Geheimnis der Tiefe - Teil 4

Autor: Sternchen
veröffentlicht am: 13.08.2011


Levents Mutter führt mich wortlos durch den hellblau gestrichenen Flur ins Wohnzimmer. In der Mitte des hellen Raumes liegt ein riesiger Teppich mit rot-orangem Flickenmuster, an dessen einer Seite ein schwarzes Stoffsofa, auf der anderen Seite, gegenüber, ein Fernseher steht. Gleich neben der Tür führt eine hölzerne Treppe ins Obergeschoss, die restlichen Wände werden fast vollständig von großen Bücherregalen aus dunklem Holz eingenommen. Insgesamt wirkt die Einrichtung des Hauses einfach, aber dennoch sehr elegant, eine merkwürdige und doch harmonische Mischung aus rustikal-antiquiert und modern.
Ich bin klug genug, nicht nachzufragen, was ich hier soll. Zudem wüsste ich nicht einmal, wie ich diese Frage formulieren sollte.
“LEVENT!”, ruft Rhea plötzlich, sodass ich erschrocken zusammenzucke. “Komm sofort nach unten!”
“Nein.”, höre ich Levis Stimme. “Mir geht’s nicht so gut.”
“Komm jetzt!”, ruft seine Mutter nochmals.
“Setz dich doch.”, fügt sie dann in beinahe übertrieben freundlichem Ton, an mich gewandt hinzu. Vorsichtig und angespannt setze ich mich aufs Sofa, jederzeit bereit, aufzuspringen, wenn es denn nötig werden sollte. Polternde Schritte sind auf der Treppe zu hören. Von mehreren Personen. Zuerst kommt Levent herunter, ihm folgt ein rundlicher Mann mit blauen Augen, dunkelblondem bis weißem Haar und Dreitagebart, in dem ich seinen Vater vermute.
Levent erschrickt, als er mich sieht. Dann hellt sich seine Miene merklich auf.
“Ist sie…”, beginnt er.
“Ja, tatsächlich, sie ist noch bei Bewusstsein! Levent, was hast du dir dabei gedacht - hast du irgendwelche Gefühle für dieses Mädchen?”, zischt Rhea vorwurfsvoll. Ihr hübsches Gesicht hat rote Flecke bekommen und ihre Augen blitzen wütend. Würde sie mich nach meinen Gefühlen für ihn fragen, würde ich lügen…
Levi zuckt nur mit den Schultern. „Du hast mich ja nicht zu Wort kommen lassen!“
“Wovon redest du?”, fragt der Mann. Auch er hat einen dicken Schal um den Hals gewickelt, erst jetzt fällt mir auf, dass auch Rhea einen trägt.
“Dieses Mädchen war mit deinem Sohn die letzten Tage zusammen.”, erklärt Rhea – aha, der Mann ist tatsächlich Levis Vater. “Ihr ist schwindelig geworden und sie läuft bei Mondschein zum Meer!”
Der Mann zieht die Augenbrauen zusammen und holt scharf Luft.
“Weißt du was Junge? Das darfst DU jetzt alleine klären.”, schimpft Rhea. “Ich hätte ihr fast die Flüssigkeit aus dem Fläschchen gegeben!” Sie geht mit schnellem Schritt Richtung Tür und zieht ihren Mann am Ellbogen mit sich.
Ich höre sie leise diskutieren, kaum haben sie die Tür hinter sich zugezogen. Fragend – und zugegebenermaßen auch etwas ängstlich sehe ich zu Levent. Seine Wangen und Ohren sind rot angelaufen, die ganze Sache scheint ihm unangenehm zu sein.
„Äh, wahrscheinlich hast du jetzt Angst – vor mir – und das tut mir Leid. Aber ich kann dir versprechen, dass wirklich keine Gefahr für dich besteht.“
Er setzt sich zu mir aufs Sofa und sieht mich schuldbewusst an. Eine Weile schweigen wir beide. Mir wird klar, dass ich diesen Moment ausnutzen muss, um das Gespräch in die von mir gewählte Richtung zu lenken.
Ich atme tief ein und fahre mir mit der Hand ein paar Mal nervös durchs Haar.
„Levent, bitte erkläre mir, was genau los ist.“
„Wenn du erst mal eine Nacht drüber schlafen willst und morgen erkläre ich dir alles in Ruhe…“, fängt er an.
