Geheimnis der Tiefe - Teil 2

Autor: Sternchen
veröffentlicht am: 13.07.2011


Immer noch benommen von dem Vorfall komme ich zu Hause an.
“Dépêche-toi, on mange!”, ruft mein Vater, kaum habe ich die Haustür hinter mir geschlossen. Ich vermute, dass er gekocht hat, sein blaues T-shirt ist mit feinen Soßenspritzern besprenkelt.
“Ja ja, ich weiß, ich bin zu spät, ich komm’ ja schon.”, murre ich.
“On parle francais à la maison.”, weist er mich zurecht.
“Warum denn?”, entgegne ich ruhig. “Wir können genauso gut Deutsch sprechen! Deutsch ist unsere Muttersprache und Elisa verlernt sie noch völlig. Außerdem sprichst du auch kein perfektes Französisch!”
Ich laufe die Holztreppe hinauf in mein Zimmer und werfe meine Tasche achtlos aufs Bett, meine Schuhe landen unter dem überfüllten Schreibtisch. Mir fällt der verkrüppelte Kaktus auf meinem Fensterbrett auf. Wie lange muss man vergessen zu gießen, damit ein Kaktus vertrocknet? Angestrengt denke ich nach, wann ich mich zuletzt um meine stachelige Zimmerpflanze gekümmert habe. Ich kann mich nicht erinnern.
Ohne viel Zeit zu verlieren haste ich wieder nach unten in die Küche.
“Sie hat recht.”, sagt meine Mutter gerade, während sie in ihrem Essen herumstochert. “Das sage ich dir schon seit Wochen. Wenn Besuch da ist, ist es ja in Ordnung und richtig, Französisch zu sprechen, aber so?”
Mein Vater schweigt. Ich kaue lustlos auf meinen Nudeln herum und schiebe sie auf dem Teller hin und her. Mir macht das Schweigen nichts, im Gegenteil. Ich genieße es, wenn es ruhig ist. Elisa ist da allerdings anders. Sie beginnt - auf Französisch - von ihrem Schultag zu erzählen.
Sie scheint sich nicht sicher zu sein, welche Sprache wir denn nun sprechen, also wirft sie immer mal wieder ein paar deutsche Sätze ein. Mir fällt auf, wie gekünstelt es klingt, und dass sie manchmal die falsche Satzstruktur verwendet.
“Wollt ihr alle Deutsch sprechen?”, fragt mein Vater irgendwann, der es auch bemerkt hatg.
Wir nicken, Elisa zuckt mit den Schultern, wobei ihre Ringellocken auf und ab wippen.
“Also gut.”, willigt mein Vater ein. “Regeländerung. Nach fast zwei Jahren spricht Familie Holzapfel wieder Deutsch - für eine Stunde am Tag. Das wird bestimmt super.”
Ich stöhne innerlich auf. Das habe ich nun von meiner Beharrlichkeit. Eine Stunde am Tag sprechen wir deutsch. Wow. Da hätten wir ja gleich bei Französisch bleiben können.
“Das ist ein guter Kompromiss, Schatz!”, stimmt meine Mutter meinem Vater zu und häuft ihm zur Belohnung eine zweite Portion Nudeln auf den Teller.

Nachts, in meinem Zimmer, halte ich es nicht mehr aus. Es ist schwül und ich habe das Gefühl, nicht atmen zu können. Ich schleiche mich an der schlafenden Elisa vorbei, die aus irgendeinem Grund ihre Matratze auf den Flur geschleppt hat und will ein bisschen nach draußen gehen und die kühle Nachtluft einatmen. Ich möchte noch einmal an den Strand, zum Meer. Ich bin schon fast unten angekommen, als die Treppenstufe, auf der ich stehe, knarrt und Elisa den Kopf hebt.
“Tu vas où?”, fragt sie verschlafen.
“Was machst du im Flur?”, frage ich zurück.
“Hein? J’ai rien compris.”, mault sie.
“Was machst du hier?”, wiederhole ich meine Frage.
“Il y a un bonhomme - ein Mann in unserem Garten! Je l’ai vu passer!”, erklärt sie aufgeregt.
“Du träumst nur. Vas faire dodo!”
“Nein! C’est trop dangereux.”, ruft Elisa. Damit hat sich mein nächtlicher Ausflug wohl erledigt.
“Kann ich bei dir schlafen?”, bettelt sie.
Als meine Schwester wieder tief eingeschlafen ist (in meinem Zimmer!), sehe ich durch mein Fenster nach draußen. Irgendetwas zieht mich ins Freie. Ich höre entfernt das Rauschen des Ozeans und wie die Wellen an der Brandung brechen. Im Stillen beschließe ich, meinen Mondspaziergang irgendwann nachzuholen. In der nächsten Nacht vielleicht.

