Geheimnis der Tiefe - Teil 3

Autor: Sternchen
veröffentlicht am: 21.07.2011


“Was hast du dir dabei gedacht?!”, grollt eine zornige Stimme. Meine Ohren rauschen und die wütenden Worte scheinen weit entfernt. Mühsam zwinge ich mich dazu, meine Augen einen Spalt breit zu öffnen. Levi sieht mich mit zusammen gezogenen Augenbrauen an. Jetzt wird mir alles klar.
Levi ist Gott!
Er ist gar nicht ertrunken, sondern übers Wasser gelaufen. Das zumindest ist der erste Gedanke, der für eine Sekunde in mir aufblitzt. In meinem Kopf brummt es, mein Hals brennt ich huste. Mir ist schlecht und mein Fuß tut weh.
“Wenn das der Himmel ist, nehme ich doch lieber die Hölle.”, krächze ich. Meine Stimme klingt matt. “In der Hölle soll es wenigstens warm sein.”
Hoffentlich kann Levi das für mich regeln, so als Gott, meine ich. Ich habe ja sozusagen Connections, wenn ich Gott persönlich kenne. Fast schon muss ich über meinen eigenen dummen Witz lachen.
“Lass die blöden Scherze! Du bist nicht im Himmel!”, knurrt Levi. “Weil ich dich, verdammt noch mal, rausgefischt habe. Was machst du denn mitten in der Nacht im Wasser? Zumal du nicht schwimmen kannst! Weißt du, was hätte passieren können?”
Ich fange an zu weinen. Ich bin nicht tot: mir tut alles weh, ich kann kaum atmen, weil ich fast ertrunken wäre und Levent hasst mich. Er sieht mich erschrocken an. Jetzt ist sein Blick ganz sanft.
“Ich wollte dich retten.”, schluchze ich. “Du warst doch ertrunken, du warst doch ertrunken!”
Fast schon liebevoll ist sein Gesichtsausdruck, als er auf mich herabsieht, den Mund zu einem besorgten Strich verengt. Er gibt mir Mut weiter zu reden.
“Ich weiß auch nicht, was ich hier mache. Ich hasse das Meer. Aber ich hatte auf einmal das Gefühl, ich müsse herkommen. Als ob es mich… ruft.” Levent sagt nichts. Erstaunt schnappt er nach Luft und für einen kurzen Augenblick glaube ich fast, sogar Freude in seinem Gesicht wahrzunehmen, dann weiten sich seine Augen entsetzt.
“Und dann warst du da und ich dachte, du bist tot!”, wieder laufen mir Tränen über die Wangen.
“Ich kann auf mich selbst aufpassen!”, fährt Levent mich an und geht. Immer schneller werden seine Schritte, bis er schließlich nur noch ein schwarzer Schatten vor dem dunkelblauen Himmel ist. Während ich im Sand liege. Kalt, nass und fast ertrunken.
Ich richte mich auf und hinke langsam nach Hause. Mein linkes Bein ist am ganzen Unterschenkel von dem Stein aufgeschrammt.
‘Morgen gehe ich nicht zur Schule.’, beschließe ich. ‘Ich sage einfach, dass mir schlecht ist.’
Ich schlafe unruhig in den letzten Stunden dieser Nacht. Ich träume vom Wasser, was mich ruft und mich dann verschluckt und von Levi. Seinem besorgten und erleichterten Blick, als ich die Augen öffnete. Und wie zornig er dann rief, er könne auf sich selbst aufpassen.

