Son of a Preacher Man - Teil 15

Autor: Maggie
veröffentlicht am: 23.07.2014


Seit Dienstag habe ich nichts von Noah gehört. Heute ist Samstag.
Die restliche Woche habe ich mich in meinem Zimmer verkrochen, den Kontakt zur Außenwelt größtenteils so fanatisch gemieden, wie ein WoW-Süchtiger das Sonnenlicht. Und ich habe in empirischen Ausmaß meine Wunden geleckt. Ich glaube, ich habe das Im-Selbstmitleid-Baden zu einer Kunstform perfektioniert. Und hätte ich nicht dieses neue Pflichtbewusstsein entwickelt, wäre ich wohl auch nicht auf Arbeit erschienen. Doch dazu konnte ich mich aufraffen. Auch wenn ich durch Weimars Gassen geschlichen bin, wie ein Undercover-Detektiv, stets auf der Hut, im nächsten Hauseingang zu verschwinden, sollte mir irgendwo ein braungelockter Schönling entgegen kommen.

Ich kenne Noahs Uni-Zeiten nicht und ich weiß auch nicht, wann genau er in der Beratungsstelle aktiv ist. Demnach war ich während meiner Schichten das reinste Nervenbündel. Wie ein aufgeschrecktes Huhn habe ich ständig den Eingang im Auge behalten, durchgehend in der Erwartung, ein Fuchs würde in Gestalt von Noah Kasperski auftauchen und mich in Stücke fetzen. Herzlich Willkommen Paranoia.

Doch Noah hat sich nicht blicken lassen. Ich habe keine Ahnung, was er jetzt von mir denkt, wie er meine Flucht deutet. Aus seinem Nichtmelden schließe ich, dass meine Reaktion wohl überdeutlich war. Je länger ich über die ganze Misere nachdenke, umso peinlicher ist mir mein Verhalten. Und deswegen vermeide ich es auch, allzu detailliert über das ganze nachzugrübeln. Ich versuche es zumindest. Und es gelingt mir kein bisschen.
Fakt ist nämlich: Der verfluchte Kuss geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Um ehrlich zu sein: Er treibt mich den Wahnsinn. Viel zu oft muss ich daran denken, wie weich seine Lippen waren. Wie neugierig und zärtlich seine Zunge. Seine feste Umarmung. Mir wird ganz kribbelig.
Und gleichzeitig fühle ich mich schlecht.

Chris sein Gesicht taucht immer wieder vor meinem inneren Auge auf. Ich will es nicht. Will nicht an ihn denken. Aber ich kann meine vermaledeiten Gedanken nicht kontrollieren. Ich kann dieses Kopfkino einfach nicht abstellen. Drehe mich im Kreis. Das macht mich verrückt.
Ich brauche mir nichts vormachen. Ich fühle mich zu Noah und seiner niedlich-schrägen Art hingezogen, finde seinen Körper sexy und der Kuss hat sein Übriges getan. Aber Chris ist noch da. Und er geht so schnell nicht weg.

Es ist, als würden zwei Miniaturausgaben der Beiden sich in meinem Kopf einen netten Boxkampf liefern, nur die Schläge gehen eher gegen meine Hirninnenseite, als auf den Gegner. Alles fühlt sich wie Matsch an, zu Brei gehauen von meinen persönlichen Mini-Querulanten. Und mittlerweile gehe ich mir selbst auf die Nerven.

Bevor ich der ganzen Sache ein Ende setze und mich aus dem Fenster stürze, klingelt mein Handy. Erst kann ich das Geräusch nicht zuordnen. Am Mittwoch habe ich den Klingelton geändert. Es ist jetzt kein Cut mehr aus meinem Lieblingsset von Chris, sondern einfach nur die schnöde Standard-Melodie von Samsung. Ich sehe auf den Display – ein Rotschopf lächelt mir entgegen.

„Caro!“, begrüße ich meine Freundin.
Ohne Einleitung kriege ich etwas merkwürdiges ins Ohr gezischt: „Was hast du mit Noah angestellt?“
„Bitte?“ Heiland! Ich ahne Schlimmes.
„Frag nicht noch. Du warst doch am Dienstag bei ihm, oder? Was ist da passiert?“, pfeffert mir die gutmütige Caro entgegen. Ihr Ton ist nicht unbedingt schneidend, aber sie will Antworten, das ist unmissverständlich. Doch bevor ich hier aus dem Nähkästchen plaudere, will ich wissen, was überhaupt Grund für diesen Anruf ist.