„Nein, ich will es jetzt wissen.“
Vom Flur her dringen die gedämpften Stimmen Levis Eltern durch die Tür.
„wird Zeit – ausgerechnet – Sohn – was – kompliziert – “
Levent schließt kurz die Augen und fängt an zu erklären:
„Es gibt so eine Art ‘Naturgesetz’. Das besagt, dass Meermenschen und Landmenschen sich gegenseitig nicht lieben oder überhaupt irgendwelche Gefühle füreinander empfinden können. Eher herrscht eine gewisse, naja, Gleichgültigkeit. Es ist einfach so. Als ich dich gesehen habe, dachte ich zuerst, du bist ein Meermädchen, weil du mich irgendwie… fasziniert hast und ich habe… ich bin… ach, egal.”, er atmet geräuschvoll aus und sieht mich prüfend und nachdenklich an. Ich halte seinem Blick stand und merke, dass mich der Blickkontakt beruhigt.
Er spricht weiter: “Das, was du bist, ist äußerst selten. Meistens sind Landmenschen, die so sind wie du, wasserscheu. Sie sind aber dennoch irgendwie mit dem Wasser verbunden, ich nehme mal an, du hast schon, bevor du mich kennen gelernt hast, Zeit am Meer verbracht.” Ich denke an die vielen Stunden am Strand, und wie ich Sand auf die Möwen geworfen habe und darüber nachgedacht habe, wie sehr ich den Ozean doch hasste.
“Was meinst du mit ‘Menschen, die so sind wie ich’?”, frage ich.
“Das Besondere an diesen Menschen ist, dass sie sich mit Meerleuten verbunden fühlen können, sie hassen und sie lieben können und ebenso umgekehrt. In der Regel sind sie selbst Nachfahren von Meermenschen.“
Ich muss da wohl eine Ausnahme sein. Vielleicht ist das hier auch nur ein Traum… Aber es passt alles – irgendwie.
“Und du bist also so etwas wie ein ‚Wassermann‘? So richtig mit Fischschwanz und allem?”, frage ich vorsichtig, obwohl ich eigentlich Angst vor der Antwort habe.
Er lacht kurz auf. “Sehe ich aus wie eine Nixe?” Ich sehe ihn verständnislos an und verschränke meine Finger miteinander, um nicht mehr mit dem Reisverschluss meiner Strickjacke zu spielen.
“Entschuldigung. Natürlich habe ich keinen Fischschwanz. Nur Nixen haben den, Meerleute nicht. Nixen sind auch völlig grün und haben grüne Augen, im Gegensatz zu uns. Wir haben immer blaue oder graue Augen, wie mein Vater. Aber meine Urururgroßmutter mütterlicherseits ist eine Nixe, ich habe meine Augenfarbe von ihr geerbt.”
Ich nicke nur. Meine Finger zittern und ich habe eine Gänsehaut bekommen, wobei ich nicht weiß, ob es daran liegt, dass Meermenschen und Nixen für mich eigentlich unter die Kategorie ‚Märchenfiguren“ gehören, oder daran, dass er während seiner Schilderung noch näher zu mir gerückt ist.
Ich versuche mir meine Verwirrtheit nicht anzumerken und frage so cool wie möglich:
„Ach und unter diesen Wollschals, die ihr tragt, verdeckt ihr dann die Kiemen?” Irgendwie hört sich meine Stimme mehr piepsig an als lässig und unbeeindruckt.
“Nein, ich bin ja schließlich auch kein Fisch. Ich atme durch die Lunge, wie ein anständiges Säugetier, allerdings kann ich mit Sicherheit länger die Luft anhalten als du.”, schmunzelt er, allerdings sieht auch er alles andere als entspannt aus.
“Und der Schal?”
“Wir müssen einmal in sieben oder acht Stunden ins Wasser, sonst fängt die Haut an zu brennen, zumindest fühlt es sich so an. Am Hals fängt es zuerst an zu kribbeln, darum trage ich ein nasses Tuch um den Hals und darüber den Schal. Außerdem… Wenn man längere Zeit nicht im Wasser ist, dann sollte man seinen Hals bedeckt halten.”
