Symphony A - Teil 2

Autor: Jessica
veröffentlicht am: 06.02.2012


Die Reise beginnt

„Alice!“, rief eine mir bekannte Stimme zu. Onkel Nelson, dessen Ankunft so selten war, wie eine anständige Mahlzeit am Tag breitete seine Arme aus und ich fiel in seine sehnsüchtige Umarmung.
„Meine reife kleine Nichte.“, schmunzelte er. Nelson fuhr über mein braunschwarzes gelocktes Haar und streichelte sanft über meine gewölbten Pausbäckchen.
„Onkel, wo warst du bloß die letzten zwei Jahre? Mutter meinte, du kämst nicht wieder.“, lächelte ich aufgeregt und führte ihn an der Hand zu unserem kleinen Häuschen am Fluss.
„Meine Schwester war der Meinung, ich sollte mich nicht mehr blicken lassen, weil ich zu viel Großstadt-Potential mitbringen würde. Außerdem war sie immer noch sauer, das ich dich damals mitgenommen habe.“
„Aber Katherine war sehr freundlich und alle anderen Bewohner auch. Was mag Mutter nur an diesen Städten nicht?“
Nelson kratzte sich an seinem schwarzen Stoppeln und dachte scharf nach. Es sah aus, als würde er nicht nur hier zu Besuch kommen. Es war etwas anderes Wichtiges.
Drinnen schnaubte Michelle wütend, da sie wirklich dachte Nelson würde nie wieder zurückkehren. Sie fuhr über ihr rotbraunes Kleid und rückte ihr Korsett zurecht.
„Ich dachte, ich hätte mich klar genug ausgedrückt!“, motzte Michelle los und schmiss den grauen Putzlappen auf den Tisch. Sie stemmte die Arme in die Hüfte und wartete gespannt auf seine Entschuldigung.
„Michelle, ich weiß du bist sauer, aber ich bin aus einem wichtigen Grund hierhergekommen. Es wäre schön mit dir darüber allein zu sprechen.“, erklärte er behutsam, setzte seinen Mantel zurecht und schnürte sich sein Jabot neu.
„Ich habe keine Geheimnisse vor meiner Tochter.“, erwiderte sie und Nelson senkte seufzend den Kopf. Er wollte nicht, dass ich das Geheimnis auch kenne. Aber was war es? Mein Onkel hatte mir noch nie etwas verheimlicht und nun tauchte er endlich nach zwei Jahren auf und tat so, als stünde morgen das Ende bevor.
„Ich bitte dich…“, flehte er und setzte sich an den verzierten Holztisch.
Michelle schaute durch den Raum, dann zu mir und winkte mit dem Kopf nach draußen. Normalweise weigerte ich mich, aber Onkel Nelson schien es wichtig zu sein und immerhin war er immer für mich da. Wenn es wirklich so bedeutend war, würde ich es ihm nicht verübeln, mir es zu verheimlichen.
„Danke.“, raunte sie.
Ich verschwand nach draußen und wartete auf den Moment, wo beide das Haus verließen, aber es passierte selbst nach einiger Zeit nichts. Ob ich nachschauen sollte? Eigentlich lauschte ich nirgendwo und seine Ohren irgendwo hineinzustecken, die einen nichts angehen, war nie meine Art. Es war unheimlich, dass meine Mutter und mein Onkel so lange allein im Heim verbrachten. Ich setzte mich gegenüber meinem Haus auf einen Baumstumpf und stützte mit meinem Arm den Kopf. Mein Spiegelbild erschien in einer Pfütze vor mir. Jedes Mal dachte ich bei meinem eigenen Anblick daran, auch wie andere zu leben in einer Großstadt, wunderschöne Kleider zu tragen, auf Bälle gehen und neue Menschen kennen lernen. Aber Mom würde mir das nie erlauben, denn außer mir hatte sie niemanden hier. Elaina, meine ältere Schwester, ging mit achtzehn Jahren ihren eigenen Weg, lernte einen britischen Adeligen kennen und brannte mit ihm nach Irland durch. Bestimmt saß sie nun in einer Kutsche, mit einem wunderschönen Kleid und einem passenden Hut. Ihr Mann saß neben ihr und zusammen bereisten sie die Welt. Wie aufregend! So einen Traum hatte ich auch, allerdings fehlten mir jegliche Möglichkeiten. Die Luft blies mir durch mein Haar und ein angenehmer Duft drang in meine Nase. Frau Lisson machte bestimmt wieder Brote. Ich seufzte und starrte weiterhin zur Tür.
Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis Nelson mit betrübtem Gesicht aus dem Haus trat. Als er mich erblickte, lächelte er wieder und lief ein Stück weiter in den Wald hinein. Neugierig lief ich zu Mutter und fragte sie, was los wäre.
„Nichts, meine Kleine.“, beruhigte sie mich und strich mir sanft über die Wange. „Ich habe Onkel Nelson erlaubt dich mitzunehmen. Du wirst zu Katherine und in die Großstadt fahren.“
„Aber…“, stammelte ich, da es mir unverständlich war, wie er sie dazu überreden konnte. Vielleicht sah sie auch endlich ein, dass ich erwachsen geworden war.
„Alice! Hier, das ist für dich, deine Mutter soll dir beim Anziehen helfen. Es hat sich einiges geändert in der Stadt. Mit deinem Bauerkleidchen kannst du dort nicht auftauchen.“
Michelle bekam alle Einzelstücke in die Hand gedrückt und brachte sie hinein ins Haus. Onkel Nelson wartete geduldig draußen.
„Das wird nicht ganz einfach. Aber wir beide kriegen das hin.“, schmunzelte sie entschlossen und es war fast belebend sie lächeln zu sehen.
Ich nickte eifrig und sie bat mich die frisch gewaschene Chemise, Haube und Strümpfe anzuziehen. unterhalb der Knie band sie mir Strumpfbänder herum. Danach kam das Korsett, bei dem ich kaum Luft bekam. Meine Mutter band es so locker wie möglich, aber dennoch hatte ich Angst zu ersticken. Gleich danach kamen die Poschen, bei denen ich mir ein wenig albern vorkam. Sonst trug ich ein normales Kleid ohne das aufgebauschte Zeug. Sie zog noch ein Contouche darüber, allein noch die Schuhe fehlten, die Hochhackig waren. Es fiel mir schwer darauf zu gehen. Doch die Augen meiner Mutter funkelten wie Diamanten, als sie mich in dem eleganten Kleid sah, sodass ich es nicht über mich her brachte, es ihr zu sagen.
„Du siehst so erwachsen aus.“, seufzte sie verträumt.
„Ach,…“, sagte ich beschämend. „…Mutter, das ist nur einmalig, gewöhn dich lieber nicht daran.“
„Und wie machen wir die Haare?“
Ich schaute verblüfft. Was denn, das auch noch?
Michelle bat mich vor den Spiegel zu setzen und von da an begann sie meine Haare hochzustecken. Woher konnte sie das so gut? Die Frage kitzelte mich mehrere Minuten lang, bis ich schließlich nicht anders konnte, als meine Neugierde zu zeigen.
„Mutter, woher weißt du wie man sich anzieht und welche Frisuren man nimmt?“, fragte ich.
Sie seufzte kapitulierend und legte die Bürste zur Seite.
„Ich habe dir, das nie erzählt, aber…ich war einmal eine Zofe oder ein Dienstmädchen, wie immer man es auch nennen mag. Ich diente einer hohen Adeligen und sie behandelte mich schlecht. Deswegen floh ich, weit weg von dieser Stadt und lernte deinen Vater hier kennen.“
Ihr Kopf hing verträumt im Genick und es schmerzte sie, Erinnerungen abzurufen. „Das war auch der Grund, warum ich vermeiden wollte, dass du in die Großstadt ziehst, so wie deine Schwester.“
„Elaina ist nach England weggelaufen, das ist kein Vergleich.“, beruhigte ich sie, aber ihr Gesichtsausdruck zeigte die bestürzte Erfahrung mit der Großstadt. Jedoch erkannte sie nicht in meinen Augen, dass ich nicht mein ganzes Leben hier verbringen möchte.