„Wie kommst du darauf, ich hätte mit ihm etwas gemacht?“, frage ich daher vorsichtig.
„Wir hatten heute Vormittag ein Treffen um den morgigen Gottesdienst abzusprechen. Noah war nicht da. Und Kai meinte, er wäre die ganze Woche schon so komisch. Würde sich die ganze Zeit in seinem Zimmer verbarrikadieren und todtraurige Lieder zu seiner Gitarre singen. Außerdem meinte er auch, dass du am Dienstag nicht sonderlich lange da gewesen bist. Du hast noch nicht mal etwas gegessen. Also, was ist los?“
„Kai ist ein altes Tratschweib“, stelle ich fest.

Noah singt traurige Lieder? Himmel, die Vorstellung ist ja herzzerreißend.

„Anna!“, warnt sie. „Was war los? Was hast du ihm gesagt?“
„Ähm. Gesagt wurde im Grunde nicht unbedingt viel“, weiche ich kryptisch aus.
„Wie meinst du das denn jetzt?“
Okay, ich zähle innerlich bis drei – doch ich kann es nicht aufhalten...

„Er hat mich geküsst!“, platzt es raus. Ein Staudamm von apokalyptischer Größe, den ein kleiner Kratzer in der Fassade zum Ausbruch bringt. Schätzungsweise so sieht augenblicklich meine emotionale Barrikade aus, die sehr lange, sehr standhaft war. Fest wie Beton. Doch die letzten Tage ist der Riss nicht mehr oberflächlich geblieben. Meine zermürbenden Gedanken haben sich ganz tief reingefressen in die Mauer. Caro bekommt jetzt die volle Dröhnung mitten ins Gesicht. Bildlich gesprochen. Das hat sie davon, dass sie mich ausquetschen will.

„Was?“, schreit sie durch die Leitung. Bedächtig bringe ich einige Zentimeter Abstand zwischen die Hörmuschel und meinem Sinnesorgan, an dem ich sehr hänge. „Du veralberst uns doch!“, entrüstet sie sich.

Uns? „Hört Johann etwa mit?“, frage ich empört.
„Hallo Anna“, ertönt die leicht nasale und altkluge Stimme des Verlobten meiner Freundin. „Carolin hat auf Lautsprecher gestellt. Hat er dich wirklich geküsst?“
Geht’s noch? Wie wäre es mal mit einer Vorwarnung gewesen? Ich bin so entrüstet, dass es mir die Spucke verschlägt. Gleichzeitig will ich aber auch meinen seelischen Ballast loswerden, jetzt, wo die Schleusen einmal offen sind. Gut, dann darf Johann auch ran. Die beiden sind eh schon zu so einer mysteriösen Einheit verschmolzen. Das bringen langjährige Beziehungen oft mit sich.

„Ja, hat er. Der alte Schürzenjäger“, scherze ich trocken.
„Und? Wie hast du reagiert?“, fragt Caro atemlos.
„Ich war völlig überrumpelt. Was denkst du denn?“, antworte ich mit einer Gegenfrage. Aber ich lass sie garnicht erst spekulieren. „Ich bin auf den Kuss eingegangen, bis mir bewusst wurde, was ich da tue. Dann habe ich die Flucht ergriffen“, murmle ich kleinlaut.

„Du hast ihn auch geküsst?“, quiekt Johann. Und Caro versetzt ihm einen Dämpfer. „Das war doch zu erwarten“, zischt sie.
„Nein, war es nicht“, antwortet er. „Ich denke sie hängt noch an ihrem Exfreund.“
„Ja, deshalb ist sie ja dann auch weggelaufen.“
„Achso. Armer Noah.“
„Da ist er aber selbst Schuld, wenn er so stürmisch ist und sie einfach so überfällt.“
„Stimmt auch wieder. Jetzt wissen wir wenigstens, warum er so traurig ist.“

„Hallo?!“, rufe ich dazwischen. „Ich bin noch da!“, sage ich etwas indigniert. Das gibt es doch nicht. Die zwei sind ja schlimmer als eine Kammer voll Waschweiber.
„Und wie geht es dir jetzt?“, fragt Caro einfühlsam.
„Ich bin verwirrt. Und ich fühle mich in die Ecke gedrängt. Du kennst meinen Standpunkt Caro. Wir haben uns erst Montag drüber unterhalten. Das ging zu schnell. Außerdem fühle ich mich, als hätte ich vor euch einen Seelenstriptease hingelegt. Normalerweise teile ich meine Probleme ja nur ungern.“
„Ich glaube, genau das ist dein größtes Problem“, meint Caro.
„Ja, das glaube ich auch“, stimmt Johann zu.