Am nächsten Morgen steht dann fest, ich muss doch zur Schule. Ich muss mit Levent reden. Immerhin hat er mir das Leben gerettet. Warum kann er überhaupt so gut schwimmen, und warum geht er nachts zum Meer? Ist er vielleicht so ein Adrenalin-Junkie, der das Gefühl braucht, fast zu sterben?
“Ca a l’air douloureux”, sagt mein Vater am Frühstückstisch und deutet mit gerunzelter Stirn auf mein Bein.
“Ich bin aus dem Bett gefallen und habe mir das Schienbein an der Bettkante aufgeschrammt.”
Ich weiß, dass sie es mir nicht glauben, aber sie fragen nicht weiter nach. Die Wahrheit ist genauso unglaubwürdig – jedoch würde es eine Menge Ärger bedeuten, sie auszusprechen. Nach dem Frühstück, welches für mich aus einer Tasse Kakao und einer Kopfschmerztablette besteht, mache ich mich missmutig auf den Weg zur Schule.
“Salut!”, begrüße ich Louis im Gang vor dem Physikzimmer. Er dreht rasch deinen Kopf zur Seite und tut so, als hätte er mich nicht gehört. Mein Auftritt gestern hat mich offenbar noch unbeliebter gemacht. Egal.
„Louis?“, versuche ich es noch einmal und zupfe ihn am Ärmel seines blauen T-shirts. Nun kann er mich nicht mehr ignorieren. Mit sichtlichem Unbehagen über diese Tatsache dreht er seinen Kopf in meine Richtung.
>>Weißt du in welche Klasse Levi geht?<<, frage ich möglichst beiläufig.
>>Ich kenne keinen Levi.<<, antwortet er und zieht die Stirn in Falten, was ihn irgendwie überlegen erscheinen lässt.
Schon will er sich wieder umdrehen.
>>Ungefähr einen Meter achtzig groß, dunkle Haare, grüne Augen…?<<, fahre ich schnell fort.
>>Keine Ahnung, kenne ich nicht.<<
Henri ist näher gekommen und grinst wissend, wobei er Louis gespielt freundschaftlich auf die Schulter klopft.
>>Aha, du und die kleine Deutsche, ja? Wie läuft’s denn so?<< Er hebt eine Augenbraue.
Louis winkt ab, dreht sich um und stellt sich vorsichtshalber in einiger Entfernung von mir in eine Ecke. Aus dem ist heute sicher nichts mehr herauszubekommen, aber er scheint Levi ohnehin nicht zu kennen.
Dafür habe ich eine andere Idee, wie ich Levent finden kann.
In der Pause gehe ich am Sekretariat vorbei, wo die Stundenpläne für die verschiedenen Klassen aushängen.
Es gibt nur eine Klasse, die gestern sowohl in der dritten als auch sechsten Stunde frei hatte, in dieser Klasse muss Levent sein. Heute in der dritten Stunde hat er laut Stundenplan wieder keinen Unterricht. Außerdem weiß ich, dass er jeden Tag eine Stunde nachsitzen muss, wegen seines Fehlens am letzten Freitag.
Ich werde also als Streberin in den salle d’étude gehen, und sagen, ich wolle dort lernen. Er kann mir nicht davonlaufen, er muss mit mir reden! Glücklicherweise habe ich zur Dritten auch frei, ich muss also nicht wieder irgendwen beleidigen, um zum Nachsitzen geschickt zu werden, wie ich es eigentlich vorhatte.

Ich warte noch, bis die Pause zu Ende ist, dann melde ich mich bei der Sekretärin an und setze mich dann auf den Platz schräg hinter Levent, welcher etwa fünf Minuten vor mir den Raum betreten hat. Ich kritzele sinnlose Sachen in mein Heft, damit die Sekretärin denkt, dass ich arbeite.
“Was habe ich dir eigentlich getan?”, flüstere ich. Keine Reaktion seinerseits.
“Es tut mir ja leid, dass du mich retten musstest.”, sage ich und starre eindringlich auf seinen Hinterkopf. Mehr sehe ich ja von ihm nicht.
“Jetzt sag doch was!”
Nun höre ich seine tiefe Stimme: “Du hast gestern gesagt, das Meer hätte dich ‘gerufen’.”
“Naja, nicht wörtlich!”, beeile ich mich zu sagen. “Keine Ahnung, vielleicht werde ich verrückt, aber ich hatte das Gefühl, ich muss dahin!” Er spricht wieder mit mir. Zum Glück.
“Machst du dich über mich lustig?”, fragt er traurig.
“Nein, nein, natürlich nicht! Warum denn? Sollte ich?”, wundere ich mich. Schließlich hat er so gar nichts Lächerliches an sich.
“Du willst mir doch nicht im Ernst weismachen, du hättest DIE nicht gesehen.”, sagt er bitter und hebt den Arm, immer noch ohne sich umzudrehen.
“Deine Hand?”, frage ich verwundert. “Was soll damit sein?”
Langsam ballt er die Hand zu einer Faust und öffnet sie wieder. Ich schüttele entsetzt den Kopf. Hauchdünne Haut ist zwischen seinen Fingern gespannt. Er hat Schwimmhäute?!
Ich - Nein! Das ist gar nicht möglich. Aber ich sehe sie klar und deutlich. Es muss ein Fake sein, Teil einer Halloween-Verkleidung aus dem Scherzartikelladen.
„Du glaubst doch wohl nicht, du könntest mir damit –“, beginne ich, als er seine Hand dreht. Seine Handfläche ist perfekt mit der dünnen Hautschicht verbunden, keine Anzeichen von Klebstoff oder ähnlichem. Als er die Finger spreizt werden winzige Äderchen darunter sichtbar.
“AAAAAHHHH!”, schreie ich entsetzt. Ich bin verrückt. Ich sehe Dinge, die gar nicht da sind. Mir wird schlecht. Nein, ein Trick. Es ist ganz sicher nur ein Trick.
Ich sehe nochmals hin. Sie sind noch da, aber jetzt lösen sie sich langsam in Luft auf. Vor meinen Augen.
Ich bin verrückt, irre, psychisch krank. Zitternd weiche vor meinem Hirngespinst zurück. Ich schreie erneut.
Die Sekretärin kommt in den Raum gestürzt.
“Ich bin krank. Ich bin krank. Ich bin krank.”, flüstere ich nur, bevor ich mich vor den Augen Levents und der Sekretärin übergebe.

