Son of a Preacher Man - Teil 11

Autor: Maggie
veröffentlicht am: 19.03.2014


Ich wache auf, weil es klopft. Ziemlich penetrant.
Ohne dass ich die Augen öffne, murre ich so laut wie möglich. „Nein!“
Es klopft wieder. „Anna, du hast Besuch!“ Das ist Gordon. Man! Der hat mich doch vorhin gesehen. Kann er sich nicht denken, dass ich keinen Besuch will?
„Ich bin nicht da!“, rufe ich ziemlich deutlich.
„Er steht schon neben mir.“, ertönt die Stimme meines Mitbewohners und klingt dabei etwas verlegen. Er? Ich schnaufe und rappele mich auf. In meinem kleinen Zimmer ist es schon stark schättrig. Daraus schließe ich, dass es wohl relativ spät ist und ich den ganzen Tag verpennt habe.

Ich ziehe die Bettdecke hoch und umhülle meinen Körper. Ich trage nur einen Slip und habe die Befürchtung, dass mein ungewollter Besuch von männlicher Natur ist. Und sollte es Caro sein, so wäre ihr mein unverhüllter Anblick mindestens genauso unangenehm.
„Na gut.“, muffle ich.
Die Tür geht auf und Noah tritt herein. Fast falle ich vor Schreck aus dem Bett.
„Was machst du denn hier?“, frage ich entgeistert und wappne mich innerlich vor seinem Zorn. Er sieht immer noch nicht besonders freundlich gestimmt aus, kann aber auch daran liegen, dass es hier drinnen fast dunkel ist. Leider muss ich mir eingestehen, dass er mit diesen leicht schräg stehenden Augenbrauen und dem verbissenem Mund weitaus attraktiver wirkt.

Er sieht sich um und lässt sich dann mangels Alternativen am Fußende meines breiten Bettes nieder.
„Ähm, könntest du vielleicht ein Licht anmachen?“, fragt er reserviert. „Ich sehe dich ja garnicht.“
„Ist vielleicht auch besser so.“, gebe ich mürrisch zurück. Ich will nicht wissen, wie ich aussehe. Verschlafen, ungeschminkt. Dennoch schalte ich die Nachttischlampe an und blinzle bei der gemeinen Helligkeit des LED-Strahlers.

Noah wirkt plötzlich ganz anders, wie mir sofort auffällt, als ich mich an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnt habe. Er sitzt steif und um Abstand bemüht auf der Bettkante und sein Blick geht mir durch Mark und Bein.
„Wie geht es dir?“, fragt er.
„Müde.“, antworte ich einsilbig und ziehe die Decke noch fester um meine Schultern.
„Hast du genug getrunken?“
„Was willst du?“, ich ignoriere sein Interesse an meinen Trinkgewohnheiten. Außerdem rufe ich mir ins Gedächtnis, wie er noch heute Morgen mit mir umgegangen ist. Ich bin nachtragend und das darf er ruhig spüren.

„In erster Linie wollte ich mich versichern, dass du noch lebst.“, sagt er anklagend.
Er ist also immer noch sauer auf mich, zumindest klingt er so. Ich fühle mich von dieser einnehmenden Art in die Ecke gedrängt. Was denkt er eigentlich wer er ist? Er hat doch überhaupt kein Recht sich so in mein Leben einzumischen. Kommt hier in mein Zimmer und macht einen auf strengen Vater oder was?

„Ich wüsste nicht, was dich das überhaupt angeht Noah!“, kontere ich spitzzüngig. „Seit wann fühlst du dich eigentlich dazu berechtigt mit mir umzugehen, als sei ich ein ungezogenes Kleinkind?“
„Mach ich das etwa?“, fragt er verdutzt.
„Ja.“, antworte ich patzig und höre mich tatsächlich in etwa so an, wie eine jüngere Version von mir, die hitzig mit den Eltern über die Zubettgehzeit diskutiert, während im Hintergrund die Sesamstraße läuft.
„Ich mache mir doch nur Sorgen Anna!“, verteidigt er sich. „Und ja, vielleicht dringe ich zu weit in dein Leben ein, ohne Berechtigung, aber das hat eventuell auch einen Grund!“
„Deine Ex?“, wage ich einen Schuss ins Blaue und bin mir bewusst, dass ich mit unfairen Mitteln spiele.
Er zuckt zusammen. „Zum Teil.“, gibt er offen zu. Dann sieht er mir beängstigend eindringlich in die Augen. „Aber nicht nur wegen Kathrin reagiere ich so. Kannst du dir das nicht denken?“
„Was?“, frage ich ahnungslos.
Er atmet hörbar laut aus. „Du hast mich enttäuscht!“

Bitte? Ich glaube, ich höre nicht richtig.
„Jetzt klingst du so schulmeisterlich, dass ich dich fast nicht mehr ernst nehmen kann.“, sage ich trocken. Er lässt sich davon nicht beeindrucken und rückt ein Stück näher.
„Ich hatte mich wirklich gefreut dich wieder zu sehen, Anna. Schon als Caro mir erzählt hat, dass du wieder hier wohnst und nicht mehr mit Chris zusammen bist.“
Schmerz erfüllt mich bei seinen Worten. „Schön, dass es dich gefreut hat. Ich empfinde da wesentlich anders.“, sage ich und merke, dass meine Stimme ziemlich dünn klingt.
„Das tut mir leid.“, meint er und betrachtet mich fast mitleidig.

Verdammt, was will er überhaupt?
Erst zickt er mich voll, jetzt faselt er unzusammenhängendes Zeug und muss mich gleichzeitig auch noch mit Chris konfrontieren. Extrem unangenehm die ganze Situation.
„Jedenfalls...-“, sagt er dann. „Habe ich nicht gedacht, dass du so drauf bist. Dass du einfach ohne einen Ton zu sagen abhaust. Du hast uns alle in Angst und Schrecken versetzt. Wir dachten du hättest einen Unfall gehabt oder so. Ich bin fünfmal die Stadt hoch und runter gefahren und habe nach dir gesucht. Caro war völlig fertig. Hast du dir mal überlegt, was für Horrorszenarien sie sich ausgemalt hat?“, sagt er anklagend.