Am nächsten Morgen wache ich schlecht gelaunt auf. Bis mir einfällt, dass ich in der Schule Ausschau nach Levi halten werde. Sollte er tatsächlich in meine Schule gehen, wie konnte ich ihn dann nur bis jetzt die ganze Zeit übersehen haben? An meiner Schule gibt es sechs Klassen pro Jahrgang mit je über dreißig Schülern.
‘Na und?’, denke ich, ‘So jemand wie er müsste mir doch trotzdem auffallen.‘ Dann wiederum bin ich froh, denn dass es an unserer Schule so viele Schüler gibt, erhöht die Chance, dass er dabei ist. Ich sehne mich regelrecht nach ihm. Merkwürdig…

Der Morgen verläuft ereignislos.
Wie immer sind vor Unterrichtsbeginn alle auf dem Parkplatz vor der Schule versammelt, um sich mit dem typischen „Küsschen-rechts, Küsschen-links“ zu begrüßen und erst einmal eine Zigarette zu genehmigen.
Zuerst haben wir eine Doppelstunde Geschichte und Geographie.
Ich stelle mein Hirn auf Standby und lehne mich zurück, um der Langeweile zu entkommen.
In der dritten Stunde habe ich Mathe. Ich sitze ganz hinten am Fenster und ziehe mit meinem Radiergummi fusselige Muster auf der grauen, zerkratzten Tischplatte. Ausnahmsweise ist draußen schönes Wetter. Die Sonne strahlt geradezu provozierend intensiv durch die, mit Fingerabdrücken geschmückte Glasscheibe. Die ganze Zeit denke ich an ihn. Levi. Levent.
Er hat mich aufgefangen und danach zu einer Cola eingeladen. Dabei hätte eigentlich ich ihn einladen müssen, immerhin hat er ja mir geholfen.
Plötzlich bemerke ich, dass die ganze Klasse mich anstarrt. Der Lehrer auch.
“Hä? Was ist?”, frage ich auf Deutsch.
Die Schüler lachen und der Lehrer mach ein genervtes Gesicht.
>> Sie vermisst Deutschland. <<, lacht Camille und die Anderen lachen weiter.
>> Entschuldigung, könnten Sie ihre Frage wiederholen?<<, bitte ich.
>> Wie lautet die Lösung?<<
>> In Deutschland rechnen sie doch nicht!<<, grölt Henri.
“Trou de cul!”, schnauze ich ihn an.
“Eh!”, macht der Lehrer und will mich scheinbar für meine grobe Wortwahl ausschimpfen.
>> Ich gehe schon allein zum Nachsitzraum.<<, winke ich ab, gehe und lasse den völlig verwirrten Lehrer und meine verdutzten Mitschüler zurück.
Ich muss mich bei einer Sekretärin melden.
>> Ich soll zum Nachsitzen weil ich einen Jungen aus meiner Klasse beschimpft habe.<<, sage ich. Die junge Frau nickt nur und schiebt mich in den Raum. Eine Wand ist aus Glas, sodass die “Insassen” immer unter Beobachtung stehen.
Der ‘salle d’étude’ ist eigentlich eine Art Hausaufgaben. Aber es gibt nur sehr wenige Streber, die hier her freiwillig zum Arbeiten kommen. Insgesamt 30 Einzeltische sind in 5 Reihen im Raum aufgestellt, an der einen Seite ist eine Tafel, an der anderen die Glaswand zum Sekretariat, hinzu kommt, dass hier die ‘Bösen’ hingeschickt werden - Alles in allem ist es keine sehr gute Arbeitsatmosphäre, selbst dann nicht, wenn man ein echter Musterschüler ist.
