Juliana - Teil 2

Autor: lucy-josephin
veröffentlicht am: 02.04.2012


Freitag

Der Wecker klingelte, das schrille Bimmeln der altmodischen Uhr weckte mich auf. Wiederwillig stand ich auf. Ich zog mein grünes Nachthemd aus und suchte mir etwas Warmes aus meinem nicht ausgeräumten Koffer. Das große Fenster war beschlagen und durch den Nebel erkannte ich den schönen Park mit den wenigen Blumen, die jetzt noch blühten. Es war Herbst und die Bäume ließen ihre bunten Blätter fallen. Der Boden verwandelte sich in einen rot-braunen Teppich, er vom Frost wie erstarrt wirkte. Die Aussicht im Sommer wäre bestimmt toll, aber im Moment verhüllte der Nebel alles. Nur noch die Trauerweide mit ihren langen, hängenden Ästen war noch zu sehen. Ich wandte mich ab, als ich ein zaghaftes Klopfen an der Tür vernahm. Dörte steckte ihren Kopf durch die Tür und sagte zögernd: „Hey, Juliana, es gibt gleich Frühstück. Kommst du?“ Ich nickte nur und ging fast schlafwandelnd hinter ihr her. Die Treppenstufen schienen sich endlos nach unten zu schlängeln, aber kurz darauf standen wir in einem breiten Korridor. Die Wände waren schneeweiß wie die in meinem Zimmer und die Türen aus dunklem Kiefernholz. Besonders fiel mir die große Flügeltür am Ende des Korridors auf. Sie war schlicht und stand ein Stück weit offen. Wir gingen darauf zu und gelangten in einen riesigen Saal, in dem Tische und Stühle standen. Das müde Lachen der Schüler und das Gekicherwaren nervenaufreibend. Schnellsetzte ich mich an den Tisch, an den sich auch Dörte gesetzt hatte und ließ meinen Blick umherschweifen. Alle die am Tisch saßen waren >Streber<. >Na, toll. Steck dich doch selber in diese Schublade. < dachte ich. Ich ließ mir ein Ei reichen und schälte es langsam. Dann aß ich es. Es war hart gekocht und schmeckte scheußlich, also ließ ich es liegen. Brotaufstriche gab es reichlich, aber ich schmierte mir nur ein kleines Honigbrot. Gregorius schaute mich besorgt an. Er stopfte alles in sich rein was ging. Er schmatzte ekelerregend und spülte alles mit mindestens einem Liter Kakao runter. Nach einer halben Stunde hatten die Anderen fertig gegessen und ihre Teller weggebracht, die Tische abgeputzt und wir gingen wieder in unsere Zimmer. Ich rannte die Treppe hoch, um nicht mit Sven reden zu müssen, der mir beim Frühstück offensichtlich irgendetwas sagen wollte. Zum Glück fragte Dörte ihn ständig nach den Hausaufgaben und ließ ihm keine Zeit, mir es zu sagen. So konnte ich die Treppen hoch und in mein Zimmer. Ich ließ mich erschöpft auf den Schreibtisch sinken und packte meine Sachen. Die hatte ich gestern nicht eingepackt, ich war einfach zu müde gewesen. Ich schaute auf die Uhr. Viertel vor Acht. Ich schulterte mir meinen Ranzen auf und mache mich daran, die Stufen wieder runter zu laufen. Jetzt verstand ich, warum hier oben keiner wohnen wollte. Aber mir war es egal. Ich verließ den Trakt der Mädchen durch die zweite Tür des breiten Korridors und ging mit Dörte, die ich auf dem Weg getroffen hatte, in den Schultrakt. Das ganze Internat war ein hässlicher Klotz von einem widerspruchsvollen schönen Park umgeben. Wirliefen durch den Park und machten einen kleinen Abstecher zum Teich, indem man, laut Dörte, im Sommer baden kann. In den ersten beiden Stunden hatten wir Chemie. Ich wollte nicht unbedingt gleich als Streberin dastehen. Ich war außerdem Mitten im Schuljahr in die Klasse gekommen und musste mir den Stoff erst einmal anschauen: Was war das Thema? Was ist schon durchgenommen worden? Die Lehrerin war unangenehm und jemand, der bei Allem und Jedem meckerte. Sie suchte sich immer die Schüler ohne Hausaufgaben und begann mit ihren Vorträgen. Diese >gute Frau< hatten wir auch in Englisch. Da war sie noch genauer. Ihre Aussprache hingegen war grottenschlecht: „Thanks.“ war bei ihr ein genuscheltes „Fängs.“ Chemie zog sich, wie zu erwarten, in die Länge. Ich musste mein Ergebnis der HA an die Tafel schreiben und zu Frau Herrmanns entsetzen war Allesrichtig. AlsdieQual endete, fing eine Andere an: die Zicken-Clique kam in der Pause direkt auf mich zu. Christina fehlte. Sie knutschte gerade Jannis ab, der ihrem Beuteschema entsprach. Aber sie schielte immer wieder zu Ray, der unentwegt dasaß und zeichnete. Er hatte schwarze, mittellange Haare, ein schmales Gesicht und meerblaue Augen. Ich wandte mich ab, als ich Fifi bemerkte. Die Clique war stehen geblieben und nur sie kam zu mir. Ihre Stöckelschuhe klackerten wackelig auf den Boden. Ihr sehr kurzer Minirock wippte hin und her und ließ mehr sehen, als ein normaler Mensch sich antun will.Sieschmissmireinen