Wunderschön !? - Teil 3

Autor: Sternchen
veröffentlicht am: 21.03.2011


Aurelius beobachtete das Treiben auf den Fluren durch seine geöffnete Zimmertür hindurch. Wie sie alle hin- und her rannten, nur weil die Eltern zu Besuch kamen. Der kleine Sechstklässler, Tim, fragte ihn irgendwann, ob er wisse, wo sein neues Hemd sei. Aurelius zuckte mit den Schultern und verlies das Zimmer, um sich im Waschraum auf den Boden zu setzten. Er hatte sich manchmal gefragt, ob er verrückt geworden sei. Ja, vielleicht war er nicht mehr ganz richtig im Kopf.
Nach dem Tod seiner Eltern hatte er sich immer mehr von der restlichen Welt abgekapselt. Er war ein Sonderling geworden, hatte keine Freunde gehabt und sich in Folge dessen in die Arbeit gestürzt. Irgendwie war das Verhalten von damals nach und nach zur Normalität geworden. Mittlerweile gefiel ihm seine Rolle. Er hatte einen festen Platz gefunden, auch wenn er eine Persönlichkeit entwickelt hatte, mit der die meisten nicht klarkamen.


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„Hey, jetzt räum doch auch mal was mit auf.“, fuhr Frederick seinen Freund Sergej an, der seelenruhig auf seinem Bett lag und las.
„Warum denn? MEINE Sachen sind schließlich alle, wo sie hingehören.“, gab Sergej zurück und machte eine Handbewegung in Richtung seines Schrankes und seines Schreibtisches daneben. Wie immer war alles ordentlich.
„Ja, aber in deiner Zimmerhälfte liegt total viel Zeug auf dem Boden.“, beschwerte sich Frederick.
„Das ist DEIN Zeug. Deine Hose, deine Bücher, deine Taschentücher, dein Schal,… Ich weiß zwar nicht, wie du das überhaupt geschafft hast, innerhalb von vier Wochen das gesamte Zimmer zu verwüsten…“
„Ja, ja. OK. Kannst du mir trotzdem helfen?“, bettelte Frederick.
„Ne, da musst du allein durch. Ich weiß schon, warum ich in meinen Sachen Ordnung halte. Ich kümmere mich nicht noch um dein Zeug.“, sagte Sergej und drehte sich auf die andere Seite, mit dem Rücken zur Wand.
***
Am nächsten Morgen konnte Sergej sich nicht vorstellen, dass es einmal seine Sorge gewesen war, den Waschraum nicht für sich allein zu haben. Er musste schon fast Gewalt anwenden, um überhaupt eines der Waschbecken benutzen zu können. Vor allem die jüngeren Schüler drängten sich vor den Spiegeln um ihre Haare zu kämmen und für die Eltern, Großeltern und restlichen Verwandten möglichst schick zu sein. Sergej wollte sich gar nicht vorstellen, wie das erst im Mädchenflügel aussehen sollte, oder dann im März zum Frühlingsball…
Gegen 10.00Uhr kamen die ersten Besucher. Es gab eine Tombola, der Hausmeister hatte einen Würstchenstand aufgebaut, die Theater- AG führte etwas auf und die Schüler konnten den Eltern ihre Zimmer, die Aufenthaltsräume und vieles mehr zeigen.