Als ich den Raum betrete, vergesse ich meine Abneigung gegen das Nachsitzen sofort.
An einem der Tische sitzt Levi. Er ist der Einzige im Raum.
“Hallo!”, flüstere ich, den Kopf zum Fenster gewandt. Hier darf man nicht sprechen. Wenn man zur Strafe hier ist, darf man genau genommen überhaupt nichts außer sitzen und atmen.
“Ich hatte gestern gar nicht gewusst, dass du hier zur Schule gehst. In welche Klasse gehst du? Geht es dir wieder besser? Was war denn los gestern?”
“Zu viele Fragen auf einmal.”, raunt er und obwohl ich ihn nicht direkt ansehe - es wäre zu auffällig, da er hinter mir sitzt - weiß ich, dass er grinst. “Ja, mir geht es wieder besser, war nichts Schlimmes.”
“So hat es aber gestern nicht ausgesehen.”, flüstere ich.
“Nein wirklich, es war nichts.”, dann wechselt er das Thema: “Was machst du hier?”
“Hab einen Klassenkameraden als Arschloch beschimpft. Mir ist irgendwie der Kragen geplatzt.”, gebe ich kleinlaut zu.
“Böse, böse.”, scherzt er.
“Und du? Was machst du hier?”, frage ich.
“Ich bin am Freitag einfach früher gegangen, naja, ich habe die letzten beiden Stunden geschwänzt, wenn du so willst - und darum muss ich heute nachsitzen. Und die gesamte restliche Woche. Eigentlich hätte ich jetzt Permanence - Freistunde.”
Ich riskiere einen kurzen Blick nach hinten. Sein dunkles Haar ist leicht zerzaust, und er hat ein Dauergrinsen aufgesetzt.
Mir fällt auf, dass er wieder den dicken Wollschal trägt.
“Wofür brauchst du den denn? Es ist doch April.”, wundere ich mich und deute auf den Schal.
“Halsweh. - Ein Glück, dass du da bist, es ist sonst echt verdammt langweilig hier. Ein Jammer, dass ich in meiner Freistunde hier drinnen sitzen muss. Das macht mich ganz verrückt! Und die nächste Permanence ist erst wieder in zwei Stunden.”
“Da habe ich auch frei!”, fällt mir ein. “Essen wir zusammen Mittag?”
“Nein, tut mir Leid.”
Neeeiiiiin. Warum musste ich auch so dumm sein und fragen? War ja klar, dass er nein sagt. Mit dem Finger fahre ich einen Kratzer auf dem weißen Tisch nach, versuche, gleichgültig zu wirken.
“Ich würde ja, aber ich muss in der Freistunde noch mal nach Hause gehen, weil, äh…” Er scheint angestrengt zu überlegen.
“Musst du deine Medikamente zu Hause nehmen?”, frage ich.
“Hmm.”, macht er. Na logisch. Diese rätselhafte Krankheit, wegen der er gestern so schnell gehen musste – darum hat er abgesagt!
Moment, warum nimmt er die Medizin nicht mit in die Schule? Und was hat er eigentlich für eine Krankheit?, frage ich mich und will ihm gerade diese Fragen stellen, doch just in diesem Moment klingelt es zur nächsten Stunde.
Die Sekretärin klopft an die Scheibe. Wir dürfen wieder hinaus. Jeder von uns bekommt eine Bescheinigung, dass er da war. Ohne ein Wort zu mir zu sagen dreht sich Levi um und eilt den Gang entlang.