Ich knirsche mit den Zähnen. Vielleicht knurre ich auch ein bisschen. „Im Prinzip geht euch das ja nen feuchten Dreck an“, blaffe ich. Ich muss schließlich noch irgendwie den Anschein wahren, als wäre es mir unangenehm, mit den Turteltauben darüber zu reden. Irgendwie ist mir gleichzeitig ganz anders. Ich bin im Prinzip ziemlich erleichtert. Als wäre eine zentnerschwere Last von meinen Schultern gefallen.

„Ja, ja“, tut Caro meinen Einwand ab. „Deshalb bist du heut auch so redselig. Keine Angst Anna, wir verraten auch Niemandem, dass du das unnatürliche Bedürfnis hattest, dein persönliches Dilemma mit Freunden zu teilen.“
„Mhm“, schnaube ich abfällig.
„Es ist keine Schande auch mal über Gefühle zu reden“, sagt Johann so sanft, als würde er ein Lämmchen mit seiner Stimme streicheln. Das klang so verdammt tuntig, das ich die Augen verdrehe. „Natürlich“, entgegne ich seufzend.

Jetzt höre ich die beiden tuscheln. Vereinzelte Wortfetzen dringen zu mir durch. Ich komme nicht mehr hinterher. „Hey!“, beschwere ich mich lauthals.
„Was hältst du davon, wenn du heut Abend zu uns kommst und wir reden bei einem Glas Wein nochmal ganz in Ruhe über alles?“, fragt Caro.
„Und ich koch uns was schönes“, fügt Johann hinzu. Die sind echt ein eingespieltes Team. Unglaublich. „Heute ist Samstag“, sage ich zweifelnd. „Hast du etwas besseres vor?“, fragt meine Freundin.

Ich gehe die Alternativen im Kopf durch: Alleine in meinem Zimmer mit der unausgefochteten Schlacht in meinem Pampelmusenhirn zwischen den Noah-Chris-Winzlingen?
Ein Fernsehabend mit Gordon und Justus, angereichert mit Bier, Rülpsern, dem ein oder anderen Furz, inklusive Schmalzlocken und fettigen Chips?
Bei meinen Eltern auf dem Sofa?
Ich könnte Kathrin bei Facebook anschreiben – auf einen Abend in irgendeiner abgefuckten Bude mit gratis Chrystel-Meth-Versorgung und kleinen Junkies, die mir meine letzten zwanzig Euro aus der Tasche klauen.

Die Aussichten sind so sonnig, wie ein Wintertag in einem korrupten Dorf in Weißrussland, wo es statistisch gesehen die meisten Selbstmordabsichten weltweit gibt. Ich seufze theatralisch.
„Nein, habe ich nicht“, gebe ich zähneknirschend zu.
„Perfekt“, flöten beide im Chor. „Dann um sieben bei uns?“, geht Caro auf Nummer sicher.
Ich sehe es genau vor mir, wie sie sich grad siegessicher angrinsen und sich ein lautloses High-Five geben. „Ja. Bis dann“, stöhne ich und lege hastig auf. Ich will nach Weißrussland!


Das wird ein Himmelfahrtskommando. Die Zwei werden mich mürbe machen, das steht fest. Dennoch werde ich Ihnen eine Chance geben. Caro ist ja sonst sehr feinfühlig und weiß, wann sie bei mir eine Grenze überschreitet. Ich vertraue ganz stark auf Ihre weiblich-zurückhaltende Intuition.

Es ist noch früher Nachmittag. Was fange ich jetzt mit der Zeit an? Eigentlich müsste ich mal mein Zimmer aufräumen, Wäsche waschen, eventuell sogar einkaufen. Reizt mich alles weniger. Ungefähr genau so sehr, wie eine intensive Umarmung von Gordon nach einem Marathonlauf von Weimar Süd nach Nord. Gefühlte fünfzig-prozentige Steigung. Jenen höre ich grad im Flur lauthals zu irgendeiner Underground-Mucke brüllen.