Ich bin bei seinen Ausführungen ein paar Zentimeter geschrumpft. Aus dieser Perspektive habe ich das noch nicht gesehen und fühle mich plötzlich ziemlich schlecht. Es war verdammt egoistisch, okay. Aber ich habe ja noch bescheid gesagt, erinnere ich mich und versuche mich damit zu beruhigen. Als könnte Noah meine Gedanken lesen, fährt er unbeirrt fort:
„Als dann deine Nachricht kam, wäre ich fast vom Glauben abgefallen. Und das meine ich nicht sprichwörtlich! Caro hat mir berichtet, wie du mit der Trennung von Chris zu kämpfen hast. Uns war von Anfang an bewusst, dass dir das Festival nicht gut tun wird. Aber dein Handy war ja schon wieder aus. Irgendwann hat mich Caro dann geweckt, nachdem sie die halbe Nacht versucht hat, dich zu erreichen und letztendlich dann dieser grässliche Typ ran gegangen ist und völlig unverfroren meinte, dass du dich ins Koma gesoffen hast und nicht telefonieren kannst!“

Ich starre ihn an. Er holt schon wieder Luft, weil er seinen ganzen Frust anscheinend immer noch nicht los ist, da gehe ich ihm dazwischen: „Ihr ward euch einig, dass mir das Festival nicht gut tun würde? Wegen Chris?“ Meine Stimme überschlägt sich. „Was geht euch das bitte an? Ihr habt doch keine Ahnung!“, zische ich. „Nicht die Geringste!“
Sein Mund ist leicht geöffnet und er sieht mich erstaunt an. „Also stimmt es. Du bist nur wegen ihm dort hin?“, fragt er und klingt plötzlich so einfühlsam.
Ich verziehe das Gesicht. „Nein!“, begehre ich auf. „Ich wollte einfach nur mal wieder feiern und tanzen!“ Das klingt trotzig, ist mir aber egal. Er gräbt zu tief, eindeutig.
„Anna.“, meint Noah vorsichtig. „Du hast aber nicht getanzt oder gefeiert. Du warst ja nicht mal auf dem richtigen Festival. Du hast dich mit diesem Typen bis zur Besinnungslosigkeit besoffen!“

Ich schnaufe. „Dieser Typ heißt David und ist verflucht nett.“
Ich lenke vom eigentlichen Thema ab, ja. Was macht Noah da mit mir?
„Dieser David hat sich einen Spaß daraus gemacht. Als du dich so schlimm übergeben musstest hat er sich halbtot gelacht. Wahnsinnig netter Typ!“, sagt Noah sarkastisch.
Ich funkle ihn an. „Worauf willst du hinaus?“
„Du warst wegen Chris da, gib es doch zu!“
„Und wenn schon!“, blöke ich. Irgendetwas setzt bei mir grad aus. „Das geht weder dich noch Carolin etwas an. Das ist mein Problem. Dann habe ich mich eben von David abfüllen lassen, weil ich nicht die Kraft hatte das Gelände zu betreten und Chris eventuell zu begegnen. Na und? Verdammt noch mal Noah! Das ist meine Sache und ich muss damit fertig werden.“ Ich steigere mich immer tiefer hinein und sage mehr, als gut für unsere oberflächliche, frisch entstandene Bekanntschaft ist. „Willst du, dass ich in deiner Vergangenheit herumforsche? Versuche ich irgendetwas aus dir herauszukitzeln? Ich habe es doch deutlich genug gemacht. Ich werde nicht über mich und Chris reden!“

Tief hole ich Luft. Ich habe schon viel zu viel von mir offen gelegt. Verflucht, das war so nicht beabsichtigt! Noah wäre wohl ein guter Pfarrer geworden, wenn man ihm gegenüber so leichtfertig zu reden beginnt. Aber ich bin in dieser Hinsicht schon ein harter Brocken.
Noah sieht mich fast mitleidig an. „Gut!“, sagt er leise. „Ich akzeptiere das.“
„Fein!“, entgegne ich rüde.

Dann ist die Luft raus. Es entsteht ein langes Schweigen zwischen uns, was nicht unbedingt unangenehm, aber trotzdem auffällig ist. Ich fühle mich noch nackter, als ich es eh schon bin. Angreifbar und irgendwie verletzlich. Unbewusst ziehe ich die Beine an meinen Körper und drücke die Decke so fest wie möglich um meine Schultern.
Noah blickt etwas betreten vor sich hin. Er sieht auch ein klein wenig verzweifelt aus. Dann starrt er auf meine Decke. Fast schon hypnotisiert wendet er seine moosgrünen Augen einfach nicht ab.
„Noah?“, frage ich. „Was starrst du denn so?“
Er zuckt etwas ertappt zusammen und blickt auf. „Sorry, ich war in Gedanken.“, lächelt er.
„Aha.“, sage ich skeptisch.

Plötzlich wechselt er das Thema. Seine Laune hat sich merklich verbessert. „Wusstest du eigentlich, dass ich nicht mal zwei Straßen von dir entfernt wohne?“, fragt er mich aus heiterem Himmel.
Ich kneife die Augen zusammen. „Nein, woher sollte ich das wissen?“
Außerdem finde ich es nicht sonderlich spektakulär. Das hier ist die übliche Studentengegend. Die Wohnungen liegen nah zum Bahnhof und zur Kunsthochschule, die Gebäude sind alle saniert und die Mieten trotzdem noch günstig. Typisch Osten irgendwie.
Er übergeht meine Frage. „Caro hat mir gesagt wo du wohnst, eigentlich bin ich nur deshalb vorbei gekommen. Du bist ja jetzt theoretisch meine Nachbarin. Ansonsten hätte ich dich wohl nicht so überfallen.“
„Schön, dass du das zu gibst.“, sage ich augenrollend. Damit meine ich das Überfallen. Ich hoffe er kann sich das denken. „Aber praktisch leben noch mindestens 100 Leute zwischen uns und du bist offensichtlich nicht gekommen, um auf gute Nachbarschaft anzustoßen!“
„Nein.“, lacht er. Jetzt nimmt er auch noch meinen Zynismus mit Humor. „Ich habe ja schon zugegeben, dass ich mir wirklich Sorgen gemacht habe. Und da ich jetzt deinen Standpunkt kenne, werde ich auch nicht mehr versuchen, Dinge aus dir rauszupressen, über die du nicht reden möchtest.“
„Danke.“
„Im Gegenzug würde ich dich bitten, dass wir auch nicht mehr über Kathrin reden.“