Langsam wickelt er seinen Schal ab, dann das Halstuch. Ich unterdrücke einen erschrockenen Schrei und weiche ein Stück zurück. An den Seiten, rechts und links neben dem Kehlkopf ist sein Hals dunkelrot und an einigen Stellen sogar schwarz. Die Haut wirft schleimige Blasen. Er wickelt das Tuch wieder auf. Ich bin immer noch entsetzt und – ja, ich gebe es zu - etwas angewidert.
“Denk nicht mehr dran, du kannst weiter fragen. Ich bin wirklich froh, vor dir nichts mehr geheim halten zu müssen.”, fordert er mich auf.
Trotzdem dauert es noch eine Weile, bis ich mich darauf konzentrieren kann, meine nächste Frage zu stellen. Ich komme mir vor, wie in einem schlechten Horrorfilm, in dem man sich am liebsten Augen und Ohren zuhalten will, es aber trotzdem nicht tut. Obwohl ich beim besten Willen nicht sagen kann, dass ich noch Angst habe, mit Levent so nah an meiner Seite.
“Warum hat mir deine Mutter diesen Trank nicht gegeben? Ja, jetzt verstehen wir uns gut und ich werde sicher nichts ausplaudern. Aber das kann sich ändern. Keine Sorge, ich werde dich nicht verraten oder so, nur woher weiß das deine Mutter?”
„Ich wusste, dass das kommt. Ich hätte es dir gern zu einem anderen Zeitpunkt gesagt, vor allem nicht jetzt, wo du dich wahrscheinlich vor mir fürchtest oder sogar ekelst.“
Er lässt mir keine Pause, in der ich protestieren könnte, sondern spricht gleich weiter: “Ich mag dich sehr. Mehr, als du es dir wahrscheinlich denken kannst.“
„Ich mag dich auch.“, gebe ich vorsichtig zu, noch ist mir die Bedeutung seiner Worte nicht bewusst.
Als ich es dann begreife, und ein erstauntes und überraschtes Gesicht mache, hat er schon längst: „Ich weiß.“ gestammelt, was mich beinahe noch mehr verwirrt, als ich ohnehin schon bin.
„Denn wenn wir uns einmal – tja – verlieben, bei Meermenschen heißt das „binden“, beruht die Liebe auf Gegenseitigkeit.“, fährt er rasch fort. „Und sie steht fest. Für immer! Bei uns gibt es das nicht, unglücklich verliebt sein, und auch nicht, dass jemand drei Ehen hat. Wenn man die ‘Eine’ findet, bleibt es dabei.”
„Willst du damit sagen…?“, fange ich an, wage es aber nicht, meinen Satz zu beenden. Zu absurd scheint mir mein Gedanke.
„Ich will damit sagen, dass ich dich auch in fünfzig Jahren noch sehr, sehr gern haben werde.“
“Halt mal.”, unterbreche ich ihn, als ich merke, dass ich rot werde. “Ich bin siebzehn, hatte noch nie einen festen Freund und soll jetzt für immer mit dir zusammen sein? Dich heiraten und irgendwann mit dir alt werden? Nur weil du mir sagst, dass du der ‘Eine’ oder der ‘Richtige’ bist? Du bist ein bisschen sehr selbstgefällig.”
Meine gemurmelten Worte klingen weniger ausdrucksstark, als ich es vorgehabt hatte, zu stark ist die Freude über seine Liebeserklärung.
Er seufzt. “Noch nie darüber nachgedacht, warum für dich bis jetzt noch kein Junge in Frage kam? Ich kann es dir zeigen.”
Langsam kommt er mit seinem Gesicht näher. Ja, bestimmt ist er der Richtige. Immerhin ist das Meermann-Naturgesetz. Seine Lippen sind nur noch wenige Zentimeter von meinen entfernt. Aber - Moment - will ich ihn überhaupt küssen? Irgendwie geht mir alles zu schnell. Soll ich ihn wegstoßen? Woher nimmt er eigentlich so plötzlich dieses Selbstbewusstsein?

...
Ja, ich lebe tatsächlich noch und habe es sogar geschafft, weiterzuschreiben ;)
ielen Dank für eure Kommentare und eure Geduld!
Tja, der Teil ist leider etwas trocken geraten, da ja die vielen Erklärungen kommen mussten; ich hoffe, es ist euch nicht zu "fantasie-haft" geworden :)
Bis zur Fortsetzung!







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