Ich setze mich an meinen Schreibtisch und starte den Laptop. Facebook schafft Ablenkung. Eigentlich meide ich diese Plattform ja wie die Pest. Ich hab den Zugang auch von meinem Smartphone gekickt, als ich den Klingelton geändert habe. An sich ein riesiger Schritt, dem ich nicht die gebührende Beachtung schenken wollte, den er verdient hätte. Eigenlob stinkt auch manchmal.

Jedenfalls ist Facebook ist für mich gleichgesetzt mit Chris. Altes Leben, Berlin. Party. Ruhm, Erfolg und dann der Absturz ins Nirwana. Doch da ich mich ja mittlerweile kaum selbst wieder erkenne und auf dem Pfad der Besserung humpele, werde ich mich dem Irrsinn stellen. Ich habe mir fest vorgenommen alles zu löschen, was mich an die Vergangenheit erinnert. So nach und nach zumindest. Im Prinzip könnte ich mir gleich nen neuen Account zulegen, aber das bringe ich nicht übers Herz. Das käme einem Neuanfang verdächtig nahe. Ich will aber nicht neu anfangen. Warum auch? Ich will einfach nur weiter leben. Und mich selbst neu identifizieren. Dazu gehört wohl auch, dass meine medialen Freunde, von denen ich nicht mal ein fünftel kenne, aufhören, mich auf irgendwelchen Partys zu verlinken, ich keine Bilder mehr von mir und Chris in meinen Alben habe und das ich auch die Personen lösche, deren Namen mir nicht mal etwas sagt.

Als erstes gehe ich die neuen Freundesanfragen durch. Da ist tatsächlich Kathrin dabei. Ablehnen!
Dann noch zahlreiche mehr oder weniger lesbare Namen von irgendwelchen Newcomer-Liveacts. Ablehnen!
Eine Jasmin Neumann. Und Elsa Kaufhold. Ohje. Gut, die nehme ich an. Sind wir mal nicht so.
David aka Tekktool springt mir als nächstes entgegen. Zu Hilf! Das ist doch mein Saufkumpan von den DuskyDays. Ich bin mir unschlüssig. Über ihn habe ich überhaupt nicht mehr nachgedacht. Aus den Augen, aus den Sinn. Er war nett muss ich zugeben. Nett ist der kleine Bruder von Scheiße. Eigentlich will ich mich von der Szene vorerst abgrenzen. Ich steh immer noch auf die Musik, aber etwas Abstand brauche ich dann doch noch. Trotzdem nehme ich aus unerfindlichen Gründen die Anfrage an.

Keine zwei Minuten später schreibt er mir.

-Du lebst also noch?-

Ich lasse mich widerwillig zu einer Konversation hinreißen. Es wird ein bisschen oberflächlich hin- und hergeplänkelt. Er macht sich über meinen Absturz lustig – sehr charmant - und ich frage ihn, was seine Karriere so macht – auch ziemlich fies, da diese ja schon letztes Wochenende Thema tiefster Beschämung war. Es ist an sich ganz witzig und er schreibt größtenteils grammatikalisch korrekt, was ich ihm hoch anrechne. Wir foppen uns gegenseitig, was ich sehr amüsant finde, da es irgendwie auf einer Höhe bleibt, ziemlich sarkastisch ist und sich eine permanete Spannung durch den Dialog zieht, den ich als reizvoll empfinde. Man merkt, er ist vom selben Schlag. Irgendwann fragt er:

-Ob wir uns nochmal irgendwann begegnen, ohne, dass du mir den Campingstuhl vollreierst?-
-Spätestens wenn du das erste mal auf einer Party auflegst, stehe ich in der ersten Reihe. Versprochen!-, kontere ich in dem Wissen, dass das am Sankt Nimmerleinstag sein wird.

-Touche Madam- , antwortet er und ich sehe, dass er noch mehr schreibt. -Eigentlich wollte ich wissen, ob wir mal wieder zusammen feiern wollen. Dann aber ohne Alkohol für dich-

Ich blicke den Bildschirm berechnend an. Er will mit mir feiern? Wie habe ich das denn zu verstehen? Er kommt aus Erfurt, das hat er mir erzählt. Also keine 30 Kilometer von hier entfernt.

