Geheimnis der Tiefe - Teil 8

Autor: Sternchen
veröffentlicht am: 10.01.2012


Wenige Tage später ist es dann soweit. Ich habe meine Tasche gepackt und sitze im Auto, bei Marinus, Rhea und Levent. Früh um sieben sind wir losgefahren.
Die Müdigkeit dämpft meine steigende Aufregung und Nervosität etwas. Schon seit neun Tagen habe ich nicht mehr richtig geschlafen, bin stattdessen immer wieder mitten in der Nacht ans Meer gelaufen. Aber ich denke, Levent wird es nicht besser gehen. Jede Nacht steht er wieder am Strand, während ich mir das tosende Wasser ansehe, und jede Nacht führt er mich zurück nach Hause.
Er würde vermutlich alles tun, von dem er denkt, dass es mir hilft.
Ich weiß nicht recht, was ich davon halten soll, obwohl ich es einerseits genieße, von ihm umsorgt zu werden, ist es mir andererseits unangenehm, ihm Umstände zu machen.
Zumal ich merke, wie ich von Tag zu Tag abhängiger von ihm werde. Ich kann es mir gar nicht mehr vorstellen, irgendwo anders als in seiner Nähe zu sein.
“Sind deine Schwestern allein zu Hause, während wir weg sind?”, frage ich Levent, der mit prüfendem Blick meine nachdenkliche Miene observiert.
“Nein, sie sind bei meiner Urururgroßmutter, der Nixe, von der ich dir erzählt habe. Übrigens lässt sie dir schöne Grüße ausrichten.”
Ich denke erst, er macht Scherze.
“Die muss doch uralt sein!”
“Hundertdreiundachtzig. Nixen leben bisschen länger als wir. So um die zweihundert Jahre.”
Ich sehe ihn an. Er scheint es absolut ernst zu meinen. Das muss ich dann doch erst einmal verdauen. Zweihundert.
“Kein Grund zur Panik.”, beruhigt mich Levi. “Ich bin ja keine Nixe. Und bevor ich alt und tattrig werde, passiert noch so einiges.”
Rhea ist auf dem Beifahrersitz in eine Zeitschrift vertieft, Marinus hört eine Reportage über Fischer an der französischen Atlantikküste.
Levent streicht mit der Hand über meinen Kopf und ich lehne mich zu ihm herüber, um eingelullt von der monotonen Stimme des Radiosprechers auf seinem Schoß einzuschlafen. Ich bin viel zu erschöpft um meine Augen weiter offen zu halten.

So tief habe ich schon lange nicht mehr geschlafen. Ich wache erst davon auf, dass Levi mich sanft rüttelt. Irritiert hebe ich meinen Kopf und blicke in sein Gesicht.
“Wo sind wir? Habe ich lang geschlafen?”
“Du hast sechs Stunden geschlafen. Die ganze Fahrt über. Wir sind schon kurz vor der Grenze zu Belgien.”
“Oh.”, mache ich verschlafen.
“Ja, aber jetzt muss ich dich wecken - wir haben unterwegs zwei Pausen gemacht, dein Picknickanteil liegt auf dem Beifahrersitz.”
“Wo sind Marinus und Rhea?”, frage ich.
“Schwimmen. Wir machen eine kurze Badepause. Und abgesehen davon würde ich wirklich gern mal das Auto verlassen, sonst bekomme ich entweder eine Thrombose oder ich mache mir vorher in die Hose. Also könntest du bitte aufstehen?”, fragt er auf seine typisch ironische Art und schiebt mich sanft von seinem Bein herunter.
“OH! Bist du die ganze Zeit sitzen geblieben?”
Er lächelt und zuckt mit den Schultern. “Ich wollte dich schließlich nicht wecken!”
Dann steigt er aus, steckt sich und läuft nach einem kurzen Abstecher beim Toilettenhäuschen über die Straße zum Strand und von dort aus direkt ins Wasser.
Ich schnappe mir ein Brot aus dem Picknickkorb, klettere aus dem Wagen um mir etwas die Beine zu vertreten und setze mich schließlich in den kühlen Sand. Bis auf zwei Spaziergänger, die so weit entfernt sind, dass man gerade ihre schwarzen Umrisse erahnen kann, ist der Strand menschenleer. Nur eine dicke Möwe mit schwarzem Kopf stakst einige Meter entfernt von mir durch den Sand.
Die Viecher sind wirklich überall.
Ausnahmsweise werfe ich ihr eine Krume von meinem Butterbrot zu.

Nach der so genannten Badepause wechselt Rhea Marinus mit Fahren ab. Draußen geht die Sonne unter und verfärbt die vorbeiziehende Landschaft in Rosa- und Orangetöne. Wir fahren noch bis zu einem kleinen Dorf bei Wilhelmshaven, es ist Marinus’ Heimatort und auch Levi ist dort geboren worden.
Rhea parkt das Auto vor einem gelben Haus mit Schindeldach. Es ist dunkel geworden und ich sehe den Weg zum Strand ausgeschildert, aber der Mond ist hinter einer Wolke verborgen, sodass ich mich gerade noch beherrschen kann.
“Muriel!”, ruft Marinus laut und hämmert mit der Faust an der Tür des Hauses. “Muriel, dein Bruder steht vor der Tür!”
Die Tür öffnet sich und eine rundliche Frau mit Küchenschürze, dunkelblondem Haar und taubengrauen Augen öffnet. Sie fällt Marinus um den Hals und ruft:
“Ihr seid da, wie schön, kommt doch rein. - Und diesmal hast du sogar meine Tür stehengelassen.“, fügt sie mit einem spöttischen Seitenblick auf Marinus hinzu.
„Man tut, was man kann.“, grinst dieser.
Sie führt uns in die Küche, wo bereits der Tisch gedeckt ist.
“Soso, du bist also das Landmädchen!”, sagt sie und sieht mich prüfend an. Den skeptischen Blick kenne ich ja schon von Levis Geschwistern.
“Klara.”, stelle ich mich vor.
Während wir essen, erzählt Muriel, dass ihr Mann und ihre beiden Söhne gerade Urlaub machen, aber gern da gewesen wären. Sie sagt, an Levi gerichtet: “Ich soll dich von meinem Ältesten grüßen, er lässt dir Grüße ausrichten. Und er will deine kleine ‚Trockenpflaume‘ bald kennen lernen. – Das Wort hat er nicht von mir!“
Ich verziehe das Gesicht.