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Aurelius hatte eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber den Besuchstagen entwickelt, da war es eigentlich ein Witz, das ausgerechnet er bei Elternabenden, beim Tag der offenen Tür oder bei Besuchstagen das Vorzeigeobjekt spielen musste.
Wie jedes Mal sollte er, zusammen mit Wilma, die “Eröffnungszeremonie” halten. Wilma Groth war letztes Jahr Zweitbeste des Jahrgangs geworden, er Jahrgangsbester. Zwar hatten sie beide einen Durchschnitt von 1,0 aber irgendwelche anderen Faktoren, wie zum Beispiel Fehltage und so weiter hatten mitgespielt. Jedenfalls war Wilma der Grund, warum Aurelius mittlerweile die Vorbereitung für eine solche Veranstaltung sogar gern aufgebrummt bekam.
Der Rektor stand schon auf der Bühne in der Aula, als Aurelius endlich hinter dem Vorhang eintraf. Die Verspätung rührte daher, und das war wieder eine merkwürdige Angewohnheit, dass Aurelius nicht rannte. Im Sportunterricht natürlich, aber nicht aus Zeitgründen. Seine Eltern waren damals zu schnell gefahren.
“Da bist du ja endlich!”, flüsterte Wilma ihm zu. Ihr rotes Haar war hochgesteckt und sie trug ein grünes Kleid. Aurelius hatte ein grau-weiß kariertes Hemd angezogen. Sein Lieblingshemd.
“…also möchte ich Sie noch einmal herzlich begrüßen.”, verkündete der Rektor gerade. “Jetzt werden die Schüler zeigen, was sie können. Sie werden nun von Schülern verschiedener Klassenstufen Gedichte vorgetragen bekommen, selbstverständlich geschrieben vom Namensgeber unserer Schule, Johann Wolfgang von Goethe. Geleitet wird diese Veranstaltung von der Jahrgangselite der Klasse 10, Aurelius Harms und Wilma Groth.”
Applaus folgte.
Wilma und Aurelius betraten die Bühne.
“Auch wir heißen die Besucher herzlich Willkommen.”, begann Wilma die Rede, “Dieses Jahr ist zur Eröffnung des Besuchstages ein Klassenübergreifendes Lyrikprojekt der Klassen 5-10 geplant. An eines der bekanntesten und sicher auch schönsten Gesichte Goethes hat sich allerdings niemand gewagt. Darum wird Aurelius, an unserer Schule bekannt als absoluter Experte auf dem Gebiet der Dichtung, Ihnen nun zur Einstimmung auf die nächste halbe Stunde das Gedicht ‘Willkommen und Abschied’ vortragen.”
Wieder Applaus.
Aurelius kannte das Gedicht gut, er hatte es schon vor etwa drei Jahren gelernt. Während er es aufsagte, sah er immer ins Publikum. Dann kam die dritte Strophe, sie war die schwerste, denn hier musste man es schaffen, dass die Zuhörer Gänsehaut bekamen. Bei den ersten Zeilen sah er Wilma ins Gesicht, unbeabsichtigt. Sie sah ihn auch an.
„Dich sah ich, und die milde Freude
Floß von dem süßen Blick auf mich;
Ganz war mein Herz an deiner Seite
Und jeder Atemzug für dich.“, es gab Szenenapplaus und da wurde Aurelius klar, dass er seine Augen nicht mehr beim Publikum hatte. Schnell korrigierte er seinen Fehler, auch Wilma wandte den Kopf weg.
Aurelius fühlte, wie seine Wangen heiß wurden. Hoffentlich war er nicht rot im Gesicht.
„Ein rosafarbenes Frühlingswetter
Umgab das liebliche Gesicht,
Und Zärtlichkeit für mich - ihr Götter!
Ich hofft es, ich verdient es nicht!“ um Glück kannte Aurelius diesen Gedicht gut, er hörte sich selbst gar nicht mehr zu bei dem, was er sagte.
So nahm die Veranstaltung ihren Lauf und irgendwann, ein Neuntklässler trug gerade sehr monoton den Zauberlehrling vor, flüsterte Aurelius Wilma zu:
“Ich würde mich freuen, wenn du mit mir zum Frühlingsball gehst.”
Wilma antwortete nichts, denn nun mussten sie beide wieder auf die Bühne.
“Ich hoffe, unsere kleine Darbietung hat Ihnen gefallen. Nun steht es Ihnen frei, sie hier ein wenig umzusehen, oder noch zu bleiben, um das Theaterstück der Klassen Elf und Zwölf anzusehen.”, schloss Aurelius.
Während die Leute klatschten, sah er hinüber zu Wilma. Diese nickte kaum merklich.


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Was ich noch anmerken kann: Aurelius und Sergej sind nicht vollständig meiner Phantasie entsprungen, sondern ich habe für sie 'echte' Vorbilder. (Natürlich wurden die "Grundideen" für die beiden so umgeschrieben, dass man sie eigentlich nicht mehr erkennen sollte - hoffe ich... :D)





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