Ich denke Michelle sah es ein wenig zu einseitig.
„Aber, mein Kind…“, lächelte sie und küsste mir aufs Haar. „Ich will nur das Beste für dich und dir deine Entscheidungen selbst überlassen, du musst mir nur versprechen bei jeder Krise mich um Rat zu fragen. Ich bin für dich da.“
Ich grinste stolz, als sie mit der Frisur fertig war und trat vor den großen Spiegel. Ich erkannte mich selbst nicht mehr. Diese markanten Proportionen in meinem Gesicht passten perfekt zu den dunklen hochgesteckten Haaren. Nur zwei große Engelslöckchen hingen vorne an meiner Schultern hinunter. Das dunkelblaue bis edelsteinblaue Kleid mit den aufgebauschten Poschen, ließ mich viel reifer wirken.
Wir packten mir noch einige Sachen für die Reise. Es war eine Zweitagefahrt. Onkel Nelson hatte seine Kutsche ein Stückchen weiter abgestellt. Bevor wir am Abend losfuhren, umarmte ich sehnsüchtig meine Mutter.
„Pass auf dich auf, Große.“, mäßigte sie mich und strich mir zart über mein gestecktes Haar.
„Das werde ich versprochen.“
„Komm mir bloß wieder zurück.“
Sie schmunzelte stolz und wank mir zu, als Onkel Nelson und ich das Dorf verließen. In der Kutsche war es gemütlich, edle und gepolsterte Sitze. Vorne bei den Pferden waren einige Soldaten dabei, die Gewehre in den Händen hielten. Mich schauderte es, sie bewaffnet zu sehen. Der Kutscher schlug in die Zügel und der Wagen fuhr los. In der Nacht konnte ich nicht ein einziges Auge zudrücken, auch wenn wir rasteten. Ständig waren Geräusche, Jaulen und ein Heulen zu hören. Die Wachen beruhigten mich zwar, in dem sie sagten, es sei nur ein Tier gewesen, aber selbst wilde Tiere verwandeln sich in Bestien. Am zweiten Tag, als wir bis zur Stadt nur noch einen Wald zum durchquerten hatten, rasteten wir abends an einem geeigneten Ort.
„Onkel, was hast du Mutter erzählt, als ihr solang im Haus zusammen wart.“, fragte ich aus Neugierde.
„So lange waren wir überhaupt nicht drinnen. Vielleicht gerade mal fünfzehn Minuten.“, beklagte er sich und schaute auf seine vergoldete Taschenuhr. Die Zahlen waren römische und im Deckel war etwas eingraviert. Vielleicht hatte Katherine ihm die Uhr geschenkt.
„Du lenkst vom Thema ab.“, bemäkelte ich und ver-schränkte die Arme vor meiner Brust, womit mir meinen Korsett Probleme breitete.
„Alice, es ist besser, dass ich es dir nicht hier sage. Wenn du bitte warten könntest, bis wir zu Hause sind.“, sagte er und klang nicht sehr überzeugend. Aber ich gab Ruhe, er meinte es ernst und seine Wut wollte niemand schüren.
Als wir mitten in der Nacht doch noch beschlossen weiterzufahren, kribbelte es in meiner Hand und daraus wurde dann ein Brennen. Nervös hielt ich sie aus dem Fenster und kühlte sie damit.
„Alles in Ordnung?“, fragte Nelson besorgt, aber mein aufmunterndes Lächeln, ließ ihn aufseufzen.
