Die Stille, die uns umgibt

Autor: me (2)
veröffentlicht am: 29.03.2010




„Es ist Samstag!“, rufe ich ihr grinsend hinterher.

Nach ungefähr 20 Minuten fällt die Wohnungstür erneut ins Schloss.
Eine fast schon andächtige Stille breitet sich im Raum aus.
„Sie sieht wirklich glücklich aus“ höre ich nach einer Weile Davs überraschte Stimme. „So wirklich glücklich…“ Stille.
„Wann gab es bitte bei euch ein Frühstück? Mit allem, was dazu gehört und unverdorbenen Lebensmitteln?“, prustet sie auf einmal los „Oder muss ich mir doch darum Sorgen machen, wieder in der Notaufnahme zu landen?“
Auch ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen. „Ich kann einfach nicht glauben, dass sie mir vorher nichts von ihm erzählt hat, und dass mir auch nichts aufgefallen ist. Das Honigkuchengrinsen hätte man aus 10 km Abstand sehen können.“
„Meinst du, sie hat es ihm bereits erzählt?“
„Du meinst…“
Davina bestätigt meine unausgesprochene Frage mit einem kurzen Nicken.
Hat sie? Was hat Ma gesagt? Letzten Monat haben sie sich kennen gelernt. Hat sie nicht?
Nachdenklich fange ich an meine Haare zu flechten. „Ganz ehrlich, ich weiß es nicht, ich hatte keine Gelegenheit sie zu fragen.“
Eine leises Unbehagen breitet sich in mir aus. Als hätte Dav meine Gedanken gelesen, streicht sie mit ihrer Hand kurz an meinem Oberarm längs.
„Wenn es für beide wirklich ernst ist, vor allen Dingen für ihn, wird ihn das schon nicht in die Flucht schlagen. Du bist fast 19, erwachsen, kein kleines Kind mehr, das ständig nach Aufmerksamkeit verlangt und auch kein Teenie-Monster. Du bist aus dem Alter raus, in dem er die Verantwortung für dich übernehmen müssen könnte.“
Sie hat Recht. Ich gähne laut und versuche die an mir nagenden Zweifel zu unterdrücken.
Doch der unangenehme Beigeschmack bleibt.
Nach einem mehr oder minder gesprächigen „Frühstück“ verabschiedet sich Davina, die ihrer Mutter versprochen hat, mit ihr einkaufen zu gehen.
Unten beim Durchgang zu Giovannis Restaurant schreit sie mir zu, dass ich heute dran bin, zu ihr zu kommen. „Und wehe du ziehst nichts schickes an!“, holt mich ihre fröhlich drohende Stimme beim Zuklappen der Tür ein.

Und wieder wird es still in der Wohnung, nur dass ich dieses mal allein bin.
Gedankenverloren räume ich in der Küche den Tisch ab und setze mich anschließend auf das Bett in meinem Zimmer.
Von draußen kommen gedämpft die Geräusche der Großstadt herein.
Irgendwo hupt ein ungeduldiger Autofahrer, eine Fahrradklingel ertönt, Motoren Brummen und ein Flugzeug fliegt in eine unbekannte Richtung, in ein unbekanntes Land mit unbekannten Menschen, deren Gesichter ich noch nie gesehen habe, die ich nie sehen werde, die einfach irgendwo existieren, die auch nicht im entferntesten daran denken, dass es mich gibt.

Brr…ich schüttele mich, diese Gedanken werden langsam lästig. Seit wann interessiert mich das Ganze eigentlich?
Vielleicht seit dem ich begriffen habe, so richtig realisiert habe, dass die Menschen, die ich am meisten geliebt habe, mich einfach so verlassen haben?
Im Grunde ist doch jeder Mensch auf sich selber gestellt, es gibt ein paar Gesichter, die uns unser ganzes, oder zumindest den größten Teil unseres Lebens begleiten, oder begleiten sollten. Andere Gesichter, die dazu kommen, im Laufe des Lebens durch neue ersetzt werden und so immerfort, bis sie zu schemenhaften Erinnerungen geworden sind.

Erinnerung…aus der obersten Schublade des Nachttischs hole ich ein altes Familienalbum heraus.
Das letzte Mal hab ich dieses Album vor fast 6 Jahren gehalten, als ich meine Sachen in diesem damals neuen Zimmer eingeräumt habe. Ich kann mich noch an das Gefühl von Wut, Enttäuschung und Trauer, vor allem aber an das Gefühl verraten worden zu sein erinnern.
Langsam klappe ich den Einband auf und horche in mich hinein, darauf gefasst diese Gefühle wieder in mir zu spüren, aber da ist nichts. Nur Leere.