-Wo willst du denn feiern?-, frage ich.
-Nächsten Samstag ist bei dir in Weimar doch Beatrausch, dachte da trifft man sich mal wieder...-

Beatrausch. Eine kleine Techno-Open-Air-Veranstaltung im Gewerbegebiet, die jedes Jahr im Sommer für einen Abend stattfindet. Wirklich im winzigen Rahmen, mit maximal zwei Floors. Chris hat es sich trotzdem nie nehmen lassen in seiner alten Heimat zu spielen und somit war es auf diesem Mini-Festival immer überfüllter, als es für diese Gegend üblich ist.
Dieses Jahr wird er auch wieder hier sein. Er ist das Aushängeschild für diese Veranstaltung. Wenn ich da hingehe, könnte ich auch genauso gut mit Absatzschuhen auf einem Brückengeländer nen Stepptanz hinlegen. Absturz auf Garantie.

-Da bin ich verplant-, schreibe ich hastig.
-Jammerschade. Was hast du denn vor?-, erdreistet er sich zu fragen.

Bei meinem momentanen Lebenswandel werde ich voraussichtlich ehrenamtlich die alten Holzbänke in der Kirche restaurieren. Oder ich organisiere für meine Mitbewohner und meine neuen Freunden vom Kirchencamp einen Gesellschafts-Spieleabend. Ohne Noah. Leider. Nein, natürlich nicht leider. Nagut, ein bisschen. Verdammt! Mir geht das Bild nicht aus dem Kopf, wie er leidend in seinem Zimmer hockt und schnulzige Liebeslieder trällert. So scheiße kitschig, dass mir übel wird. Trotzdem, seine Stimme wäre es wert. Und sein Anblick.

Und was schreibe ich jetzt David? Am besten den Klassiker.

-Familienfeier-, lüge ich. -Außerhalb. Wir übernachten da. Kann ich mich nicht drücken.-
-Du Ärmste, das nennt man Folter.-

Zur Antwort schicke ich ihm nur so einen albernen Smiley, der etwas verkniffen aus der Wäsche schaut. Als hätte er Durchfall. Sofort bereue ich die unbedachte Auswahl dieses gelben Köpfchens, was irgendwie meine Emotionen ausdrücken soll. David schreibt unbeirrt weiter:

-Wir können uns ja auch so mal treffen.-

Könnten wir, will ich aber nicht. Ihm gegenüber habe ich zu sehr das Bedürfnis mich zu behaupten, auch wenn es ganz unterhaltsam ist, wird mir diese Gesprächsebene irgendwann zu anstrengend. Deshalb will ich an dieser Stelle auch abbrechen. Ich formuliere so höflich wie möglich, dass ich jetzt weg müsse und mich später melden würde. Er versteht wohl den Wink und verabschiedet sich ebenso.

Jetzt habe ich die Schnauze voll von Facebook. Laptop zu, Gehirn-Punching wieder an.
Irgendwie schaffe ich es, mich durch den Nachmittag zu schleppen. Um ehrlich zu sein, freue ich mich fast ein bisschen auf den Besuch bei Carolin. Ich brauch Abwechslung, die Woche hat mich mürbe gemacht.


Kurz vor sechs stelle ich mich der Aufgabe, mich irgendwie präsentabel zurecht zu machen. Im Laufe der Woche ist die alte Jogginghose zu bequem geworden und meine Overzize-Shirts scheinen an mir fest gewachsen, weil ich kaum noch was anderes trage. Schluss mit Gammellook. Draußen ist es immer noch sommerlich warm, also schlüpfe ich in Shorts und Top, Hoodie drüber, falls es frischer werden sollte – fertig. Ich war noch nie ein Mode-Guru. Ich lege mehr Sorgfalt auf meine Haare und außerdem sind die Tattoos schon genug Ausdruck meines modischen Geschmacks. Irgendwelche ausgefallenen Outfits kämen überladen. Ich hab auch nie Bock ständig irgendwelchen Trends hinterherzurennen, das ist mir viel zu anstrengend. Bestimmt ein verkapptes Traumata, nachdem ich die Ausbildung in Berlin im Einzelhandel als meinen ganz persönlichen Horror in Erinnerung behalten habe. Mode-Discounter umlaufe ich so weit, wie ein atomar verseuchtes Kriegsgebiet.

