Geheimnis der Tiefe - Teil 6

Autor: Sternchen
veröffentlicht am: 09.10.2011


Schnell vergewissere ich mich, dass ich wenigstens noch die ‘richtige’ Unterwäsche trage – glücklicherweise ist dem so.
Trotzdem: Levent hat mich in Unterwäsche gesehen. Und wenn er mich schon umgezogen hat, und das zu einem Zeitpunkt, an dem ich, so wie es aussieht, völlig neben mir stand, wäre es nicht denkbar, dass er diese Situation ausgenutzt hat? Was bildet er sich eigentlich ein? Nur, weil er glaubt, wir heiraten ohnehin später einmal, meint er jetzt, ein Recht darauf zu haben, mich (fast?) nackt zu sehen?
Das ist absolut das Allerpeinlichste, was mir in meinem gesamten bisherigen Leben passiert ist.
Hastig schlüpfe ich in Jeans und T-shirt, binde mir die Haare zusammen und putze mir die Zähne, dann stapfe ich wütend die Treppe hinunter und schnappe mir meine Schultasche.
“Qu’est-ce que tu fais? T’es malade!”, ruft mein Vater, als ich das Haus verlassen will.
“Ne, geht schon besser. Ich gehe zur Schule!”, und bevor er noch einen Einwand äußern kann, habe ich schon das Haus verlassen und die Tür hinter mir zugeschlagen.
An der nächsten Straßenecke kommt mir Levent bereits entgegen. Ich spüre, wie mir die Röte ins Gesicht steigt und ich möchte am liebsten weglaufen und mich irgendwo verkriechen, wo ich mich nicht zu schämen brauche. Und gleichzeitig werde ich furchtbar wütend.
“Na, hast du gestern Nacht gut geschlafen?”, fragt er scheinheilig und macht Anstalten, mir einen Arm um die Taille zu legen. Ich weiche zurück.
“Hör mal, auch wenn ich dir dankbar bin, dass du mich gestern Nacht nicht in mein Schicksal hast rennen lassen; nur weil DU glaubst, dass wir jetzt für immer und ewig glücklich zusammenleben, bedeutet das nicht, dass du mich einfach ausziehen kannst, vor allem nicht, wenn ich völlig wehrlos bin!”, mache ich meiner Empörung Platz.
“H-halt mal. Ich habe dich nicht ausgezogen! Ich bin kein Perversling, der irgendjemanden in einer Notlage ausnutzt. Auch wenn du wirklich süß aussahst, letzte Nacht, in diesem dünnen, weißen Nachthemd mit diesem verklärten Gesichtsausdruck.”
Ich übergehe seinen frechen Kommentar.
“Aber wenn du mich nicht ausgezogen hast… wie bin ich dann in den trockenen Schlafanzug gekommen?”
“Du hast erst Ruhe gegeben, als du mit den Füßen im Wasser standst, und da hat es dich glatt zu Boden gerissen. Und dann, ich dachte schon, du wärst ohnmächtig, habe ich gemerkt, dass du ganz friedlich geschlafen hast. Mitten im Wasser. Du warst gar nicht mehr wach zubekommen. Wir haben dich nach Hause gebracht und Rhea hat dir wahrscheinlich trockene Sachen angezogen. – Ich bin vor dem Haus geblieben.”, versichert er.
“Ach so.”, mache ich erleichtert und gehe schnell im Geiste durch, ob er die Geschichte erfunden haben könnte. Aber würde ich seine Mutter fragen, könnte seine eventuelle Lüge ja schnell auffliegen. Und das würde ich an seiner Stelle wirklich nicht riskieren. Ich beschließe also, ihm zu glauben. “Sag mal, hört das irgendwann auf?”
Levent scheint zu wissen, was ich meine.
“Dass du schafwandelst? Ich wusste es auch nicht, aber eine Cousine meines Vaters hat eine Freundin und die hat eine Tochter und wiederum die Schwippschwägerin der Tochter, also die Frau des Bruders des Ehemannes der Tochter der Freundin der Cousine meines Vaters - hat eine Tante und die hat einen Landmann geheiratet. Er ist so ein spezieller Fall wie du. Das gibt es nur ein paar hundert Mal auf der Erde oder so, also hatten wir Glück, jemanden im entfernten Bekanntenkreis zu haben -”
“Also was denn jetzt?”, falle ich ihm ins Wort. “Ihr kennt irgendwoher eine Meerfrau, die einen Landmenschen zum Ehemann hat. Und weiter?”