Im Gegenzug? Spinnt der? Soll das jetzt hier eine Verhandlung werden?
Er tut ja gerade so, als würde er mit mir einen Deal eingehen. Ich weiß auch nicht, völlig bescheuert. Ich will unbedingt klarstellen, dass mich seine Junkie-Ex-Braut nicht die Bohne interessiert.
„Ich hatte nie vor mit dir über deine Exfreundin zu quatschen. Caro hat es mir erzählt, damit ich deine übertriebene Reaktion auf dem Festival irgendwie nachvollziehen konnte.“ Gut, ich habe sie schon etwas ausgequetscht. Aber nach dieser miesen Behandlung hatte ich ja verflucht nochmal auch ein Recht dazu! „Und im Gegensatz zu manch Anderen respektiere ich die Privatspähre von ehemaligen Schulkameraden.“
„Sind wir nur das? Ehemalige Schulkameraden?“, fragt Noah verdutzt und zieht einen winzigen Schmollmund. Niedlich. Verdammt!

„Was denn sonst Noah?“, frage ich etwas erheitert.
„Ich dachte es würde sich mehr anbahnen.“, sagt er hoffnungsvoll und ich kriege fast Atemnot. Nicht sein Ernst! - schießt es mir durch den Kopf und gleichzeitig kribbelt es in meiner Bauchnabelgegend. Es kribbelt so, wie schon lange nicht mehr. Wie bei... - Ich will es nicht mal denken!
„Ich bin davon ausgegangen, dass wir den Status zu Freunden auf jeden Fall gepackt hätten. Am Freitag...“, fügt er dann noch hinzu und mein Herzschlag beruhigt sich wieder.
Hui, was für ein Missverständnis. Ich habe kurzzeitig wirklich geglaubt, er mache zweideutige Andeutungen. Glück gehabt. Meine Reaktion wird mir sofort saupeinlich. Ich will darauf nicht weiter eingehen.

„Ich war nie darauf aus, neue Freunde zu finden.“, sage ich pampig. Dann füge ich aber noch etwas sanfter hinzu. „Außerdem brauch ich gewiss keine Freunde, die sich mir aufdrängen.“, dabei zwinkere ich, das er merkt, es ist eine Anspielung auf sein Verhalten.
Er versteht es auch und lacht jetzt richtig. Endlich. Ich fand den finsteren Noah zwar äußerlich ansprechender, jedoch ist mir der alte Strahlemann irgendwie lieber.
„Na das haben wir ja jetzt geklärt. Vorerst sprechen wir nicht über unsere Ex-Liebschaften.“
Vorerst? Ich will schon etwas einwenden, doch Noah redet einfach weiter:
„Also, wie siehts aus? Hast du Lust die Woche mal zu mir zu kommen, etwas kochen? Dann können wir den Status unserer Bekanntschaft vielleicht doch noch upgraden?“, sagt er verschmitzt.
Mir fällt beinahe die Kinnlade herunter, ich reiße mich aber noch zusammen. Wie dreist ist das denn bitte? Aber gleichzeitig auch irgendwie charmant. Ich bin irritiert.

„Du lädst mich zum Abendessen ein?“, frage ich verblüfft.
„Nein, zum gemeinsamen Kochen!“, berichtigt er mich.
„Ich bin eine miserable Köchin.“, gebe ich zu.
„Na dann koche ich eben und du guckst zu.“, schlägt er vor.
Ich lasse mir die Einladung durch den Kopf gehen. „Wohnen nicht Elsa und Kai bei dir?“, fällt mir ein. Ich klinge zweifelnd, das liegt daran, dass ich nicht sonderlich Lust verspüre den Beiden zu begegnen. Noah nickt.
„Eigentlich teile ich mir die WG nur mit Kai. Elsa ist die Woche über in Ulm und wohnt nur am Wochenende bei uns. Und Kai geht zur Abendschule. Wir wären also ungestört.“, schließt er. Ihm scheint seine unglückliche Wortwahl zum Schluss selbst aufzufallen, wird leicht rot und redet sofort weiter. „Ähm, ich meine, du würdest Keinem begegnen. Wir können natürlich auch hier bei dir kochen. Oder wir gehen essen. Oder so?“

Jetzt klingt er leicht unglücklich. Ich schmunzle. „Schon gut. Ich komme zu dir, du kochst und ich beobachte dich dabei.“ Ich hör mich selbst aus weiter Entfernung reden. Was mache ich hier? Ich wollte doch grundsätzlich den Kontakt zu ihm meiden. Aber ich kann einfach nicht widerstehen. Keine Ahnung. Noah ist facettenreicher, als ich angenommen habe und irgendwie fühle ich mich dazu herausgefordert, ihm zu beweisen, dass ich auch normal sein kann. Dass seine Reaktion beim Festival übertrieben war und ich nichts mit seiner Drogentussi gemein habe. Verrückt, ich weiß. Aber ich komme nicht dagegen an. Erst recht nicht, weil er nun so süß grinst und sich offensichtlich freut.