Am Abend, als ich im Bett liege, denke ich wieder an ihn, Levi. Mein Herz macht einen kleinen Hüpfer und ich habe dieses warme Gefühl im Bauch. Mist, am Ende habe ich mich in ihn verknallt! Das ist mir noch nie passiert, in den ganzen siebzehn Jahren. Aber ist das ein Wunder bei so einem Typen? Er hat Sinn für Humor, zumindest lacht er viel, er ist freundlich und hilfsbereit…
Ich höre das Rauschen der Wellen. Das Mondlicht fällt durch mein Fenster. Auf einmal packt mich wieder die Lust, nach draußen zu gehen. Ich will an den Strand, jetzt, mitten in der Nacht.
Dabei hasse ich das Meer.
Aber die Möwen schlafen.
Leise ziehe ich mir meine Jeans und mein blaues Top vom Vortag an, darüber eine schwarze Jacke. Es ist kühl. Diesmal geht alles glatt. Ich laufe zum Wasser und bin zum ersten Mal fasziniert vom Ozean. Der Wind wirft bedrohliche, meterhohe, schwarze Wellen auf. Das Mondlicht spiegelt sich auf den Wellenbergen. Was mache ich hier? Wie bin ich eigentlich her gekommen? Ich kann mich nicht einmal erinnern, welchen Weg ich genommen habe. Egal. Das Wasser ist so atemberaubend. Der Mond und die tobenden Wellen. Das alles ist wunderschön. Ein makelloses Bild.
Es ist, als würde der Ozean rufen, als hätte er darauf gewartet, dass ich hier im kalten Sand sitze und das schäumende Wasser beobachte. Ich sehe einen Holzstamm, der immer wieder von den Wellen verschluckt wird und dann nach oben treibt. Jetzt ist er ganz verschwunden. Dann, fünf Minuten später taucht er in mitten der tobenden See wieder auf.
Doch - Es ist kein Stamm!
Oh Gott! Ich höre mich kurz aufschreien.
Es ist ein MENSCH! Ein toter Mensch!
Sofort erwache ich aus meiner Träumerei und finde mich in der Realität wieder. Das Meer ist grausam, gefährlich, reißend. Ein Toter wird vom Wasser hin und her geschubst!
Ich wate bis zu den Knien ins Wasser, um es besser erkennen zu können. Pompiers, Police, au secours!
Von den Wellen werde ich fast umgerissen.
Nein!
Oh nein, bitte nicht!
Es ist ER. Levent ist ertrunken!
Ich muss ihn da rausholen.
Ohne einen Moment zu zögern stürze ich mich in die Fluten. Eine Welle nach der anderen reißt mich um, ich werde im Wasser umhergewirbelt, bekomme keine Luft mehr. Wo ist Levi?
Ich pruste, muss Salzwasser schlucken. Eine weitere Welle taucht mich unter. Ich spüre keinen Boden mehr unter den Füßen. Rudernd versuche ich, nach oben zu gelangen, aber wo, verdammt noch mal, ist oben? Ich werde mit Levi in den Wellen ertrinken! Warum bin ich ohne nachzudenken ins Wasser gesprungen? Was mache ich hier eigentlich?
Für einen kurzen Moment taucht mein Kopf auf. “HILFE!”, schreie ich. “HILFE! Ich bin hie-” Dann bin ich wieder unter Wasser.
Mein Fuß schlägt an einen Stein, meine Lungen füllen such mit Wasser. Dann ist mein Kopf wieder freigegeben. Ich huste. Wo ist das Ufer?
“Hilfe! Levent ist tot! Au secours!”, brülle ich mit letzter Kraft, bevor mich eine neue Riesenwelle in die Tiefe reißt. Mein Kopf schlägt im Sand auf. Wenigstens weiß ich jetzt, wo oben und wo unten ist, denke ich, bevor meine Lunge endgültig aufgibt. Ich atme das Salzwasser ein, würge, huste, aber ich komme nicht an die Oberfläche.
Um mich herum wird alles langsam weiß. Ich habe keine Schmerzen, sondern fühle nur eine tiefe, innere Ruhe. Ich sterbe.


-
Vielen Dank noch mal für eure lieben Kommentare, die mich zum weiterschreiben ermutigt haben!






Teil 1 Teil 2 Teil 3 Teil 4 Teil 5 Teil 6 Teil 7 Teil 8


© rockundliebe.de - Impressum Datenschutz