“Wir haben sie noch gestern Nacht angerufen, und sie einige Dinge gefragt. Die schlechte Nachricht: Du wirst wahrscheinlich bis zu deinem Lebensende regelmäßig nachts den Mond anbeten - und das Meer. Die Gute: Nachdem meine Bindungsphase vorbei ist, beschränkt es sich nur noch auf Vollmondnächte und irgendwann kannst du sogar bei denen im Haus bleiben.”
“Na klasse.”, sage ich und weiß nicht so wirklich, ob ich mich freuen sollte. “Sag mal, wir sind doch jetzt sozusagen zusammen, oder?”
“Du hast mir wohl gestern nicht richtig zugehört!”, tadelt Levi mit gespielt empörter Stimme. “Wir sind nicht nur zusammen, du bist die Frau meines Lebens. Und das wirst du auch noch früh genug erkennen, das entwickelt sich.“
Oh Mann, ist der selbstsicher. Da war mir der verlegene Levent von gestern lieber… Na das kann ja heiter werden…
“Mal abgesehen davon, dass ich mich jetzt noch nicht für mein ganzes Leben festlege; haben wir uns schon mal - ich meine, an alles bis gestern Abend kann ich mich ja an alles erinnern, also: haben wir uns gestern Nacht geküsst?”
Mittlerweile sind wir vor der Schule angekommen, kein Mensch ist mehr hier, das heißt wohl, wir sind spät dran.
Er schüttelt den Kopf: “Das muss ich unbedingt nachholen. Erst musste ich Depp ins Wasser springen, dann warst du weggetreten wegen dem Mond… Ach so, ich muss mich noch mal bei dir entschuldigen. Es tut mir so leid, dass ich gestern einfach abgehauen bin… Du weißt nicht, wie das ist! Mir ist das Wasser nicht wichtiger als du, aber - “
“Schon gut!”, unterbreche ich seine unsinnigen Entschuldigungen. “Mir hat ehrlich gesagt mehr Angst gemacht, dass du wegen mir deine Gesundheit aufs Spiel gesetzt hast!”
“Oh. Also, kann ich dich dann jetzt küssen?” Ich nicke entschlossen und er kommt näher. Ich spüre seinen warmen Atem im Gesicht.
>>Beeilt euch! Der Unterricht hat schon begonnen!<<, ruft auf einmal der Mathelehrer, Monsieur Blanchard hinter uns, der gerade mit einer, für sein Alter viel zu eleganten Bewegung vom Fahrrad steigt. Wir schrecken auseinander.
Das ist so typisch.
“Allez!”, fordert uns der Lehrer noch einmal auf und schiebt mich vor sich her ins Schulgebäude.
Ich muss an die Tafel, der er ist offenbar noch sauer, weil ich ja letztes Mal so ausgerastet bin. Natürlich habe ich keine Ahnung. Mitten in seiner Rede über die Wichtigkeit irgendwelcher Funktionsgleichungen, klopft es an die Tür.
>> Entschuldigen Sie bitte, kann ich an Ihrem Unterricht teilnehmen? Ich habe eigentlich Englisch bei Madame Chevalier, aber es ist ausgefallen. <<
Levent. Das kann doch nicht wahr sein… ‘Er wird an dir hängen, wie ein junger Hund’ höre ich Marinus Stimme in meinem Kopf. Na super.
>> Warum genießt du nicht einfach deine Freistunde? <<, fragt Blanchard entnervt.
>>Ich würde einfach nur gern zuhören, das ist alles. Ich interessiere mich sehr für Mathematik.<<, entgegnet Levi. Die anderen Schüler lachen.
Er hat auch eine wirklich schöne Stimme. Irgendwie… bezaubernd.
OH NEIN!
