gesten, die man ein Leben lang gewohnt war, bei, und ich benutzte dennoch Ausdrücke wie 'Oh mein Gott' und Ähnliches.
Jolie, reiß dich gefälligst zusammen. Das hier ist nicht der passende Augenblick für solch seltsame, philosophische Gedankengänge. Unter anderen Umständen, zu einer anderen Zeit, ohne die Angst, hätte ich Matthew jetzt vermutlich von meinen Gedanken erzählt und wir hätten darüber diskutiert. Aber jetzt …
Da nichts passierte, da mir keine zornigen Worte um die Ohren flogen und Dylan sich auch nicht auf mich stürzte, blickte ich wieder hoch und erhaschte dabei grade noch so, wie Dylan zu Matthew blickte.
Er sagte 'Gut gespielt. Eine wirklich schöne Partie!', doch ich wusste genau, dass er meinte 'Das hat noch ein Nachspiel, so kommst du mir nicht davon!'
Er sah mich an und sein Blick ließ mich in meiner Bewegung erstarren und meine Stimmbänder gefrieren, sodass ich keinen Mucks mehr hervorbrachte.
Fünf Minuten später war er endlich weg und ich sackte innerlich zusammen.
Meine Hände bebten und ich wollte nicht, dass Matthew das sah, deswegen versteckte ich sie unter der Bank. Matthew stand auf, ging zur Tür und schloss sie.
Dann drehte er sich um und fragte nur 'Was ist los?'
Ich versuchte zuerst, mich blöd zu stellen.
'Was meinst du?'
Doch ich wusste ganz genau, dass das alles nur noch schlimmer machen würde. Schließlich war er neben meiner Mutter wohl DER Mensch, der mich am besten kannte, den ich am nähesten an mich heran gelassen hatte, dem ich vertraute.
'Bitte, Jolie, du weißt ganz genau, was ich meine. Wer war das? Woher kennst du ihn? Und warum habt ihr so getan, als würdet ihr euch nicht kennen?'
Jetzt klang seine Stimme plötzlich wie beim Kreuzverhör oder vielleicht kam es mir nur so vor. Wie auch immer, ich fühlte mich in die Enge getrieben und deswegen handelte ich gemäß dem Sprichwort: Angriff ist die beste Verteidigung. Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass er mich in diesem Tonfall an Aaron erinnerte und seine Eifersuchtsdramen …

***

'Um ehrlich zu sein, ist das genau die Frage, über die ich mir schon die ganze Zeit den Kopf zermartere!!!', antwortete Sandra Stein nach einem langen Schweigen.
Alexandra nickte. Da war sie nicht die einzige, der es so ging.

'Was, wenn es wieder passiert? Und wieder? Und immer wieder? Wir können doch nicht alle paar Wochen …' Sie konnte den Satz nicht zu Ende sprechen. Es war schlimm genug, ihn zu denken.
'Natürlich nicht!'
Mehr fiel der Kommissarin dazu auch nicht ein. Und Alexandra bemerkte, dass auch diese lebenskluge, intelligente Frau keine Ahnung hatte, was dann passieren sollte. Frau Stein sah müde aus. Tiefviolette Ringe unter ihren Augen zeigten die Anstrengungen der letzten Tage, Wind und Wetter hatten im Laufe der Jahre ihr Gesicht gezeichnet.
Sie sahen sich an und verfielen erneut in ein langes Schweigen.

***

Verdammt, das hättest du nicht so scharf sagen sollen. Aber warum versuchte sie auch, mich für blöd zu verkaufen? Das konnte ich partout nicht leiden!! Ich dachte immer, wir würden uns vertrauen.
Ja, genau, du dachtest …, meinte da eine innere Stimme in mir.