Jetzt liege ich zu Hause in meinem Bett. Die Sekretärin hatte meine Eltern angerufen, meine Mutter hat mich abgeholt und nach Hause gebracht.
Sie hat gesagt, ich sei blass und bekäme Fieber. Dann hat sie mir einen Tee gekocht, bevor sie wieder zur Arbeit gefahren ist. Ich habe mir, als sie weg war, die Augen verbunden, aus Angst vor den Trugbildern.
Sicher drei Stunden lang liege ich schon hier in meinem Bett und versuche, die Erinnerung an diese reale Wahnvorstellung zu verdrängen. Genau weiß ich nicht, wie spät es ist, da ich die Augenbinde nicht abnehmen will, um auf die Uhr zu sehen, aber ich vermute, es ist nahmittags.
Obwohl ich müde bin, schließlich habe ich in der Nacht kaum geschlafen, zwinge ich mich, wachzubleiben. Denn sobald ich auch nur kurz schlummere, tauchen furchtbare Bilder vor meinem inneren Auge auf: Levi als großer Frosch mit spitzen Zähnen und blutunterlaufenen Augen, eine schleimige Hand, die nach mir greift…
Noch einmal atme ich tief durch und versuche meine nächsten Schritte zu planen. Wenn noch einmal etwas Derartiges passiert, so habe ich beschlossen, werde ich mich sofort in psychiatrische Behandlung begeben.
Wenn es nur nicht so real ausgesehen hätte…
Auf einmal höre ich ein Geräusch im Zimmer. Jemand ruft meinen Namen. Aber ich kenne die Stimme nicht.
“Es ist nicht da, es ist nicht da.”, sage ich mir so laut ich kann. Vor Angst kann ich mich kaum bewegen. Trotzdem komme ich mir ein bisschen dumm damit vor.
Ich nehme allen Mut zusammen und nehme die Augenbinde ab.
Eine Frau steht in meinem Zimmer. Eine fremde Frau. Ich schreie. Ein nie endender Alptraum. Grüne Augen, sie hat so grüne Augen. Bestimmt habe ich jetzt doch Fieber bekommen. Es ist nur eine Fieberfantasie.
Nicht real. Nicht real.
“Hallo Klara.”, sagt sie mit einem leichten französischen Akzent.
“Verschwinden Sie!”, piepse ich. Woher soll ich denn bitte wissen, was echt ist und was nicht? Die Frau geht nicht weg. Sie hat langes, schwarzes Haar und ihr Gesicht ist freundlich, sie scheint fürsorglich.
“Gibt es Sie wirklich?”, flüstere ich. Sie nickt.
“Das hätte ich an Ihrer Stelle auch behauptet, wenn ich meine Phantasievorstellung wäre!”, fauche ich. So ist es gut. Bloß keine Schwäche zeigen, dann verschwindet es wieder.
“Ich bin Levis Mutter, du kannst mich Rhea nennen.” Ich schweige. Zitternd ziehe ich mir meine Bettdecke zum Kinn.
“Du hast Angst, oder? Du denkst, du bist verrückt. Ich kann dir helfen.”
Ich nicke langsam. Sie holt ein kleines gläsernes Fläschchen aus der Tasche. Darin befindet sich eine milchige Flüssigkeit, die perlmuttähnlich glänzt.
“Wenn du es trinkst, ist alles wie vorher. Wenn du Levent in der Schule siehst, wird es für dich sein, als wärst du ihm nie begegnet. Du wirst alles vergessen, was dir Angst macht.”, säuselt sie.
“Eine Frage habe ich noch: Ist es real, was ich sehe oder Einbildung?”, frage ich sie. Phantasie hin oder her, gleich ist alles vorbei. Gleich.
“Real.”
Irgendwie glaube ich ihr plötzlich. Sie hat Recht, alles war oder ist real. Und es gibt sie wirklich.
Sie schüttelt das Fläschchen, schraubt es auf und reicht es mir. Meine Hand zittert. Rheas Hand umfasst sanft meine und führt sie zu meinem Mund. Ganz leise, abgeschwächt vom Autolärm, höre ich das Rauschen des Meeres.