Alte Familienfotos, größtenteils mit Menschen, die meiner Erinnerung vollkommen entschwunden sind, bis auf ein paar einzelner Gesichter.
Dann sehe ich das Hochzeitsfoto meiner Eltern. Wie sie sich jung und glücklich in die Augen schauen, anstatt in die Kamera zu gucken.
Die langen schwarzen Haare habe ich von meinem Vater geerbt, ebenso wie die Körpergröße und dazu die grau-blauen Augen meiner Mutter.
Sie war wirklich unglaublich schön. Fast zwei Köpfe kleiner als mein Vater, schlank und zierlich, mit der jugendlichen Anmut einer Tänzerin.
Das Foto ist schwarz-weiß, aber ich kann mich noch deutlich an ihre wunderschönen braunen Locken erinnern, an ihre schlanken zarten Hände, die einfach unglaublich trösten konnten.
An ihre glockenhelle Stimme, wenn sie lachte oder mir Lieder vorsang.
Anstatt eines traditionellen Hochzeitkleides und Brautschleiers trägt sie ein leichtes Sommerkleid und einen Blumenkranz aus Feldblumen auf dem Kopf.
Mein Vater, ein junger Mann, von Anfang zwanzig, schaut ihr zärtlich ins Gesicht, in einem lockeren Hemd und der dazu passenden Hose. Sie sind barfuß.
Das Foto wurde im Garten meiner Großmutter gemacht. 10 Monate vor meiner Geburt.

Es kommen Fotos, wo sie ihr Haus zusammen einrichten, mein Kinderzimmer gestalten.
Der große Bauch ist schon ziemlich deutlich zu sehen. Trotz diesem wirkt die Frau, die ich die ersten sieben Jahre meines Lebens „Mama“ nennen durfte, immer noch sehr gelenkig.
Mein Vater beugt sich zu ihr hinunter und haucht ihr ein Kuss auf ihre leicht gekräuselte Nase.
Fotos von mir als Baby, kurz nach der Geburt, bei der Taufe, meine ersten Schritte in unserem Garten, noch immer an den Händen meiner Mutter mich festhaltend.
Meine Einschulung, unser gemeinsamer Urlaub, unser letzter Urlaub.
Ich schließe die Augen und rekonstruiere das Bild unseres Gartens in meinem Kopf.
Ein Haus aus roten Ziegeln, mit einem Reetdach. Zwei Stockwerke. Ein sehr helles Haus mit vielen und großen Fenstern. Nicht weit von einem Wald entfernt.
Umgeben von Kirsch- und Apfelbäumen, wunderschönen Blumenbeeten, die meine Mutter liebevoll gepflegt hatte, überwiegend mit Lilien, weißen Lilien, Tigerlilien, ihre Lieblingsblumen, nach denen sie auch mich benannt hatte.
Hinter der kleinen Böschung, abseits der Rosenbeete verbirgt sich der kleine Pfad, der zum See führt.
Meinem See, in dem ich schwimmen gelernt hatte, in dem ich mit meinen Freunden gespielt hatte.
Ich öffne meine Augen und schlage die letzte Seite des Albums auf.
Ein Foto, an einem sonnigen Sommertag an diesem See gemacht. Eine Aufnahme von uns dreien, wie wir fröhlich in die Kamera lächeln. Auf der Nase meiner Mutter sitzt ein Marienkäfer, es ist ein Farbbild.
Die Zuneigung der einzelnen Familienmitglieder ist mir plötzlich allzu deutlich bewusst und ich fühle eine Gänsehaut meinen Arm hinaufkriechen.
Ein Bild der Harmonie und Freude.

Ich habe mich schon längst aufgehört zu fragen, wieso sich alles so plötzlich verändert hatte.
Darauf würde ich nie eine Antwort erhalten, ich habe mich damit abgefunden.
Genauso wie mit dem Tod meiner Mutter bei einem Autounfall kurz vor meinem 7. Geburtstag, genauso wie mit dem Verlust meines Vaters. Obwohl man das ja nicht als einen solchen Verlust betrachten kann.
Ich erinnere mich kaum an die Beerdigung, das einzige, was mir davon im Gedächtnis geblieben ist, ist ein Meer aus gesichtslosen Menschen in schwarz und die kalte Hand meines Vaters, an die ich mich mit aller Kraft eines kleinen Kindes festgehalten habe, in der Angst auch er könnte plötzlich nicht mehr da sein.
Aber das hatte nicht geholfen. Sofort nach dem Begräbnis kam ich zu meiner Großmutter, einer alten Frau, mit schwierigem Charakter, die mich trotz ihrer Strenge über alles liebte.
Das erste Mal sah ich meinen Vater erst 4 Monate nach der Beerdigung wieder. Ich habe mich nicht getraut, so sehr ich es auch wollte in die Arme dieses plötzlich so fremd gewordenen Mannes zu laufen.
Sein Haar stand ihm wirr vom Kopf ab, er hatte sich wochenlang nicht mehr rasiert und sein Blick schien durch mich hindurchzugehen.
Er kam, um etwas mit meiner Großmutter zu besprechen.
Natürlich sollte ich davon nichts mitbekommen, aber ich lauschte an der Küchentür.
An diese Unterhaltung kann ich mich sehr gut erinnern. Es ging um mich.
Meine Großmutter war zutiefst empört und nur mühsam beherrscht meinen Vater nicht anzuschreien.
„Du kannst dem Kind nicht auch noch den Vater nehmen, André“
„Ich kann ihr momentan nichts bieten, ein Kind sollte nicht in den Bedingungen aufwachsen, in denen ich momentan lebe“
„Verdammt noch mal, reiß dich zusammen, denkst du ich hätte es leicht? Elaine war mein einziges Kind! Denkst du für mich ist es einfach weiterzumachen und zu wissen, dass meine Tochter unter der Erde liegt, noch vor mir?!
Sieh dich an, du hast eine Tochter, die deine Liebe braucht! Hör auf zu trinken, geh wieder arbeiten, sorge dafür, dass es Lilie gut geht!“
Ich merkte wie ihr Ton zusehends flehender wurde. Eine ganze Weile blieb es still.
Bis ich leise meinen Vater sagen hörte: „ Eigentlich bin ich gekommen, um zu sagen, dass ich wegfahre, für eine unbestimmte Zeit. Ich habe Frank damit beauftragt das Haus zu verkaufen. Das Geld wird er dir geben, damit du Lili versorgen kannst. Es ist besser, wenn sie erst mal bei dir bleibt, nicht für immer versteht sich, vorübergehend.“

