Wenn die Gedanken nicht schweigen ... Teil 4

Autor: key
veröffentlicht am: 19.10.2008




Was sollte ich darauf sagen? Um es einmal mit einem Schriftsteller zu sagen, dessen Name mir in dem Moment nicht einfiel, dessen Worte sich aber wie ein Brandmal in mein Bewusstsein prägten: 'Jetzt steh ich hier, ich armer Thor, und bin so schlau als wie zuvor'.Ich hatte keine Ahnung, wer dieser Dylan war, ich wusste nicht, warum sie Angst hatte oder was sie mit ihm verband. Wie lang es her war, das, was ich eben nicht wusste. Wer daran beteiligt war. All das war mir immer noch ein Rätsel. Das einzige, das jetzt neu dazu kam, waren zwei Gefühle. Wut auf diesen Dylan. Wut auf was auch immer er Jolie angetan hatte. Wut auf meine Unwissenheit. Ein dunkelrote, wie Feuer lodernde Wut. Und ein Beschützerinstinkt. Ich wollte Jolie einfach in die Arme nehmen, sie am liebsten vor der ganzen Welt verstecken, so dass ihr nichts passieren konnte. Mich zwischen sie und den Rest der Menschheit stellen, um sie zu bewahren, vor was auch immer ...

***

Sie starrte noch lange auf die Tür, auch nachdem die Kommissarin sie schon mit einem 'Es ist alles in die Wege geleitet, morgen geht es los ...' hinter sich geschlossen hatte. Es dauerte eine Weile, bis die Erkenntnis in ihren Kopf geflossen war, dass ein weiterer Abschnitt ihres Lebens vorbei war und es wieder Zeit für eine Veränderung wurde. Eine Veränderung, die sie nicht gewollt hatte, nach der sie nie gefragt worden war. Traurig ging sie durch jedes Zimmer im Haus, besah sich jeden Gegenstand, jede Wölbung, jeden Fleck, jede Unebenheit noch einmal genau, sah in jedem Raum aus dem Fenster, spürte die wichtigsten Erinnerungen nach, sog tief die Luft ein und ließ sie einen langen Moment in den Lungen verweilen, bevor sie diese mit einem traurigen Seufzer wieder in die Freiheit entließ. Sie war an diesem Ort zum ersten Mal in ihrem Leben glücklich gewesen. Weil Jolie es war.
Jolie!, durchfuhr es sie wie ein Blitz in diesem Moment.
Verdammt, sie traf sich mit Matthew und irgendeinem Menschen zum Nachspielen einer Partie.
Unruhe kochte in Alexandra hoch. Was wenn er Jolie fand, bevor sie zu Hause war? Was würde mit ihr passieren? Würde er sie fortschleppen? So wie sie damals fortgeschleppt worden war? Gegen ihren Willen? Und wenn ja, würden die Menschen hier und heute dann genauso blind sein, wie die Menschen es damals in Benares gewesen waren? Würden sie still schweigend den Blick abwenden und so tun, als wäre nichts? Als ginge sie das Ganze nichts an? Würden sie Däumchen drehend Löcher in die Luft starren und abwarten bis er mit ihr um die nächste Ecke war? Und was dann? Würden sie dann ihr Leben weiterleben, wie bisher? Würden sie ein schlechtes Gewissen haben, wenn am Abend im Fernsehen von der Entführung berichtet werden würde? Oder würden sie sich selbst einreden, dass sie sowieso nicht hätten tun können? Oder dass es vorherbestimmt war? Das konnten die Menschen nämlich prima ...
Und die ganze schäumende, brodelnde Wut und der brennende Hass kochten wieder in ihr auf. Gefühle, die sie längst vergessen hatte, zuckten begleitet von einem brennenden Schmerz, dem pulsierenden Schmerz der Erinnerung, in ihr auf. So sehr packte sie die rote Wut, dass die mit den Fäusten auf ein Sofakissen einprügelte, bis ihre Lungen brannten wie Feuer, bis sie nicht mehr konnte und erschöpft auf dem Boden vor dem Sofa zusammensackte. Eine gebrochene Frau, die nicht mehr wusste, wie es weiter gehen sollte. Denn das Schlimmste, was damals geschehen war, wusste keiner, außer ihr selbst, noch nicht einmal Jolie …