Pünktlich mache ich mich auf den Weg. Caro und Johann bewohnen ein Mehrfamilienhaus, ein Altbau nah zur Innenstadt. Die Mieten hier sind astronomisch hoch. Caro könnte sich das von ihrem Angestellten-Lohn nie leisten. Aber Johann verdient, ich konnte es kaum glauben, richtig viel Schotter. Sein Vater hat eine Gärtnerei mit mehreren Filialen, die sogar bis Erfurt und Jena expandieren. Und Johann als Junior-Blumengeschäft-Inhaber profitiert davon natürlich. Beruf Sohn, sozusagen. Aber er kniet sich auch wirklich in das Geschäft rein. Und er hat auch eine tiefverankerte Leidenschaft für Grünzeugs, was man an der Wohnung merkt. Hier sieht es aus, wie in einem verfluchten Dschungel.

Ich kämpfe mich also an Palmen, Orchideen und Ficus-Bäumchen vorbei ins Wohnzimmer. Alles ist blitzblank sauber und sieht so aus, als würde die Einrichtung nicht zweckgerichtet, sondern ausschließlich dekorativ sein. Ich trau mich garnicht, mich auf die Couch zu setzen, sie könnte immerhin nur zur Zierde dienen. Doch Caro lässt sich weniger elegant auf das lederne Etwas plumpsen und grinst mich in einer Mischung aus erwartungsvoll und neugierig an.

„Also?“, fragt sie. „Jetzt erzähl mal, was da gestern los war.“
Im selbem Moment tritt Johann ein und grinst fröhlich in die Runde. Seine langen Haare hängen ihm strähnig ins Gesicht und seine dürre Gestalt steckt in einem kariertem Holzfällerhemd und einer Leinenhose. Außerdem ist er barfüßig, was ich mit einem Naserümpfen quittiere. Mich ekeln Männerfüße an. Obwohl Noah ganz sicher ziemlich tolle Füße hat, so weit man Füße im Allgemeinen überhaupt als toll bezeichnen darf. Chris hatte ziemlich kleine Füße, was genauso niedlich, wie auch verstörend für mich war. Und ich denke schon wieder nur Mist.

„Hallo Anna“, begrüßt mich der Vollzeitflorist und stellt zwei gefüllte Weingläser ab. „Ich lass euch zwei mal ganz in Ruhe schnattern“, grinst er und verschwindet patschenden Schrittes aus dem Wohnzimmer.
Schnattern?
Ich drehe mich zu meiner Freundin um, die sich nicht aus dem Konzept hat bringen lassen und mich immer noch mit kullerrunden Neugieraugen anglotzt. Ich greife nach dem Weinglas, um meine Zunge zu lockern, und stelle mich seelisch-moralisch auf ein sehr anstrengendes Gespräch ein.


„Um das jetzt nochmal festzuhalten“, sagt Caro eine Stunde, sowie eine Weinflasche, später, während sie sich umständlich an der Couch abstützt und mir verdächtig nahe kommt. „Du stehst auf Noah, aber hängst noch an Chris, richtig?“
„Ja, richtig“, bestätige ich konsterniert.
„Und daher war der Kuss zwar ziemlich gut, aber noch viel zu früh, oder?“, fragt Johann, der sich mittlerweile wie selbstverständlich zu uns gesellt hat und gerade im Begriff ist, Merlot Nummer Zwei zu öffnen. Ich wusste garnicht, dass die Beiden so versoffen sein können. Während ich immer noch an meinem ersten Glas nippe, lallt Caro, wie ein Sauftourist in El Arenal nach zehn Kurzen und Johann kichert in einer weibisch-hohen Tonart, die mir direkt in den Ohren pfeift.

Trotzdem ist es ganz witzig. Irgendwie. Und es tut verdammt gut, jemanden mit meinen Problem vollzuquatschen. Natürlich habe ich ihnen nichts von der Trennung und der Fehlgeburt erzählt, absolutes Tabuthema. Aber dieser denkwürdige Dienstag, Noahs Verhalten, Kathrin, mein neues Leben – all das habe ich hier in dieser grünen Oase abgeladen, wie ein Schaufelbagger eine Fuhre Müll am Wannsee. Irgendwie unangebracht, schockierend und trotzdem ist der egoistische Fahrer seinen Schrott los. Auch wenn die Gegend zum Abkippen mehr als fragwürdig erscheint.
Caro und Johann waren in meiner Vorstellung stets die Letzten, denen ich mich anvertraut hätte, insbesondere Johann.