Was habe ich da wieder gedacht? Meinte Levent das mit ‘es wird sich noch entwickeln’ - dass ich anfange ihn anzuschmachten, wie die Hauptdarstellerin in einem kitschigen Teenie-Film den Footballspieler?
Der Lehrer winkt Levi mit einer unwirschen Handbewegung in den Raum, und setzt mit einem Seufzer den Unterricht fort.
In der Pause stelle ich Levi zur Rede.
“Was sollte das denn? Was machst du in meiner Klasse?”
“Hast du doch gehört, ich hatte keinen Unterricht und wollte nicht untätig auf dem Flur rumlungern…”, erzählt er beiläufig und mit der überzeugendsten Unschuldsmiene, die ich je gesehen habe.
Ich liebe ihn. Mmmh, das sieht so gut aus, wenn er diesen Hundeblick macht…
AUFHÖREN! Ich bin schließlich sauer. Sauer, sauer, sauer.
“Ähm, ich finde das, also, nicht so ganz in Ordnung. Vielleicht können wir eine gemeinsame Lösung finden?” Was soll denn das? Ich klinge schon wie mein Vater… Warum sage ich so etwas? - HALLO, ich wollte ihn anschreien!
“BLÖDMANN!”, rufe ich, um meinem Satz doch noch irgendwie etwas Stärke zu verleihen. Ein kleinerer Schüler, der gerade an uns vorbei geht, zuckt erschrocken zusammen. Levi lacht.
“Na gut. Ich gehe nicht mehr zu deinem Unterricht, aber dafür verbringst du mit mir deine Freistunde in der Sechsten. Wir treffen uns vor der Cafeteria. Ich hab auch frei.”, schlägt er vor.
Warum nicht. Wenn ich die Wahl habe, mit ihm zu essen oder alleine, was sollte ich da schon wählen…
“Also gut, ich muss in meine Klasse. Bis dann!”, er winkt mir zu und dreht sich um.

Ich habe wirklich Glück.
Die nette Englischlehrerin hat etwas früher Schluss gemacht als sonst und darum stehe ich recht weit vorn in der Essensschlange, und kann Levi einen Platz frei halten. In Frankreich geht man nicht einfach zu einer Essensausgabe, wo einem die Essensfrau irgendetwas auf den Teller klatscht, bezahlt und geht wieder. Hier läuft man an einer Art Buffet vorbei. Vorspeise, Hauptgericht, Käse und Nachspeise und Brot sind im Preis inbegriffen.
Auf den Tischen stehen Wasserkrüge, die man an einem separaten ‘Wasserspender’ auffüllen kann, wenn sie leer sind.

Ich bin gerade bei meiner Vorspeise, einer gefüllten Avocado und sehe, wie Levi sein Taschentuch aus der Hosentasche zieht. Als er meinen Blick bemerkt steckt er es schnell wieder weg.
Bescheuerte Bindungsphase. Traut er sich jetzt nicht mehr, sich vor mir die Nase zu putzen oder so?
“Ich hole mir noch eine Serviette.”, sage ich und stehe auf. Er nickt nur, während ich zu dem kleinen Kasten neben dem Wasserspender gehe und mir eine Papierserviette heraushole.
Ich drehe mich zu Levi um, und sehe gerade noch, wie er sein Stofftaschentuch schnell in den Wasserbehälter tunkt und beginnt, sich damit die Haut Oberhalb des Schals abzutupfen. Ich gehe einmal um den Tisch herum und komme von hinten auf ihn zu.
“Hilft es denn?”, meine Stimme klingt besorgter, als ich sie sollte.
Ertappt sieht er auf. “Ehrlich gesagt, nicht so wirklich, es ist eben kein Meerwasser.”
Es klingt beinahe schon wieder entschuldigend, wie er das sagt. Ich sehe auf die Uhr. Um zwei.
“Du gehst doch normalerweise in der Freistunde nach Hause!”, fällt mir wieder ein. “Du … bescheuerter… Trottel…frosch! Du kannst nicht von mir erwarten, dass ich die ganze Zeit auf die Uhr sehe um zu wissen, wann du baden gehen musst. Das ist DEINE Aufgabe. Und du gehst jetzt SOFORT!”