Tränen stiegen mir ins Gesicht, ich wollte ins Zimmer stürmen und solange weinen und betteln, bis er sich es anders überlegt hätte und mich mitgenommen hätte.
Doch ich tat es nicht. Als er die Tür aufriss und aus dem Haus stürmte, bemerkte er mich nicht.
Er hatte sich noch nicht einmal verabschiedet.
Und ich? Ich dachte, er kommt wieder, jeden Tag habe ich mir vorgestellt, er würde wiederkommen, mich in seine Arme schließen, mir sagen, wie sehr er mich vermisst hatte und wie sehr er mich lieben würde.
Doch dies geschah nicht, nach und nach wurde aus dem Unverständnis und der Hoffnung Trauer, dann Wut, und jetzt—Leere.
Ich habe 3 Jahre lang bei meiner Großmutter gelebt.
Doch mit ihrer Gesundheit stad es nach dem Tod meiner Mutter nicht gut.
Eines Tages kam eine entfernte Verwandte zu ihr, Margarita, ich war da 11.
Sie bat Oma um Hilfe, da sie aufgrund eines ziemlich starken Krachs mit ihrem Vater, ich glaube sie hatte ihr Jurastudium abgebrochen und somit gleichzeitig mit einer langlebigen Familientradition, Mittellos auf die Straße gesetzt wurde.
Sie brauchte finanzielle Unterstützung und meine Großmutter suchte für mich ein „Zuhause“.
Und so arrangierten sie sich.
Zwei Jahre darauf starb meine Großmutter und ich zog mit der damals 25-jährigen Margarita in die Stadt.
Sie fand sich noch zu jung „Mama“ genannt zu werden, und auch mir war meine Erinnerung an meine Mutter fast schon heilig, deswegen habe ich einfach ihren Namen von Margarita auf Ma abgekürzt, und nannte sie vor allem in Beisein anderer Leute so, um dumme Fragen zu vermeiden.

Mit ihrer unkomplizierten, fröhlichen und lebensfrohen Art hat sie sich einen Weg direkt in mein Herz gebahnt. Sie ersetzte mir eine gesamte Familie.
Erst jetzt verstehe ich, wie schwer es für sie gewesen sein muss mit einem Kind an ihrer Backe durchzukommen, natürlich ich war kein Kleinkind mehr, aber ein pubertierender Teenager tut einer jungen Beziehung zwischen jungen Menschen auch nicht gut, und so machten sich die meisten Männer kurzerhand auf die Flucht, nachdem sie erfuhren, dass Ma noch ein Anhängsel hatte.

An meinem 14 Geburtstag erhielt ich eine Geburtstagskarte von meinem Vater, das erste Lebenszeichen nach 7 Jahren.
Und Margarita einen Brief, in dem stand, er hätte vor 3 Jahren wieder geheiratet. Seine Frau und nun auch er hätten einen nun mittlerweile 17-jährigen Sohn.

Ich war verletzt, und fühlte mich verraten.
Ich wollte den Kontakt nicht aufrecht erhalten, jedes Jahr kamen mehrere Briefe an mich zu den verschiedensten Anlässen, die ich jedoch alle ungeöffnet Ma gab.
Er schrieb auch ihr, und sie antwortet ihm, ließ ihn aus zweiter Hand an meinem Leben teil haben.
Sollte sie doch, solange ich ihn nicht zu Gesicht bekam und ihm nicht selber schreiben musste.
Er hatte eine Frau mit einem Kind geheiratet und wollte dieses Kind mit ihr auch weiter aufziehen, obwohl es nicht SEINS war!
Und nun bekam dieser unbekannte, 3 Jahre ältere Junge, all seine Liebe und Fürsorge, nach der ich mich seit Jahren gesehnt hatte. Für mich stand fest, er hatte mich verraten, mich allein gelassen und ich würde ihm das nie verzeihen.







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