„Toll!“, sagt er begeistert. Dann steht er auf. „Ich würde mich jetzt erstmal wieder los machen. Es ist spät und ich habe früh Uni. Wie siehts aus, begleitest du mich noch bis zur Tür?“
Ich grinse unschuldig. „Würde ich ja wirklich gern, aber ich habe nichts an!“
„Du hast nichts...-?“ Er betrachtet mich ungläubig, dann entsteht ein zarter Hauch von Rot auf seinen braungebrannten Wangen. „Oh!“, entfährt es ihm.
„Ja, oh.“, wiederhole ich und lächle ganz breit.
Noah hat sich schnell wieder im Griff. Er atmet tief durch und nickt zum Abschied. Dann ist er weg.
Und ich bleibe irgendwie doch zutiefst gestört zurück. Habe ich jetzt so etwas wie ein Date mit dem Pfarrerssohn?


Natürlich kann ich jetzt schlecht wieder einschlafen. Außerdem habe ich Hunger.
Ich stehe vorsichtig auf, mir wird etwas schwindlig. Kein Wunder, wenn man den ganzen Tag verpennt und nichts gegessen hat. Ich ziehe mir ein langes Oversize-Shirt über und tappele barfuß zur Küche. Zum Glück sind meine Mitbewohner jeweils in ihren Zimmern, wie ich es an den Lichtern unter den Türschlitzen erkenne.
In meinem Teil des Kühlschranks herrscht natürlich gähnende Leere. Ein abgelaufener Bio-Joghurt, ein angefangenes Glas Apfelmus, an dessen Öffnung ich mich nicht mehr erinnern kann, und eine Dose Thunfisch – Bah. Im Küchenschrank finde ich eine Packung Tuc\'s, sehr nahrhaft, aber besser als Nichts. Schon will ich mich heimlich zurück in mein Zimmer schleichen, da steht Gordon vor mir. Der muss so etwas wie eine innere Alarmglocke haben, die darauf getrimmt ist, anzuschlagen, sobald ich mich außerhalb meines Zimmers aufhalte.

„Na, auferstanden von den Toten?“, fragt er gehässig.
„Wieso lässt du einfach Besuch rein?“, klage ich ihn an. „Du wusstest doch, dass ich schlafe!“
„Ich dachte es sei wichtig.“, sagt er achselzuckend. Dann geht er an mir vorbei und öffnet ebenfalls den Kühlschrank. Er zieht eine riesige Tupperschüssel hervor und setzt sich damit an den kleinen Tisch. Etwas neugierig schleiche ich in seine Richtung. Nudelsalat! Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Unwillig setze ich mich ihm gegenüber und reiße lustlos die Crackerpackung auf.
„Und?“, fragt er mich plötzlich, nachdem ich minutenlang auf sein Essen starre und mir nebenbei die trockenen Salzkekse in den ausgedörrten Mund stopfe. „War er wichtig?“
„Was?“, frage ich bei meinem Essens-Anschmachtungen gestört, wende dennoch nicht den Blick von dieser riesigen Schüssel. Kleine Paprikastücken sind doch da dazwischen?
„Ob er wichtig war!“
„Mhm?“
„Dein Besuch?“, klingt es leicht genervt.

Ich zucke mit den Schultern. Gordon steht seufzend auf, angelt eine Schüssel aus dem Schrank, holt Besteck und gibt mir etwas von seiner Köstlichkeit ab.
Ich strahle ihn an. „Danke!“
Er murrt. „Da kann ja kein Mensch vernünftig essen, wenn man so angestarrt wird!“
„Ich habe nichts mehr im Kühlschrank!“, verteidige ich mich und stöhne ekstatisch bei dem Geschmack von dem göttlichen Nudelsalat. Ja, für eine quasi Ausgehungerte schmecken Nudeln, Würstchen und Majonäse beinah gottgleich.
„Da war noch nie überhaupt irgendwas drin.“, nölt er weiter.

Ich schweige dazu. Stattdessen genieße ich die Mahlzeit.
„Wer war das eigentlich?“
„Wer?“, frage ich, weil ich nicht richtig hingehört habe.
„Dein Besuch!“, tönt es um einige Oktaven lauter.
„Geht dich nichts an.“, antworte ich und lächle lieblich. Neugierige Nase! Hat er kein eigenes Leben? Meine Mitmenschen scheinen allgemein viel zu fasziniert von mir und meinen Angelegenheiten.

„Das war aber nicht dein Exfreund, oder?“
Ich verschlucke mich an einer vorwitzigen Nudel. Kurz flüchte ich mich in einen Hustenanfall.
Gordon beobachtet mich interessiert.
„Nein. Wie kommst du denn da drauf?“, stoße ich röchelnd hervor und sehe ihn schockiert an.
„Hätte ja sein können.“, sagt er schulterzuckend und stopft sich einen großen Löffel in den Mund. Noch kauend spricht er weiter. „Aber dann hätte dein Ex in den letzten Jahren einen mega Wachstumsschub haben müssen. Dachte mir schon, dass er das nicht.“
Etwas angewidert betrachte ich ihn. Ich mag es nicht, wenn Menschen beim Essen reden. Doch statt ihn dezent auf sein schlechtes Benehmen hinzuweisen, frage ich lieber: „Woher willst du wissen, wie groß mein Exfreund ist?“
„Na Facebook und so.“, gibt er ausweichend zurück.

Scheiß Stalker, denke ich. Als würde er Chris von irgendeiner medialen Plattform kennen. Der hat mich gegoogelt. Und dann Chris. Seinen Künstlernamen habe ich ihm ja schon verraten. Ich kneife die Augen beleidigt zusammen, enthalte mich allerdings eines Kommentars.
„Und wer war das nun?“, fragt er nach einer kurzen Pause schon wieder.
„Warum willst du das denn so dringend wissen?“
„Damit ich das nächste mal weiß, ob ich ihn reinlassen soll oder nicht?“, gibt er unschuldig zurück.
Ich schnaube abfällig. Lasse mich dann aber doch zu einer Antwort hinreißen.
„Das war Noah Kasperski. Sagt dir der Name etwas?“
Er überlegt kurz, dann schüttelt er mit dem Kopf und seine fettigen, langen Haare fliegen ihn ums Gesicht. „Nö. Sollte ich?“
„Das ist der Sohn des Pfarrers.“, erkläre ich liebreizend.