***

Er spuckte auf den Boden.
Diese kleine, schäbige Schlampe! Wie konnte sie es wagen? Sie musste doch wissen, was darauf stand, sich gegen einen Mann aufzulehnen. Ihr Sieg über ihn war ja wohl Auflehnung genug. Er würde sie bestrafen müssen, wenn es erst soweit war. So leid es ihm auch tat. Auch er musste sich an die Regeln halten. Und eine dieser Regeln war eben, die Frauen zu bestrafen, wenn sie nicht gehorsam ihren Pflichten nachkamen. Seine Augen färbten sich noch schwärzer beim Gedanken daran, dass es bald soweit sein würde, dass er bald sein Ziel erreicht haben würde und seine schmalen Lippen verzogen sich zu einem stummen, grimmigen Lächeln.

***

'Was ist denn mit dir los? Du führst dich auf, als hättest du mich in flagranti mit diesem Typen im Bett erwischt … Was hab ich dir denn getan?' Eigentlich sollte es wütend klingen, doch meine Stimme bebte vor Verzweiflung. Ich hatte einfach nur Angst, Matthew zu verlieren. Hatte Angst, dass der einzige in meine, Leben, der mir Kraft gab, sich mit einem Puff in Nichts auflösen würde.
'Ja, es tut mir leid, du hast ja recht!', meinte er entschuldigend und trat einen Schritt auf mich zu.
'Aber weißt du, als er zur Tür rein gekommen ist, hab ich dein Gesicht gesehen und ich hab mich gefragt, wovor du Angst hast. Ich will nicht, dass du vor etwas Angst haben musst!'Zärtlich strich er mir mit den Fingerkuppen über die Wange.
Ich sah ihn nicht an. Ich wollte ihm so gerne das Eine, das Unaussprechliche anvertrauen, aber ich war noch nicht so weit. Ich schloss die Augen und mein Körper begann zu zittern, teils unter der Zärtlichkeit mit der er nun seine Finger unter mein Kinn legte, um mich dazu zu bringen, ihn anzusehen, und währenddessen mit dem Zeigefinger über meine Lippen fuhr, teils wegen der Angst, die immer noch in meinen Knochen steckte, als wäre sie die Urlaubsvertretung für das Knochenmark.
Ich begegnete seinem sanften Blick, der fragend war, aber nicht so unangenehm bohrend. Der weich war, aber trotzdem unnachgiebig. Und voller Zärtlichkeit, aber auch voller Zweifel.Und ich konnte es einfach nicht mehr ertragen.
'Du hast recht, ich hab Angst!', flüsterte ich mit bebender Stimme und unterdrückte das Schluchzen, das sich tief in meinem Brustkorb dazu bereit machte, von meinen Stimmbändern Besitz zu ergreifen. Matthew sah mich an. Doch nicht entsetzt. Und er starrte auch nicht. Er sah mich einfach nur an und nickte. Da erkannte ich den Ausdruck in seinen Augen - es war Verständnis. Er schwieg eine Weile, doch als von mir nichts weiter kam, nichts weiter kommen konnte, fragte er 'Wovor?'
Ich schüttelte den Kopf. Bisher hatte er das immer akzeptiert.
Diesmal nicht.
'Wovor?', wiederholte er.
'Bitte sag es mir, ich kann das nicht ertragen!'
'Es geht nicht, Matthew …'
'Warum?'
'Du würdest es nicht verstehen!'
'Lass es auf den Versuch ankommen!'
'Nein!'
'Jolie …'
'Vergiss es einfach! Du könntest es nicht begreifen … und jetzt lass es … ich kann nicht, noch nicht!'
'Ich kann darauf warten, dass du es mir erzählst. Aber auch wenn ich es nicht weiß: Ich werde dich beschützen. Ich weiß zwar nicht wovor oder warum, aber ich bin da, hörst du?'Ich nickte und war einfach nur gerührt.
Vielleicht würde er es irgendwann begreifen. Doch jetzt konnte ich es ihm nicht sagen.Ich meine, draußen schien die Sonne, es war ein schöner Tag, wie sollte ich ihm da erklären, dass Dylan und sein Clan meinen Vater ermordet hatten?







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