Zettelauf den Tisch und klackerte ihren Freundinnen, wenn man diese Gruppe so nennen darf, hinterher. Ich tat so als interessierte mich das kein bisschen und steckte ihn in dieHosentasche. Die Schule ging mit Französisch weiter. Monsieur Maître, unser Lehrer, kam mal wieder zu spät. Er war sehr zerstreut und fand manchmal seine eigene Klasse nicht. Und dass bei diesem Miniinternat! Insgesamt waren wir nur um die 360 Schüler. Er konnte sich nichts merken, aber Französisch konnte er überraschend gut und er ging auch richtig in seinem Element auf. Er erzählte von dem anstehenden Austausch und dieStunde ging viel zu schnell vorüber. Am Ende der Stunde packe ich noch meine Schulsachen, als Monsieur Maître mich ansprach. „Madame Juliana. Juliana Ledoux. Richtig, oder?“ „Ja.“ antwortete ich. „Ihre Eltern sind Franzosen?“ „Nein, nur meine Mutter war Französin.“ Ich wollte nicht darüber nachdenken und gerade gehen. Ich hörte ihn murmeln: „Sie war.“ War.War lebendig. Ich nahm mich zusammen. Die aufsteigende Erinnerung wurde schwächer und verschwand schneller, als sie gekommen war. Ich machte eine Runde im Park und ging zur großen Trauerweide. Ihre Äste sah ich als erstes. Dann stand ich schon vor ihr. Der Nebel machte allesganz dunkelund ließmein Haar feuerrot leuchten. Ich schob ein paar der Äste zur Seite und trat in die kleine Höhle, die der Baum gemacht hatte. Auf einer Bank am Fuße des Stammes saß ein Junge. Es war Ray, der mich mit seinen blauen Augen anstarrte. Ich fragtezögernd: „Wasmachstdu denn hier?“ „Ich zeichne.“ kam die knappe Antwort und er fing wieder an, etwas auf sein Blatt zu malen. Ich ging zu ihm und setzte mich neben ihn. Dann fragte ich: „Darf ich mal sehen?“ Er schob mir sein Blatt zu und ich erkannte im dunklen Licht, grob die Umrisse einer Frau. Als ich genauer hin sah, erkannte ich das rote Haar und das Muttermal auf dem Kinn. Er hatte mich gemalt. Nur die Augen sahen nicht so aus wie meine Augen. Seine gemalten Augen waren…anders. Ich konnte nicht sagen was. „ Die Augen…“ sagte ich, aber er nickte nur und flüsterte: „Schau mich mal an.“ Ein kalter Schauer durchlief mich. Ich hob meinen Kopf und schaute ihm direkt in die Augen. Seine fast hypnotisch wirkenden Augen hielten mich fest und wollten mich nicht mehr loslassen. Dann wandte er den Kopf ab und malte >meine Augen< neu. Ich genoss diese Zeit mit Ray. Wir sprachen nicht viel, aber wir tauschten uns trotzdem über Belangloses aus. Über die Lehrerin Frau Herrmann, das Wetter, den schlimmen Ball, der immer an Weihnachten ist und über Christina. Wir waren richtig gehässig zu ihr und dachten uns Zeug aus, was sie bestimmt schon mal gemacht hatte. Bei dem Thema Fifi, der Name passte ganz ausgezeichnet zu ihr, fiel mir etwas ein. Der Zettel! Er müsste noch in meiner Hosentasche stecken. Ich holte ihn raus, erzählte Ray von der Pause, in der ich ihn bekommen hatte und las ihn laut vor: „Juliana,Alleshat Ohren und Augen. Ich hoffe du weißt, was ich meine. Außerdem solltest du heute Nacht um 12 Uhr in dem Korridor zum Speisesaal sein. Wow, ich fürchte mich!“ „Geh da bloß nicht hin! Christina wird dich im Speisesaal einschließen und du bist bis morgen da drinnen!“ Ray hörte sich ernsthaft besorgt an. „Ach, und woher weißt du das?“ „Dörte musste schon unfreiwillig im Speisesaal übernachten.“ Ich überlegte. „Es wäre wirklich besser,wenn ich heute nicht dahin gehe.“ sagte ich und lehnte mich an Ray. Ich schloss für einen kurzen Moment die Augen: >Ray und Juliana. Hört sich nicht schlecht an. < Wir saßen bestimmt noch bis zum Abendessen auf der Bank und redeten. Es war gut, mit jemanden über meine Tante zu reden. Und er redete über seine Eltern, die stinkreich waren und keine Zeit für ihn hatten. Sie hatten Ray in das Internat gesteckt. Ich wachte auf. Es war dunkel. Jemand schloss gerade die Tür. Ein kleiner Zettel lag auf dem Nachtschränkchen. Ich machte meine Lampe an und las: „Liebe Juliana, leider haben wir das Abendessen verpasst. Du bist irgendwann, wahrscheinlich von meinen blöden Geschichten, eingeschlafen. Wollen wir uns trotzdem noch mal treffen? Ray“ Ich lächelte. Der etwas unbeholfene Brief spiegelte genau das wieder, was ich fühlte. Ich dachte noch einmal nach. War nicht Ray der, den ich mir immer gewünscht hatte? Jemand der mich so mochte wie ich war und nicht erwartete, dass ich mich seinen Wünschen beugte? Ich machte das Licht aus und kuschelte mich in mein Bett. Morgen war Samstag. Und ich hätte den lieben, langen Tag Zeit, mit Ray zusammen zu sein.





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