Seine Augen öffnen sich erstaunt. „Willst du jetzt die Fronten wechseln?“
Ich lache kurz. „Bestimmt nicht.“
„Wie ein Pfarrerssohn sah der aber nicht aus. Eher wie so eine hohle Fußballnuss. Nen Haufen Muckies und nichts in der Platte.“, sagt er nachdenklich.
Keine Ahnung warum, aber das finde ich ziemlich unfair. Gerade Gordon, den man, beziehungsweise bevorzugt ich, klischeehaft in eine Rolle steckt, sollte doch nicht einen Fremden nach seinem Äußeren beurteilen.
Demnach gifte ich auch mehr oder weniger gerechtfertigt zurück. „Woher willst du überhaupt wissen, wie ein Pfarrerskind auszusehen hat?“ Ich zeige anklagend mit meinem Nudellöffel auf ihn. „Du hast doch weder einen Pfarrer, noch dessen Kinder, je aus der Nähe betrachtet. Im Gegenteil, wenn du eine Kirche betrittst, gehst du in Flammen auf, noch ehe du nur einen Blick auf die Kanzel werfen kannst!“

Wer oder was spricht da eigentlich aus mir? Ich klinge wie so eine verkappte Evangelistin, die des Teufels Anhänger höchstpersönlich mit Worten ihrer Gotteslästerung straft. Schnell widme ich mich wieder meinem Salatschüsselchen.
Gordon zieht amüsiert eine Augenbraue hoch. „Scheiß Vorurteile, was?“
„Kein Kommentar.“, murre ich.

Ich ärgere mich über mich selbst. Warum verteidige ich Noah so zickig? Gordon hat ihn ja nicht mal beleidigt, er kennt ihn nicht und wollte wahrscheinlich nur lustig sein. Und ich gehe ab wie ein Zäpfchen. Irgendetwas stimmt mit mir nicht. Woher kommt nur diese Schärfe?

„Also darf die christliche Sportskanone eingelassen werden?“, fragt er dann nochmal versöhnlicher.
„Ja.“, gebe ich einsilbig zurück.
„Er ist bestimmt voll in Ordnung.“, sagt er dann ziemlich kryptisch. Ich stutze. „Wieso denn das auf einmal?“
„Na wenn er gläubig ist und so, dann müsste ich mit meinem Antichrist-Shirt ihm ziemlich quer gekommen sein. Aber er war verdammt nett. Und er hat sich Sorgen um dich gemacht. Hat er jedenfalls gesagt. Da kam ich mir ziemlich schlecht vor auf einmal. Ich meine, du sahst heute früh echt aus wie eine Leiche, dann hast du mindestens zwölf Stunden am Stück gepennt. Ich hätte echt mal eher nach dir sehen sollen! Das tut mir leid.“

Netter Monolog. Was will er denn jetzt damit überhaupt sagen?
„Hä?“, entgegne ich. „Für was entschuldigst du dich nun eigentlich? Dafür, dass du mir nicht permanent auf den Sack gegangen bist, während ich meinen Rausch ausschlafe, oder dafür, dass du Noah eigentlich nett findest, ihn aber trotzdem erstmal als Vollpfosten dargestellt hast?“
Gordon zieht eine Schnute. „Keine Ahnung.“, gesteht er dann.
Ich komme nicht mehr mit. „Du hast nen Schuss.“, stelle ich fest, dann stehe ich auf. „Danke für den Salat.“ Damit verabschiede ich mich aus dieser skurrilen Situation und gehe kopfschüttelnd in mein Zimmer.


Manchmal habe ich die schlimme Ahnung, dass ich in einem sehr merkwürdigem Paralleluniversum gelandet bin. Oder ich bin auf zwischenmenschlicher Basis einfach nur ein denkwürdiger Versager. Jedenfalls bin ich offensichtlich kopfvoran von diesem berüchtigten Zug gefallen, auf dem meine Mitmenschen momentan fahren. Alle machen sich Sorgen um mich. Caro, Noah, Gordon. Gleichzeitig gehen sie mir tierisch auf den Sack mit ihrer dreisten Fragerei und der nervigen Neugier. Und irgendwie kann ich ihnen dennoch nicht böse sein.
Caro sowieso nicht. Der kleine Engel.
Gordon ist etwas lästig, aber ihn kann ich händeln. Auch wenn das Gespräch eben schon leicht strange war. Er ist halt ein Mitbewohner mit ungesundem Interesse an den Lebensumständen meiner Wenigkeit – auch wenn diese nicht mehr ganz so schillernd und ruhmreich sind, wie ich es gewohnt bin.

Aber Noah. Der macht mir zu kämpfen. Mehr als ich erwartet hätte. Besonders nach dem kleinen Wutanfall auf dem Parkplatz – was ich ihm übrigens noch immer nicht ganz verziehen habe. Das ging mir schon Nahe. Näher als ich zugeben möchte. Und dann taucht er hier auf, macht mir Vorwürfe, dann besinnt er sich und macht einfach so ein Quasi-Date klar. Das muss ich erstmal verarbeiten. Und dann war da ja noch diese peinliche, kleine Situation, als wir über den Status unseres Bekanntengrades gesprochen haben. Ich dachte es würde sich mehr anbahnen – Und ich dachte ernsthaft, er macht mir jeden Augenblick ein Liebesgeständnis. Und irgendwie ist mir dabei verdammt wohlig zu Mute gewesen. Ich muss automatisch an gestern morgen denken. An seinen freien Oberkörper und den knackigen Po. Seine verdammt grünen Augen, das nachsichtige Lächeln, die braunen Locken – Hilfe! Und dann noch seine Stimme. Das habe ich ja ganz verdrängt. Dieser süße Singsang, der einen auf Wolke Sieben befördert. Ich habe mich doch nicht verguckt oder so?

