Geheimnis der Tiefe

Autor: Sternchen
veröffentlicht am: 28.06.2011


Ich hasse Möwen. Sie sind laut, gefräßig und man hat immer das Gefühl, sie würden sich über einen lustig machen. “Hahaha!”, schreien sie, während ich mit Sand nach ihnen werfe. Der Himmel wird schon wieder grau.
Früher, als wir noch in Berlin gewohnt haben, gab es keine Möwen, also war es mir egal. Jetzt sind wir nach Nordfrankreich gezogen, vor zwei Jahren. Wer den Film ‘Willkommen bei den Sch’tis’ gesehen hat, weiß ungefähr, wie es mir geht. Nur, dass sich bei mir nicht alles zum Guten gewandt hat, wie bei der Hauptfigur des Films, die nach und nach erkennt, dass es in dem verhassten neuen Wohnort eigentlich doch ganz schön ist.
Mit der französischen Sprache komme ich mittlerweile klar, aber das Wetter ist einfach grässlich. Es wechselt im Fünfminutentakt: mal scheint die Sonne, mal schüttet es aus Kübeln, oder, wie die Franzosen sagen, es regnet, wie wenn Kühe pinkeln. Generell sind die Franzosen einfach… komisch. Kleines Beispiel: In meiner Schule haben sie Deutschunterricht, und das schon fünf Jahre lang. Trotzdem kann keiner wirklich deutsch. Genauso ist es mit Englisch: Sie lernen in der elften Klasse, was Ohr, Nase und Mund heißt.
Allerdings habe ich dafür eine simple Erklärung: Sie sind unkonzentriert, weil sie vor dem Unterricht rauchen. Das tun sie wirklich. In jeder Pause rennen alle nach draußen um sich erst einmal eine Zigarette anzuzünden.
Das klingt jetzt so, als hätte ich einen allgemeinen Hass gegen alle Franzosen.
Aber das stimmt nicht. Anfangs war ich ja sehr offen gegenüber allem, was kommen sollte, doch nachdem meine Mitschüler erst auf mich zugegangen waren, wollte nach einigen Wochen keiner mehr etwas von mir wissen. Zuerst war ich noch ‘sehenswert’ gewesen, die Neue, die Deutsche, doch dann verloren meine Mitschüler das Interesse.
Auf einmal war ich zu Deutsch, wie man mir sagte. Ich rauche nicht, kiffe nicht, trinke nicht und bin vielleicht etwas weniger spontan. Zudem gelte ich in der Schule bereits als Streberin, dabei setze ich mich nach der Schule eigentlich nie noch einmal zum Lernen hin. Aber da wir jeden Tag bis 17.00Uhr oder 18.00Uhr Unterricht haben und dazwischen zwei oder drei Freistunden - was bleibt mir anderes übrig als in dieser Zeit meine Hausaufgaben zu machen oder für anstehende Tests zu lernen - ich habe ja hier keine Freunde.
Zurück zu den Franzosen: Es gibt auch viele, die nett sind. Zum Beispiel Louis aus meiner Klasse. Blöderweise traut er sich aber nicht, mit mir befreundet zu sein oder überhaupt sich mit mir länger zu unterhalten, weil er ohnehin schon so etwas wie ein Außenseiter ist. Kontakt mit mir würde sein Image nur noch mehr verschlechtern.
Warum ich überhaupt in Frankreich bin, wenn ich doch in Deutschland einen kürzeren Schultag, Freunde und konstant bleibendes Wetter hatte?
Mein Vater hat hier eine Arbeitsstelle bekommen, und so mussten wir, also ich, meine Mutter und meine achtjährige Schwester mitkommen, und wie es aussieht werden wir für immer hier bleiben müssen. Na ja, zumindest muss ich noch ein Jahr warten, bis ich volljährig bin. Aber so viel sei gesagt: Ein Jahr kann unendlich lang sein.
Mein Vater sieht das anders – ach, mein Vater, was weiß der schon... Er ist ein totaler Optimist und will immer aus allem das Beste machen. Sein Haar zeigt schon die ersten grauen Stellen auf und um die Augen hat er Lachfalten. “Das wird bestimmt super!”, sagt er immer, wenn sich irgendein neuer Lebensumstand ergibt. Wie damals, als er die Stelle in Frankreich bekommen hat.
“Wir müssen umziehen?”, hatte ich ihn entsetzt gefragt. Was antwortet er? Genau. “Das wird bestimmt super.”
Meine Mutter ist verständnisvoller, steht aber in jeder Hinsicht immer voll hinter ihm. Sie hat also damals eine krause blonde Haarsträhne um den Finger gewickelt und gesagt: “Schatz, wenn euer Vater sagt, es wird super, kann er doch so falsch nicht liegen. Du musst dich eben noch mit der neuen Situation anfreunden.”
Dann wäre da noch meine Schwester, Elisa. Sie ist wie gesagt acht Jahre alt und ist, egal wo sie hinkommt, sofort jedermanns Liebling. Ihre blonden Löckchen sind meist zu einem kleinen Pferdeschwanz gebunden und sie lächelt permanent. Außerdem ist sie recht schlau für ihr Alter, kurzum, der Stolz meiner Eltern.
Ganz im Gegensatz zu mir. Ich heiße Klara und bin in unserer durchgeknallten Immer-fröhlich-Familie die einzig Normaldenkende, das heißt, ich bin eher pessimistisch. Ich bin siebzehn Jahre alt, 1,70m groß, habe braune Haare und braune Augen. Alles in allem unscheinbar. Mittelgroß, mittelklug, mittelsportlich, weder dürr noch dick, einfach immer Mittelmaß.
Oft sitze ich wie jetzt am Strand und lasse mir das viel zu salzige Wasser ins Gesicht spritzen. Es ist eben der Ozean, und nicht die Ostsee.
Da aber jetzt Wind aufkommt und es - schon wieder - nach Regen aussieht, beschließe ich, nach Hause zu gehen. Ich werfe den Möwen noch einen verächtlichen Blick zu und mache mich zu Fuß auf dem Heimweg. Ich muss schließlich nur einige Minuten laufen. Der Sand unter meinen Füßen ist kühl und feucht, der Wind bewegt die kargen Äste der Sträucher.
Ich gehe gerade am Supermarkt vorbei, SUPER-U, und überlege, ob ich noch etwas einkaufen muss, als der Regen einsetzt. So heftig, dass ich beschließe mich unter dem Vordach des besagten Einkaufcenters unterzustellen.
Viele Menschen drängen sich an mir vorbei, es ist Montagabend und sie wollen für die ganze nächste Woche einkaufen.
Eine dicke Frau mit Kleinkind rammt mich mit ihrem Einkaufswagen, ein älterer Mann verstaut seine Einkäufe in einer Tragetasche.
Plötzlich wird mir schwindelig. Die Geräusche um mich herum nehme ich nur entfernt war. In meinem Kopf rauscht es. Oder ist es das Meeresrauschen? Auf einmal ist mir furchtbar kalt und es flimmert schwarz vor meinen Augen. Dann falle ich.