Mein Kopf sank ständig auf meine Schulter und meine Lider waren furchtbar schwer. Kurz bevor ich einschlief, hielt die Kutsche ruckartig an und ich fiel nach vorne auf den Schoß meines Onkels. Ein Soldat schrie etwas, aber niemand verstand es. Nelson stieg besorgt aus der Kutsche und ging vorne zu einem der Soldaten hin. Er fragte ihn, was los sei und dann wurde er auf eine Leiche hingewiesen. Sie lag vor den Pferden und beide untersuchten sie. Natürlich wollte auch ich sehen wer das war, ob ein Kind, ein Mann oder eine Frau, sein tragisches Schicksal erfuhr und verließ die Kutsche. Als Nelson mich anschleichen sah, befahl er mir in die Kutsche zurück zu kehren.
„Alice, geh sofort wieder hinein. Ich möchte nicht das du so etwas siehst.“, brüllte er los und obwohl ich ganz deutlich die Drohung wahrnahm, ignorierte ich seine Worte.
„Alice!“, schrie er erneut und zögernd bestieg ich die Kutsche. Es machte mich sauer, dass er mir solche Kleinigkeiten vorenthielt. Als ob ich es nicht ertragen könnte, tote Menschen zu sehen, deren Körper mir nichts mehr antun kann. Wieso wollten mich alle immer vor diesen Dingen beschützen, das ist absolut lächerlich.
Mit verschränkten Armen und mürrischer Stimmung wartete ich ungeduldig auf das Fortfahren der Reise. Als sich der Wind jedoch legte und alles mir viel leiser vorkam, brach Panik in mir aus. Das war viel zu unheimlich. Draußen zog nur eine leichte Brise an meinem Haar vorbei und kühle Luft errötete meine Wangen.
Neben der Kutsche witterte ich ein kribbelndes Gefühl der Gefahr und wurde noch unruhiger als vorher. Als ein heftiger Luftzug hinter mir vorbeihuschte, drehte ich mich ruckartig um und entdeckte die Schar von Banditen. Sie trugen dunkelbraune Lederschuhe, -hosen, -jackett und ein zerlumptes Hemd. Ihre Gesichter waren mürrisch und gierig, als ob ich ihr Mahl wäre. In dem Moment steckte en ziemlich dicker Klos in meinem Hals fest, der mir das Schreien erschwerte. Selbst mein Atem hemmte für den ersten Augenblick, als ich aber dann laut Einatmete, drehte sich Nelson zu mir um.
„Banditen!“, schrie er und die Soldaten hielten all ihre Waffen bereit, um los zu schießen. Die Männer rannten wie Elefanten an mir vorbei und einer stieß mich gewaltsam zu Boden. Mein Kopf brummte und ein Schwindelgefühl überkam mich. Nelson sprang zu mir und stieß jeden einzelnen weg, der in meine Nähe kam.
„Alice, steh auf.“, bat er und sein verzweifeltes Gesicht gab mir Kraft dies zu tun. Durch das Korsett schnürte man mir erneut die Luft zu und ich lechzte nach Sauerstoff. Nelson wollte mich in die Kutsche schieben, aber ein dicker Bandit stieß ihn zu Boden. Sein lustvoller Blick verriet mir, was er von einem schönen Mädchen, wie mir wollte. Deshalb griffen meine Hände instinktiv nach meinem Kleid, um es hoch zu ziehen, sodass ich nicht stolperte und sprintete los. Der hungrige Bandit jagte mich und trieb mich immer weiter von der Kutsche weg. Vielleicht war das auch eine naive Falle, in die ich gerade trat. Als die Dunkelheit auch meine Sicht einschränkte und ich vor einem Abgrund stehen blieb. Während der Bandit ungehalten auf mich zuschoss, wich ich im letzten Moment aus und der Kerl stürzte den Hang hinunter in einen Fluss, der den Bewusstlosen ertrank und seine Leiche mitriss. Mein Herz machte hunderte Sprünge, meine Lunge brannte wie tausend Nadelstiche und meine Adern waren wie eingefroren. Das Aufstehen war fast unmöglich, aber machbar und mit etwas Geduld stand ich wieder auf zwei Beinen. Vereinzelte Haare hingen in meinem Gesicht und verdeckten mein Sichtfeld und sofort lief ich zurück zur Kutsche. Aber das Schockierende erschlug mich wie ein Blitz.






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