Leider bin ich in dieser Hinsicht ein noch kläglicherer Versager. Ich kann nicht leugnen, das da etwas ist, eine gewisse ernstere Verbindung zu dem Pfarrerssohn, aber ich kann dieses Gefühl nicht deuten. Ist es einfach nur Interesse an einem Lückenbüßer? Schließlich hat mich Noah ja auch ganz nett von meinem Liebeskummer abgelenkt. Dann die Wandlung vom öden Allround-Liebling zu einem Mann mit charackterlicher Tiefe. Jemand, der auch Wut zeigen kann. Der mir Kontra gibt. Das brauche ich. Und jemand, der vernünftig ist. Noah könnte mir Halt geben.
Ich weiß, dass ich noch lange nicht über Chris und das, was passiert ist, hinweg bin.
Und genau deswegen wäre es mehr als unfair, mir und insbesondere Noah etwas vorzumachen. Ich muss ganz dringend aufpassen, dass sich da nicht mehr entwickelt. Und auch, dass Noah nicht anfängt, irgendwann mehr zu fühlen. Ich müsste ihm das Herz brechen.
Ich müsste ihm die Wahrheit erzählen. Was da so gründlich schief gelaufen ist zwischen mir und Chris. Dieses dramatische Ende unserer durchweg glücklichen Beziehung.



---- 3 Monate zuvor ----


„Gratulation Fräulein Meyer. Sie sind schwanger!“, der Arzt zeigt mäßig begeistert auf den Monitor und sieht mich dann erwartungsvoll an. Anscheinend weiß er nicht, ob ich die Nachricht erfreut oder geschockt auffasse. Überrascht bin ich jedenfalls nicht. Ich bin ja nicht blöd und meinen Körper kenne ich auch ganz gut. Nur verdrängt habe ich es irgendwie.
„Wie weit bin ich denn?“, frage ich ernst.
„Circa elfte Woche. Sie sind schon ziemlich weit. Schauen Sie mal. Man erkennt schon den Fötus ganz genau.“ Er zeigt wieder auf den Monitor. Ich sehe Nichts. Nur ein Schneegestöber und dazwischen vielleicht ein undefinierbares Etwas. Mein Baby! Fuck!

Ich spüre meinen Herzschlag an der Schläfe. Ein ungeahntes Gefühl durchfließt meine Adern. Eine Mischung aus Freude, Unsicherheit und absolutes Unglauben. Der Gynäkologe kann meine Reaktion noch immer nicht deuten und räuspert sich. „Sollten Sie sich für einen Abbruch entscheiden, dann ist jetzt höchste Eisenbahn. Ich würde Ihnen sofort die Überweisung in die Klinik ausstellen.“, sagt er mit professioneller Distanziertheit.
Ich starre ihn verwundert an. „Kommt nicht in Frage!“

Mit einem undefinierbarem Gefühl verlasse ich die Praxis. In der Hand den Mutterpass, meine Tasche voll mit Infomaterial und meine Gesichtszüge sind wahrscheinlich völlig entrückt. Ich fühle mich wie betäubt. Schwanger! Ich bekomme ein Baby! Verrückt.

Ich wusste es. Habe es zumindest geahnt. Zweimal sind meine Tage ausgeblieben. Dann dieser eine Morgen, wo ich mich ohne Verwarnung unter der Dusche übergeben musste. Plötzlich hatte ich absolut keine Lust mehr auf Zigaretten. Ich habe vor sechs Wochen aus heiterem Himmel aufgehört, weil mich allein schon der Gedanke an den blauen Dunst angeekelt hat. Alles klare Zeichen, die wohl fast jede Frau zu deuten weiß.
Allerdings hat Chris keine Ahnung. Und diese Tatsache bereitet mir Bauchweh.


Mit einem mulmigen Gefühl und Herzrasen betrete ich unsere Wohnung. Es herrscht wie üblich leichtes Chaos. Zig Schuhe stehen in unserem Flur, daraus schließe ich, wie haben Besuch. Nicht untypisch für einen Freitag. Chris hat heut Abend einen wichtigen Gig und kommt am besten in Laune, wenn seine Kumpels mit ihm abhängen und sie sich zusammen auf die Nacht einstimmen. Normalerweise würde ich mich auf heute Abend freuen. Ich mag den Club, in dem er auflegen wird. Sie haben da einen netten VIP-Bereich und der Gastgeber ist ziemlich spendabel und lässt uns meistens den ganzen Abend umsonst trinken. Außerdem ist es schon fast ein Highlight, dass Chris endlich mal wieder „nur“ in dieser Berliner Diskothek auflegt.
Doch mit diesem neuen Wissen und der Bestätigung um das kleine Etwas, dass da in mir ist, kann ich es mir beim besten Willen nicht vorstellen, mich in einen verqualmten Raum zu setzten oder gar die ganze Nacht durchzufeiern.

Demnach ist meine Stimmung leicht angekratzt, als ich das Wohnzimmer betrete und mir beißender Gestank entgegen schlägt. Ich verziehe das Gesicht und stürme zum Fenster. Frische Mai-Luft strömt mir entgegen. Dann wende ich mich zu Chris und seinen Freunden.
Jene lümmeln faul auf unserem Designer-Sofa, qualmen, saufen und glotzen auf unseren riesigen, hochauflösenden LCD-TV. Chris sitzt am Schreibtisch, hat Kopfhörer auf und bastelt am Laptop.
Wie immer. Gewohntes Bild. Doch trotzdem ist alles anders.
Mein Magen zieht sich zusammen. Ich muss es ihm sagen. Und dann wird sich alles ändern.
Noch nie war ich mir so unsicher. Ich kenne Chris nun schon so lange, liebe ihn über alles. Dennoch habe ich keine Ahnung, wie er reagieren wird. Ich weiß, er liebt dieses Leben. Seine Musik, seinen Erfolg, mich. Ein Kind wird alles ändern. Wir haben uns noch nie über dieses Thema unterhalten. Und da ist dann noch diese kleine, unausgesprochene Problem, was unsere Beziehung zusätzlich in letzter Zeit belastet hat...