“Ca va?”, höre ich eine Stimme rufen. Über mir sehe ich einen Typen, der mich scheinbar aufgefangen hat, sonst läge ich jetzt wohl mit dem Kopf auf dem Asphalt.
“AU, verdammter Mist.”, fluche ich leise auf Deutsch. Ich fluche nur auf Deutsch, denn die Franzosen benutzen solche Schimpfwörter wie ‘Putain de merde’ und das ist mir dann doch zu pervers. Außerdem fand ich es immer praktisch, nicht verstanden zu werden.
“Du bist Deutsche?”, fragt der Typ. “Geht’s dir gut?” Er spricht deutsch. Akzentfrei. Wie lange habe ich kein Deutsch mehr gehört, außer vielleicht im Deutschunterricht in der Schule? Irgendwann haben wir angefangen, auch zu Hause Französisch zu sprechen, warum auch immer.
“Ja, weiß nicht. Ich kann bestimmt gleich wieder aufstehen. Ist sicher nur der Kreislauf oder so.”
Ich sehe ihn mir näher an. Er hat tiefschwarzes Haar und dabei so grüne Augen, wie ich sie noch nie gesehen habe. Trotzdem kommt er mir bekannt vor. Geht er auf mein lycée? Wenn ja, dann habe ich ihm zumindest noch nie in die Augen gesehen. Wow. Grüner geht’s nicht. Ob er Kontaktlinsen trägt?
Mir wird bewusst, dass ich mit meinem Kopf auf seinen Beinen liege, während er kniet und mich die Einkäufer neugierig anstarren.
Ich richte mich schwankend auf. Er steht auch auf und nimmt meinen Arm. “Willst du mit mir eine Cola trinken gehen? Dann geht’s dir bestimmt gleich besser.”
“Ja gerne.”, nehme ich das Angebot an. Ich muss unbedingt mehr über ihn herausfinden. Er ist ein Gentleman, sieht obendrein noch gut aus und ist supernett. In den zwei Jahren in Frankreich habe ich bis jetzt niemanden wie ihn getroffen. In Deutschland auch nicht, wenn ich es mir recht überlege.
Wir setzten uns in das Café direkt neben dem Supermarkt und er bestellt zwei Cola. Die Einrichtung ist eher rustikal. Die Tische sind aus dunklem Holz, ebenso die Stühle. Die Lampe an der Decke verströmt gelbliches Licht und an den weißen Wänden hängen Landschaftsgemälde und Stillleben.
“Ich heiße Klara.”, sage ich schließlich, um das Schweigen zu brechen.
“Levi.”, stellt er sich vor.
“Woher kommst du? Den Namen habe ich noch nie gehört.”
“Kurzform von Levent.”, erklärt er knapp und übergeht die Frage nach seiner Herkunft. Ich schweige und sehe ihn an. Er sieht nicht exotisch aus, das ist schon einmal klar. Aber allein schon auf Grund der Tatsache, dass er so gut deutsch spricht, kann er wohl unmöglich ein Franzose sein.
“Bist du auch Deutscher?”, frage ich.
“Ja, ich bin in einem kleinen Ort an der Nordsee groß geworden, mein Vater ist Deutscher, aber meine Mutter ist Französin und darum sind wir schon seit mehreren Jahren hier.”, antwortet er. Ich nicke.
“Wie fandst du es an der Nordsee? Ich für meinen Teil mag das Meer nicht sonderlich.”
Er sieht mich nachdenklich an. Mit seinen wunderschönen, grünen Augen. Er trägt ein weißes Hemd und einen dicken, hellgrauen Schal, der nicht so richtig dazu passt, dabei ist es gar nicht so kalt, dass er einen bräuchte.
“Warum? Bist du wasserscheu?”, dabei zucken seine Mundwinkel ein bisschen.