***

Matthew sah mich traurig an, aber er verlor kein Wort mehr darüber.
Schweigend und fast gleichzeitig suchten wir nach der Hand des Anderen und verschränkten unsre Finger miteinander. Als hätten wir uns abgesprochen schlugen wir den Weg zu mir nach Hause ein. Der Himmel war heute wieder wie der Spiegel meiner Seele. Dunkle, tiefschwarze Wolken schoben sich vor die Sonne. Nebel waberte um unsre Füße und ein kalter, klammer Nieselregen tropfte auf uns herab, als würde der Himmel die Tränen weinen, die ich nie weinen durfte.
Und plötzlich tauchte ein Gedanke wie aus dem nichts auf und stand Platz füllend und alle anderen Gedanken verdrängend mitten in meinem Gehirn: Sollte ich meiner Mutter von dieser Begegnung erzählen? Hatte sie nicht ein Recht darauf, es zu erfahren? Doch welche Konsequenzen würde das für mich, für uns, für meine Liebe zu Matthew haben, wenn ich es tat? Und noch während die Gedanken in meinem Kopf Karussell fuhren, wusste ich, dass sich mein Herz, entgegen jeder Vernunft und jeder Logik, schon entschieden hatte: Sie durfte nicht davon erfahren, denn schon allein beim Gedanken daran, was dann passieren würde, brach für mich innerlich eine Welt zusammen.

***

Er sah ihr zu wie sie mit dem Jungen Hand in Hand die Straße entlang ging. Geduldig wartete er reglos, bis sie um die nächste Ecke verschwunden war. Dieser verdammte Dreckskerl war also ihr Freund. 'Am liebsten würde ich …', begann er in Gedanken einen Satz, griff dann mit der rechten Hand in seine Manteltasche und lächelte grimmig als sein Daumen die Schneide des Messers fand. Doch er wusste, dass das jetzt unter keinen Umständen möglich war. Und er wusste ebenso gut, dass es furchtbar wichtig war, dass er jetzt nicht die Kontrolle verlor.
'Komm schon, du hast fünf Jahre gebraucht, du hast fünf Jahre ausgehalten, und jetzt bist du deinem Ziel so nahe, da kannst du auch noch einen Tag warten, notfalls auch zwei. Und dann kannst du den Typ auch gleich mitnehmen und wenn du erst mal wieder in Indien bist wird es keinen mehr interessieren, was aus dem Mistkerl wird und die Mauern im Verlies sind dick, keiner wird ihn hören können …'
Er heftete sich an die Fersen der beiden wie ein Schatten. Und jedes Mal, wenn sie sich verliebt anschauten, verkrampfte sich seine Hand um den Schaft des Messers nur immer mehr. Auch dafür würde er sie bestrafen müssen.

***

Wir verabschiedeten uns mir einem langen Kuss, der mein Herz pochen ließ, als wäre ich gerade eben einen Marathon gelaufen. Gefühle wirbelten hin und her. Es ist zwar ein reichlich seltsamer Vergleich, doch es war wie Schokolade kombiniert mit beispielsweise Chili. Man würde nicht meinen, dass beides zusammenpasst, doch es ist eine prickelnde Komposition. Und genauso prickelnd, aufregend und seltsam waren die Kombinationen, die unter meiner Brust tobte. Angst gepaart mit Liebe. 'Der-glücklichste-Mensch-der-Welt-sein' zusammen mit einer Verzweiflung, wie ich sie noch nie in meinem Leben gespürt habe. Hoffnung und vernichtende Logik. Sogar die unmöglichste Kombi überhaupt, war vorhanden: Herz vereint mit Kopf.
Seine Fingerspitzen strichen erneut über meine Wangen und jede Berührung von ihm drückten das aus, was zu beschreiben tausende Worte nicht gereicht hätten. Ich lächelte zaghaft und er erwiderte es. Und ich merkte deutlich, dass das, was heute passiert war, unsre Beziehung, die Bindung, die wir miteinander hatten, auf eine neue, höhere Ebene gehoben hatte. Und ich wusste und spürte tief in meinem Inneren mit einer erstaunlichen Sicherheit, dass ich ihm irgendwann sagen könnte, was genau damals passiert war.