Chris scheint mich nun wahrzunehmen, dreht sich um und nimmt die Kopfhörer ab. Er lächelt.
„Hey Süße!“, sagt er verwundert. „Wieder zurück? Wo warst du überhaupt?“
„Beim Arzt.“, antworte ich einsilbig und verschränke die Arme vor meiner Brust, weil der kühle Luftzug aus dem Fenster mich fröstelnd lässt, dabei lehne ich an der Heizung, die meine Oberschenkel von hinten angenehm aufwärmt.
Chris runzelt die Stirn. Das ist verdammt niedlich. Ich liebe es, wenn er so schaut.
„Alles in Ordnung?“, fragt er unsicher.
Ich nicke tapfer. Das scheint ihm zu reichen. Er lächelt nochmal kurz, dann dreht er sich wieder mit dem Bürostuhl um und die Kopfhörer sind schneller auf seinen Ohren, als ich „Schwanger“ sagen kann. Etwas enttäuscht ziehe ich mich zurück in unser Gästezimmer.

Dort krieche ich auf die Couch, schnappe mir eine Kuscheldecke und schalte den Fernseher ein. Ich bin verdammt müde. Ich könnte auf der Stelle ein Nickerchen vertragen. Gleichzeitig bin ich total aufgewühlt. Was soll ich nur machen?
Noch vor einem halbem Jahr hätte ich Chris geschnappt, seine Kumpels hochkant rausgeschmissen und es ihm erzählt. Wir hätte darüber reden können, uns gegenseitig Halt gegeben.

Doch Chris ist nicht mehr Chris. Er hat sich verändert. Auch wenn er es sich mir gegenüber nicht anmerken lässt, so spüre ich es. Eine unüberwindbare Distanz ist da zwischen uns entwachsen. Es ist schwer zu beschreiben, dennoch absolut präsent. Und ich vermute Chris empfindet ebenso, will es aber nicht wahr haben.
Vor einem halben Jahr ungefähr hat er die internationale Grenze gesprengt und seinen ersten Auftritt im Ausland absolviert. Danach hagelte es nur so Aufträge. Und damit entsprang zwischen uns ein Loch. Eine Kluft. Chris reiste von einem Auftritt zum Nächsten, pilgerte durch die Weltgeschichte und unsere gemeinsamen Abende wurden immer weniger. Sicher, ich versuchte so oft wie möglich dabei zu sein, doch nicht jeder Auftraggeber zahlt für Künstler plus Gästeliste.
Und so tauchte Chris in eine neue Welt ein, ohne mich.

Ich denke, wir können beide nicht besonders gut mit dieser neuen Situation umgehen.
Er, voller neuer Eindrücke, mit Jetlag und schlechtem Gewissen – Ich, irgendwie verbittert, weil ich schon wieder alleine zu Hause gesessen habe und auf ihn warten musste, dazu noch neidisch, weil ich nicht mal eigenes Geld verdiene und gleichzeitig unsicher, weil ich nicht weiß, was er nach und vor seinem Auftritt so getrieben hat. Schwierig.

Wir haben noch nicht drüber geredet, dazu fehlte uns auch ohne zu übertreiben die Zeit. Doch dieses Damoklesschwert, was da über uns schwebt, das sehen wir nur zu deutlich. Und jetzt gesellt sich zu dem Schwert auch noch ein kleines Krümelchen dazu, dass sich in meiner Gebärmutter pudelwohl zu fühlen scheint, und macht alles noch hundertmal komplizierter.

Wir werden erwachsen. Das merke ich ganz eindeutig. Besonders daran, dass wir nun echte Probleme haben.
Und ich weiß immer noch nicht, was ich machen soll.
Natürlich muss Chris es erfahren. Dazu hat er ein Recht. Doch was dann?
Ich erwarte keine Freude. Dazu sind wir noch zu jung. Außerdem ist es ja quasi meine Schuld. Schließlich habe ich wohl die Pille vergessen, obwohl ich mich nicht direkt entsinnen kann, dass ich sie mal zu spät genommen habe oder so. Aber eine Ursachenforschung ändert da Nichts. Ich habe es ja schwarz auf weiß. Schwanger. Elfte Woche.

Abtreibung kommt natürlich nicht in Frage. Das ist Mord. Immerhin wurde ich christlich erzogen, auch wenn ich nicht gläubig bin. Dieser Grundsatz wurde so tief indoktriniert. Außerdem verstößt es prinzipiell gegen meine Ansichten. Das könnte ich nicht übers Herz bringen.

Plötzlich zucke ich zusammen, als die Tür aufgeht und Chris vor mir steht. Er sieht tatsächlich besorgt aus. „Alles in Ordnung Süße?“, fragt er und setzt sich dabei zu mir.
Ich schlucke schwer. „Mhm.“
„Bist du krank?“ Er sieht mich prüfend an.
„Nein.“, antworte ich.

„Irgendetwas stimmt mit dir in letzter Zeit nicht.“, stellt er schmollend fest. „Ist es wegen der Gigs? Bin ich zu oft weg?“, fügt er hinzu und sieht zerknirscht aus.
„Willst du wirklich jetzt darüber reden?“, frage ich ungläubig.
„Ich will, dass du wieder die Alte bist.“, entgegnet er leise und sieht mir dabei beeindruckend eindringlich in die Augen. Das kann er gut. Ich schmelze beinah dahin. Oh wie sehr ich ihn liebe.
„Vielleicht will ich genau das auch von dir?“, flüstere ich traurig.
Er stutzt. Dann scheint er kurz nachzudenken.
Im nächsten Moment liegt er plötzlich über mir und drückt mir einen heißen, intensiven Kuss auf die Lippen. Seine Hände umfassen mein Gesicht. Sobald sich unsere Münder voneinander lösen, sieht er mich ernst an und haucht mit belegter Stimme: „Wir schaffen das. Wir lieben uns Anna! Scheiß auf diese schwierige Phase, aber wir werden uns doch nicht verlieren!“
Dann küsst er mich wieder. Seine Zunge bohrt sich in meine Mundhöhle, als müsse er mir beweisen, wie gut wir noch harmonieren und mir entweicht ein heiseres Keuchen. Er kann so verdammt gut küssen. Und er weiß genau welche Knöpfe er bei mir drücken muss. Kurzzeitig erliege ich seiner Attacke und gebe mich ihm hin.