„Natürlich kam der Kuss zu früh. Ich hätte nie damit gerechnet, dass Noah überhaupt so schnell die Initiative ergreifen würde“, sage ich verwirrt.
„Wahrscheinlich fand er dich in diesem Moment so unwiderstehlich“, schwärmt Johann und erinnert mich in Mimik und Gestik an die beiden Konfirmandinnen aus dem Camp.
Ich rümpfe die Nase und sehe ihn verwundert an. „Sollte es heute nicht noch was zu essen geben?“, frage ich einer Eingebung folgend. Johanns blassblaue Augen werden riesig und er stürzt aus dem Zimmer. „Oh Gott, die Lasagne!“, höre ich ihn fluchen.

„Und was hast du jetzt vor Anna?“, fragt Caro, ohne auf ihren Verlobten zu achten.
„Verkriechen?“, antworte ich fragend.
„Du willst Noah aus dem Weg gehen?“
„Nein, ich will mich vor ihm verstecken. Da liegt ein himmelweiter Unterschied dazwischen.“
„Das ist aber ziemlich dumm.“
„Danke“, schließe ich die Unterhaltung.

Kurz herrscht Schweigen. Ich höre Johann in der Küche brabbeln, kann ihn aber nicht verstehen. Caro seufzt. „Du musst endlich mal aus deiner eingefahrenen Spur springen Anna!“, klagt sie mich an. „Du kannst dich nicht vor jeder unangenehmen Konfrontation verstecken. Das ist kindisch, feige und führt zu Nichts.“
Ich funkle sie an.
„Da brauchst du mich nicht so anzusehen. Das ist die Wahrheit“, sagt sie ernst.
„Ja. Besoffene und Kinder sagen immer die Wahrheit“, kommentiere ich ihre ungewohnt bissigen Worte.

Johann rettet mich aus der ungemütlichen Situation, indem er uns zu Tisch bittet. Die Lasagne ist leicht angebrannt, schmeckt dennoch köstlich. Wir sprechen jetzt hauptsächlich nur noch über belanglose Themen, von Caros Seite aus ist wohl alles gesagt. Und von meiner auch.
Meine Stimmung befindet sich nun leider am tiefsten Gefrierpunkt, da mir etwas ziemlich leuchtend-klar geworden ist: So geht es nicht weiter.
Kopf-in-den-Sand-stecken und Sträußchen spielen ist tatsächlich sehr unreif und ich habe Noah damit schon verletzt, was ich ja prinzipiell vermeiden wollte. Ich muss mich wohl oder übel mit dem Gedanken anfreunden, ihn nochmal zu treffen und ihm ganz eindeutig sagen, woran er bei mir ist. Die Vorstellung behagt mir nicht. Gerade weil ich mir auch so unschlüssig bin und in seiner Gegenwart gern die Contenance verliere.

Außerdem ist da noch was. Die Erkenntnis hat mich bleischwer getroffen, als mir aufgefallen ist, wie gut es tut, über Dinge zu sprechen und auch mal andere Blickwinkel, als meine latent-verbohrten Ansichten, zu überdenken. Vielleicht kann ich mit Chris nicht abschließen, weil sich meine Gedanken im Kreis drehen? Vielleicht bin ich so tief verletzt und kann mich aus diesem Strudel nicht entwinden, weil mir bis jetzt noch niemand sagen konnte, was ich bzw. wir falsch gemacht haben?
Vielleicht sollte ich echt mal jemanden erzählen, was da passiert ist, anstatt sinnlose Selbstgespräche zu führen oder, noch besser, jede Erinnerung konsequent zu verdrängen?

Mit gemischten Gefühlen verabschiede ich mich wenig später von dem Traumgespann und mache mich auf den Heimweg, grübelnd, einen letzten mahnenden Blick von Carolin im Rücken.




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Kommentar:
Huhu liebe Leser!
Schon geht es weiter. Ein wenig beliebtes, dennoch wichtiges „Überbrückungskapitel“, wie es so schön heißt ^^ Anna entwickelt sich langsam aber stetig. Ich bin richtig stolz auf sie :D
LG Maggie





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