Nach einem kurzen Gespräch, ob es denn auch in Ordnung für mich sei, wird der weitere Verlauf des Abends festgelegt. Marinus, seine Schwester Muriel und Rhea wollen in irgendeiner Unterwassergrotte schlafen, wo sich die ganze Familie, bis hin zu den Großeltern und einem Urgroßvater, treffen wird. Ich bitte auch Levi mit ihnen zu gehen.
Zwar ist mir nicht ganz wohl bei der Vorstellung, in einem fremden Haus allein zu sein, aber ich denke, es ist vielleicht besser für ihn, mitzugehen, als mitten in der Nacht aufzustehen, zum Meer zu laufen (Muriel hat keinen unterirdischen Tunnel oder ein Becken im Haus), dann zehn Minuten zu schwimmen und sich wieder hinzulegen.
Außerdem soll ihm, wenn er schon einmal hier ist, nicht durch mich die Möglichkeit genommen werden, seine Familie zu sehen. Und mir könnte ein bisschen Abstand von ihm sicher auch nicht schaden, wo ich in den letzten Tagen doch jede freie Minute mit Levent verbracht habe.
„Klara“, sagt er, als wir schließlich allein in der Küche zurückbleiben. „Es gibt noch etwas, was ich dir sagen muss. Es gibt einen Grund für unsere Reise nach Deutschland, den du bis jetzt nicht kennst: Es ist wichtig, dass du dich bei einem unserer Machthaber vorstellst, wichtig für uns beide. Eine reine Formalität. Wie genau das abläuft und was wir tun müssen, können uns sicher Doris und ihr Partner näher erklären. Ich… würde mir nur wünschen, dass du darüber nachdenkst, okay?“
„Levent? Kommst du?“, ruft Rhea aus dem Flur.
„Warte mal…“, halte ich ihn zurück. „Ich muss genau wissen um was es geht.“
„Morgen Abend, wenn wir angekommen sind. Ich weiß auch nicht viel mehr, als das, was ich dir gerade gesagt habe.“
„Lev-e-ent? Wo bist du?“ höre ich Marinus.
„Mach dir nicht so viele Gedanken, ja?“, bittet er mich sanft. Dann wendet er sich zum Gehen. „Und schlaf gut.“
Ich lausche auf das Klicken der Tür, die ins Schloss fällt und sie zweimal abgeschlossen wird. Die Fensterläden wurden auch von außen verriegelt, damit ich mich nicht zufällig nachts ertränke.
Vielleicht hilft es ja, eingesperrt zu sein.
Ich beschließe, schnell einzuschlafen und lege mich auf sie Schlafcouch im Wohnzimmer, doch ich kann kaum zur Ruhe kommen, da ich fast die ganze Autofahrt über geschlafen habe und dazu in unmittelbarer Nähe zum Meer bin, sodass ich Rauschen noch deutlicher höre, als bei mir zu Hause. Ein kleiner Strahl Mondlicht sickert durch den Fensterladen.
Ich. Kann. Nicht. Hinaus.
Panik überfällt mich, ich rüttele an der Tür, an den Fenstern, nichts. In meiner Panik laufe ich die Treppe hinauf, doch auch hier sind alle Türen verriegelt. Im Bad gibt es ein Fenster ohne Fensterladen, durch das ich nach draußen sehen kann. Aber so sehr ich auch ziehe und zerre, es lässt sich nur kippen, nicht vollständig öffnen. In meinem Wahn überlege ich, es einfach eizuschlagen.
Bis plötzlich das Mondlicht verschwindet, wahrscheinlich hat sich nur eine Wolke vor den Mond geschoben, aber jetzt habe ich Angst. Ich bin eingesperrt, kann den Mond nicht sehen, komme nicht zum Wasser, wo ich sicher bin.
‘Sie kommen dich holen’, schießt es mir durch den Kopf, ‘sie kommen dich holen, wenn du nicht fliehst!’
Wer “sie” sind weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ich eingesperrt und „ihnen“ bedingungslos ausgeliefert bin.
Zitternd verstecke ich mich hinter dem Sofa. Ich muss immer in Alarmbereitschaft sein, fühle mich wie in einem Horrorfilm.
Jetzt sehe ich „sie“, schwarze Rauchgestalten kommen auf mich zu, strecken ihre kalten Finger nach mir aus.
Ich wimmere und drücke mich immer weiter in die Ecke.

Grüne Spinnen nagen an meinen Füßen, ich kann die Bisse spüren.
Nacktschnecken kriechen über mein Gesicht.
Die Wesen kratzen meine Haut, ich muss ihren fauligen Atem atmen.



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Danke noch einmal für eure Kommentare. Ich hoffe, ihr hattet ein schönes Weihnachtsfest.
Liebe Grüße





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