Aber damit sind unsere Probleme nicht aus der Welt. Mir wird schnell bewusst, dass ein noch so toller Kuss, es nicht schafft, diese neue Leere zwischen uns zu füllen. Und auch eine ungewollte Schwangerschaft ist damit nicht gebeichtet. Ich stoße Chris sanft, aber nachdrücklich, von mir.
Jetzt oder nie.

Er sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen fragend an.
Meine Kehle schnürt sich zusammen. Ich will etwas sagen, doch es kommen keine Worte über meine Lippen. Einmal tief durchatmen.
Chris schaut immer unsicherer. „Was?“, fragt er. Er kennt mich und mein Verhalten zu gut. Jetzt ist es eh zu spät um noch irgendwie die Kurve zu kriegen.

„Ich... ich bin schwanger.“, platzt es aus mir raus.
Seine Augen weiten sich. Mein Herz rast und mir wird extrem heiß.
„Nein!“, sagt er entsetzt und schüttelt den Kopf. „Das ist nicht dein Ernst Anna!“
Ich nicke nur. Er starrt mich perplex an. Sieht einmal an mir herunter, dann wieder in meine Augen und ich sehe es ganz eindeutig. Es passt ihm nicht. Da ist keine Freude. Nur Panik. Und Wut?

„Wie konnte das denn passieren?“, fragt er sachlich.
Ich zucke mit den Schultern. „Keine Ahnung.“, sage ich mit zittriger Stimme. „Pille vergessen?“
„Und die wievielte Woche bist du?“
„Elfte.“
„Elfte? Willst du mich verarschen? Da musst du ja mindestens schon seit ein paar Wochen wissen, dass du schwanger bist. Und du sagst es mir jetzt? So dass ich kaum noch eine Wahl habe? Das ist nicht fair Anna! Was soll das?“
Ich bin etwas sprachlos. Bis jetzt hat er eigentlich noch nie so herablassend mit mir geredet. Wir waren immer auf einer Augenhöhe. Ich versuche mich mäßig erfolgreich zu verteidigen.
„Ganz genau weiß ich es erst seit vorhin, da war ich nämlich beim Arzt. Und jetzt habe ich es dir sofort gesagt. Und was heißt überhaupt, dass du kaum noch eine Wahl hast? Willst du mich verlassen oder was?“
„Ich meine, dass ich meine Meinung über eine Abtreibung vertreten kann, ohne dass es unmoralisch wird. Jetzt ist es ja fast zu spät dafür, nicht wahr?“, antwortet er patzig.

Ich bin entsetzt. „Willst du, dass ich unser Kind ermorde?“
Er schnaubt. „Jetzt sei nicht so melodramatisch. Was ist daran bitte Mord? Ist es nicht viel wichtiger, dass wir nur dann ein Kind in die Welt setzen, wenn wir beide es wollen und wir ihm die bestmöglichen Start in sein Leben gewähren können?“
„Du willst jetzt nicht wirklich eine Grundsatzdiskusion über Schwangerschaftsabbruch führen, oder?“, entgegne ich abfällig. „Du kennst meine Meinung Chris.“
„Und was ist mit meiner Meinung?“, sagt er aufgebracht. „Du stellst mich hier vor vollendete Tatsachen und ich muss damit klar kommen? Habe nicht mal ein Mitspracherecht? Ich sag dir mal was Anna: Ich will kein Kind. Ich liebe dich, aber ich will kein Kind.“

Das sitzt erstmal.
Mit großen Augen starre ich ihn an. Er ist wütend. Und gekränkt. Und wahrscheinlich völlig überfordert. Gut, verständlich. Schließlich habe ich ihm da nen ganz schönen Brocken vor die Füße geworfen. Aber diese ziemlich eindeutige Einstellung verwirrt mich zutiefst.

„Und was soll das jetzt bedeuten?“
„Keine Ahnung.“, sagt er fast verzweifelt. Doch sein Gesicht wirkt beängstigend ernst. „Ich muss das erstmal verdauen. Und du wahrscheinlich auch. Ich...ich...keine Ahnung. Du hast mir gerade vortrefflich den Abend versaut. Ich schätze mal, du kommst heute nicht mit?“, fragt er etwas abschätzig.
Ich blinzle ihn wütend an. „Nein Danke.“

Er steht auf und schüttelt dabei mit dem Kopf. „Das ist so unglaublich. Dass du mir so etwas antust!“ Mit diesen Worten verlässt er das Zimmer. Ich sitze völlig verstört auf dem Gästesofa und blinzle die ersten Tränen weg. Mein Kopf ist wie leer gefegt. Wow! Der Vater meines Kindes ist ja das größte Arschloch der Nation!

Ich bin nicht mehr im Stande, diese Reaktion nur halbwegs zu verarbeiten.
Das einzige, was ich tue, ist es, starr an die Wand zu gucken und an Nichts zu denken. Ich lasse keine Emotionen zu, verbitte mir die Tränen.
Irgendwann höre ich Chris und seine Kumpels, wie sie polternd die Wohnung verlassen. Er kommt nicht nochmal zu mir ins Zimmer, um sich zu verabschieden. Kein „Bis später“, kein „Wir reden morgen drüber.“, und kein „Ich liebe dich trotzdem.“ Mit dem Klicken des Türschlosses bricht bei mir der Damm und ich heule mich haltlos in den Schlaf.

Und irgendwann nach Mitternacht beginnen die Krämpfe im Unterleib.






Kommentar:

Was für ein wahnsinnig langes Kapitel. Und dann auch noch so viel Input Oo
Na? Hat irgendwer mit diesem Schicksalsschlag aus Annas Vergangenheit gerechnet? Und was sagt ihr zu Noah und seinem Blitz-Date?
Ich meine mich zu erinnern, dass diese Geschichte eigentlich eine Ablenkung zu „Turkish Delights“ werden sollte und irgendwie habe ich mich wohl verrannt... von wegen leichte Kost ^^
Ich bitte um Feedback :)

LG Maggie






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