Zum Glück kann hier niemand so wirklich Deutsch. Die Schüler am Nachbartisch gucken schon komisch.
“Hey, du bist ja ganz schön impulsiv. Bleib ruhig. Ich bleibe hier, bei dir. Und ich kann sehr wohl selbst entscheiden, was gut für mich ist, und was nicht. Ich habe heute um 17.00 Uhr Schluss, und dann gehe ich sofort nach Hause – meine kleine Aufpasserin.”, versucht er mich zu beschwichtigen.
“Das sind mindestens neun Stunden! Du kommst jetzt mit mir zu dir nach Hause und zwar tout de suite!”
„Kann ich wenigstens noch meine Nudeln essen?“
Ich denke ja gar nicht daran, mir von ihm irgendetwas einreden zu lassen, sodass wir zehn Minuten später tatsächlich bei ihm sind.
“Du hast genau eine halbe Stunde Zeit, dann müssen wir wieder los.”, stelle ich streng fest. Er drückt gehorsam den Knopf im Wohnzimmer und springt wieder voll bekleidet ins Wasser, nur den Schal und die Schuhe hat er vorher abgelegt. Ganz so schlimm wie gestern sieht es zum Glück noch nicht aus. Dass er aber auch nicht nachdenken kann.
„Hör mal, ich finde es ja süß, dass du dich so um mich sorgst, aber du bist nicht meine Mutter.“
„Wenn du selber auf dich aufpasst…“, murmele ich peinlich berührt.
„Versprochen.“
“Warum gehst du eigentlich immer angezogen ins Wasser?”, wechsele ich das Thema, während er im Wasser seine Runden dreht. Er ist sehr schnell. Bestimmt könnte er bei den Olympischen Spielen mitmachen.
“Hättest du lieber, dass ich mich ausziehe?”, fragt er amüsiert und spielt an seinem obersten Hemdknopf herum, während er langsam zum Bettenrand kommt.
“So war das jetzt nicht gemeint, aber deine Kleidung wird doch ganz nass.”
“Na und?” Jetzt lehnt er direkt vor mir am Beckenrand. Ich knie mich auf den Boden und berühre vorsichtig und zugegebenermaßen auch etwas ängstlich die Schwimmhäute zwischen seinen Fingern. Ich hatte erwartet, sie sei schleimig und wabbelig, aber sie ist eher glatt, wir Fotopapier vielleicht.
Er streckt seinen Arm aus zu meinem Kopf und zieht ihn sanft zu sich hinunter. Seine Hand liegt an meiner Wange, und es fühlt sich für mich an wie das natürlichste von der Welt, seine nassen Finger, versehen mit hauchdünnen Schwimmhäuten, wie sie über mein Gesicht streichen. Dann legt er sanft seine Lippen auf meine.
Der Kuss wirft mich beinahe von den Füßen. Mir wird schwindelig, aber es ist ein gutes Schwindelgefühl. Nicht einmal das Meer oder der Mond könnten mich jetzt von ihm trennen.
Langsam löst er sich von mir und gleitet wieder ein Stück ins Wasser.
“Das wollte ich die ganze Zeit schon machen.”, sagt er zufrieden. Ich bin immer noch ganz außer Atem.
Dann taucht er unter, kommt wieder hoch, stützt sich am Beckenrand nach oben und steht triefend vor mir. “Und jetzt ziehe ich mir etwas Trockenes über, ich will dich noch einmal an Land küssen.”
“Musst du nicht länger im Wasser bleiben?”, frage ich.
Er deutet auf seinen Hals. Er hat ‘normale’ Farbe. “Solange ein bestimmter Zeitpunkt nicht überschritten hat, reichen zehn Minuten.”
“Dann lass uns das jetzt gleich machen.”
“Was jetzt?” Verwirrt legt er den Kopf schief.
“Du wolltest mich küssen, Trottelfrosch!”

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Fortsetzung folgt, ihr wisst ja, dass es momentan für mich etwas schwierig ist, schnell neue Teile hier einzustellen... sry.
Liebe Grüße und vielen Dank für eure tollen Kommentare!





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