“Nein, aber, ich weiß auch nicht so richtig. Ich mag die Möwen nicht…”
“Du magst das Meer nicht, weil es Möwen gibt?”, fragt er nochmals verwundert und rückt auf seinem Stuhl etwas nach vorn. “Aber die Möwen sind gar nicht im Meer. Die fliegen darüber.“
“Na gut…”, lenke ich ein. “Ich mag es nicht, weil es salzig ist und nass und weil ich vielleicht … ich kann nicht schwimmen.” Warum habe ich ihm das gesagt? Das sage ich sonst keinem.
Er sieht für den Bruchteil einer Sekunde so aus als müsse er gleich loslachen, seine Augen blitzen und sein Mund umspielt ein Grinsen, doch ich kann nicht leugnen, dass mir das gefällt. Dann jedoch presst er die Lippen aufeinander und beherrscht sich.
Die junge Kellnerin stellt mit einem Lächeln die Getränke auf den Tisch, fragt, ob wir noch einen Wunsch hätten. Levi verneint dankend.
“Ich dachte das lernt man in der Schule.”, wendet er sich wieder an mich, als die Dame zum nächsten Tisch weitergegangen ist
“Ja, schon.”, vor Peinlichkeit hätte ich mir beinahe meine Cola über die Jeans gekippt. “Ich kann es ja auch ein bisschen, im Schwimmbad. Aber nicht im Meer. Wegen den Wellen.”
“Aha.”, sagt er und fügt dann hinzu, wahrscheinlich um zu sagen, dass es mir nicht peinlich sein muss: “Ich kann nicht Fahrrad fahren.”
“Ehrlich?”, frage ich. Er nickt und lacht, trinkt einen Schluck.
“Ja und ich hasse längere Zug- oder Autofahrten.”, erklärt er. Dann schweigen wir wieder eine Weile.
“Hast du eigentlich Geschwister?”, fragt er. Ich nicke.
“Ja, eine kleine Schwester. Und du?”
“Ich hab - AH!”, sein Gesicht ist plötzlich schmerzverzerrt, wird erst kreidebleich, dann knallrot. Er krampft zusammen.
“Wie spät ist es?”, keucht er, die Hände zu Fäusten geballt. Ich sehe rasch auf die Uhr. “Halb sieben.”
Er stöhnt. Scheinbar hat er wirklich starke Schmerzen. Sein Atem geht unregelmäßig und pfeifend und auf seiner Stirn haben sich Schweißperlen gesammelt.
Mittlerweile sind auch andere Restaurantbesucher darauf aufmerksam geworden. Eine ältere Frau hält sich erschrocken die Hand vor den Mund, der Mann am Nebentisch will aufstehen und seine Hilfe anbieten.
“Ich muss… nach Hause!” Er kramt hektisch in seiner Hosentasche und legt etwas Geld für die Cola auf den Tisch.
“Was ist los? Soll ich dich nach Hause begleiten? Musst du irgendwelche Medikamente nehmen?”, frage ich und sehe mit Schrecken zu, wie er sich auf seinem Stuhl krümmt. “Soll ich den Notarzt rufen?”
“Nein!”, ächzt er. “Ich muss nur nach Hause. Ich gehe allein. Wir sehen uns hoffentlich … arh … mal wieder.”
Dann steht er auf und verlässt so schnell es sein Zustand erlaubt das Restaurant. Oh Gott, hoffentlich passiert nichts.
Wenn doch, bin ich Schuld. Vielleicht hätte ich doch mit ihm mitgehen sollen, dann hätte ich wenigstens im Notfall doch den Notarzt rufen können.
Warum habe ich das nicht gemacht?



-
Ich freue mich wie immer über Kommentare ;)





Teil 1 Teil 2 Teil 3 Teil 4 Teil 5 Teil 6 Teil 7 Teil 8


© rockundliebe.de - Impressum Datenschutz