“Halt!”, rufe ich. “Das geht nicht. Ich will Ihren Sohn nicht vollkommen vergessen! Ich will mich auch noch später an ihn erinnern können. Nur das Gruselige, mit den Flossen, das würde ich gern vergessen, bitte.”
“Trink jetzt.”, sagt sie ruhig. “Wenn du es freiwillig machst ist es sicher einfacher.”
“Das heißt ich habe gar keine Wahl?” Tränen steigen mir in die Augen. “Bitte, kannst du mir vorher meine Fragen beantworten? Ich werde es doch so wie so vergessen. Du bist es mir schuldig, wenn du von mir willst, dass ich einen Teil meines Gedächtnisses aufgebe.” Ich sehe sie an. Ihre grünen Augen spiegeln ihre Warmherzigkeit wieder und sie nickt.
“Was genau ist er, oder seid ihr?”, formuliere ich schnell meine erste Frage.
“Meerleute.“, sie weiß, dass ich eine Erklärung erwarte und fährt fort: “Es gibt Wassermänner und Wasserfrauen. Wir können uns ganz normal an Land bewegen, allerdings nur etwa acht Stunden. Einmal aller acht Stunden müssen wir ins Wasser, sonst haben wir ein Kribbeln auf der Haut und nach einiger Zeit das Gefühl, unsere Haut würde brennen.”
Das war es gewesen, darum hatte Levi solche Schmerzen gehabt.
“Und dann verbrennt ihr?”, frage ich. Bei dem Gedanken, innerlich zu verbrennen läuft mir ein Schauer über den Rücken.
Rhea lächelt. “Bis jetzt hat es keiner ausprobiert. Es wird irgendwann so unerträglich, das man ins Wasser geht.”
“Verstehe.”, sage ich beherrscht und bevor sie mir wieder den Trank reichen kann, stelle ich meine nächste Frage: “Ich habe so etwas komisches bemerkt. Vorgestern, als ich Levi zum ersten Mal getroffen hatte… Mir war schwindelig geworden und er hat mich aufgefangen… da hatte ich nachts das Gefühl, ich müsse raus zum Meer. Und dann, gestern, wurde dieses Gefühl stärker und ich bin mitten in der Nacht zum Wasser gegangen. Erst als ich dann dort war, habe ich mitbekommen, dass ich hingegangen bin, verstehst du? Ich war wie in Trance. Das Komische ist aber, dass ich den Ozean hasse. Normalerweise. Ich hasse die Wellen und das trübe Wasser… Trotzdem schien es mich irgendwie anzuziehen. Ist das immer so, wenn man mit einem Meermenschen gesprochen hat? Und hört das wieder auf, wenn ich diese Flüssigkeit getrunken habe?”
Rhea hatte die ganze Zeit schweigend zugehört.
“Dir war schwindelig? Und dann wolltest du zum Meer? War Mondschein?”
Ich nicke.
“Nein.”, murmelt sie. “Das ist nicht normal. Hast du Zeit?”
Sie packt das Fläschchen wieder weg. Gut so.
“Ich weiß nicht, warum?”, will ich wissen.
“Komm mit zu uns nach Hause, wir haben Einiges zu besprechen.”, antwortet sie.
“Ins MEER?”, frage ich entsetzt.
Rhea schüttelt lachend den Kopf.
Schnell schreibe ich meiner Mutter einen Zettel, ich sei etwas an die frische Luft gegangen und beeile mich, Levents Mutter zu folgen. Es ist nicht weit bis zu dem Haus. Ja, es ist wirklich ein Haus, ganz gewöhnlich, weiß angestrichen. Es ist das letzte vor dem Strand, also das, was man nächsten am Wasser steht. Innerlich bereite ich mich darauf vor, zum vermutlich letzten Mal den Jungen zusehen in den ich mich - ja, in den ich mich verliebt habe.

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Vielen, vielen Dank für eure Kommentare! Ich hoffe es gefällt euch noch (ich persöhnlich bin von diesem Teil nicht so überzeugt :D). Liebe Grüße!





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