'Ich weiß zwar nicht vor was ich dich beschütze, aber ich tu es, mit allen Mitteln, die mir zur Verfügung stehen, das kannst du mir glauben!'
'Das ist schön!', hauchte ich ebenso leise zurück. Dann drehte ich mich um und ging in Schwärze der Ungewissheit, übertrat mit der Schwelle zur Wohnung auch zeitgleich die zur Angst. Ich sah Matthew noch nach, bis die Dämmerung und die Dunkelheit, welche die Wolken hernieder warfen, ihn gänzlich verschluckt hatten. Und wie immer, wenn er ging, blieb nur ein Gefühl von Sehnsucht und Verlust in mir. Aber vielleicht war das auch gut so. Vielleicht musste Liebe manchmal weh tun, um einen daran zu erinnern, wie schön sie sein kann und dass man immer sieht, was man an ihr hat.
'Halo Mum, bin wieder da!', rief ich und bemühte mich dabei sehr, meine Stimme extra heiter klingen zu lassen, dass sie auch ja keinen Verdacht schöpfte.
Doch ich bekam keine Antwort. Das machte mir Angst. Und zum ersten Mal bedachte ich wirklich, welche Folgen es haben konnte, dass er hier war. Ich sah in die Küche, in ihr Schlafzimmer und mit jedem Schritt, den ich tat, und bei dem ich sie nicht fand, legte sich die eiskalte Angst noch enger wie ein sich stetig verengendes Gummiband um mein Herz, bis ich sie vor gepackten Koffern sitzend im Wohnzimmer auf dem Boden fand.
Erleichterung machte sich in mir breit, doch ebenso Verwirrung. Was hatten die Koffer zu bedeuten? Was war hier los? Warum schaute meine Mutter so komisch? Warum waren ihre Augen so rot? Weswegen hatte sie geweint?
Sie blickte mich an und Entsetzen spiegelte sich in ihren Augen. Na los, dachte ich mir, spucks schon aus. Ich wurde wütend, weil ich eine gewisse Vorahnung hatte, doch sie einfach nicht anfing zu reden. Mach schon!
'Jolie …', begann sie zögern und ich merkte, dass sie meinem Blick nichts standhalten konnte, da sie einen Punkt über meiner linken Schulter fixierte und diesen anstarrte. Ich kannte diesen Wesenszug an ihr. Das machte sie immer, wenn sie etwas Unangenehmes zu sagen hatte. Und dass sie das nicht nur bei Bekannten tat, sondern auch bei mir, machte mich auf eine seltsame Art und Weise noch wütender.
'Was denn? Sag's schon endlich und red nicht um den heißen Brei herum!'
Ich lauschte geschockt auf, als ich eine zornige Stimme hörte. Und noch geschockter war ich, als ich bemerkte, dass diese Stimme meine eigene war. Auch meine Mutter sah mich irritiert an, doch ich starrte nur ohne zu blinzeln zurück.
'Es ist … ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll … Er und sein Sohn sind wieder da … Du weißt was das für uns bedeutet? Geh deine Koffer packen, es tut mir leid für dich, das zu sagen, aber du kennst die Regeln des Zeugenschutzprogramms …'
Oh ja, die kannte ich ...
Ich sackte zusammen und schüttelte ungläubig den Kopf, flehend, mit stummen
unausgesprochenen Bitten in den Augen sah ich meine Mutter an, hoffte, sie würde nicht auszusprechen, was schon als Gedanke unerträglich war, doch …
'Du hast Matthew grade eben zum letzten Mal in deinem Leben gesehen!'

***







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