Wunderschön !? - Teil 2

Autor: Sternchen
veröffentlicht am: 17.03.2011


Später ging Sergej zurück in sein Zimmer und weckte Frederick wieder auf, zog sich an und ging zum Frühstück in den Jungenspeisesaal (sogar das Essen nahmen Jungen und Mädchen separat ein). Wie jeden Morgen aß er eine Schüssel Müsli und trank einen starken Kaffee. Nach dem Essen packte er seinen Ranzen und lief einmal quer über den Hof zum Schulgebäude.
„Na, freust du dich schon, deine heeeiiiße Liebe wieder zu sehen?“, stichelte Frederick.
„Boah, hör doch auf.“, zischte Sergej. „Sie hört dich sonst noch!“
„Na, und wenn? Du bist jetzt schon seit einer Ewigkeit in Anna verschossen. Wird doch mal Zeit, dass sie das auch erfährt!“, machte Frederick weiter.
„Klappe! Sie kommt!“
„Alter, deine Probleme würde ich gern mal haben.“, kopfschüttelnd setzte sich Frederick auf seinen Platz in der hintersten Ecke, und Sergej rutschte in die zweite Reihe, direkt hinter Aurelius, der jedes Jahr direkt hinter den Lehrertisch saß. Anna saß neben ihm. Das war auch der Grund, warum Sergej nicht hinten bei seinem besten Freund saß.
Plötzlich drehte sich Anna um.
„Sergej? Könntest du mir bitte einen Bleistift leihen? Ich habe meine Federmappe liegen lassen.“, bat sie. Ihre Augen strahlten irgendwie noch mehr als sonst. Sie war einfach nur…
„Äh, Sergej? Hört du mich?“, unterbrach ihre glockenreine Stimme seine Gedanken.
„Ja, klar.“, hektisch kramte Sergej in seiner Tasche und holte einen Bleistift hervor. Jetzt wäre die perfekte Gelegenheit gewesen, ein Gespräch anzufangen. Aber worüber? Über den Stift?
***
„Ich weiß wirklich nicht, warum du dich so anstellst.“, beschwerte sich Frederick, der sich nach der Schule gleich eine Schilderung des Morgens hatte anhören müssen. „Wenn dir die Kleine gefällt, dann geh‘ einfach hin und frag sie: ‚Hey, Anna, willst du mal mit mir ein Eis essen gehen?‘“
„Das geht doch nicht. Das ist doch der Standard-Satz. Da kann ich ja gleich zu ihr gehen und sagen ‚Ich steh‘ auf dich.‘ Mann, ich bin Stipendiums-Schüler und sie hat sogar ‘nen Adels-Titel. Die will von einem Jungen Perlenketten und so was.“ „Mensch, jetzt mach dich doch mal locker. Wenn sie auf dich steht, dann ist ihr doch deine chronische Pleite egal. Und wenn nicht, auch gut.“
„Falsch, wenn nicht, dann hasst sie mich. Besser ignoriert, als gehasst werden.“, erklärte Sergej.
„Du spinnst echt. Meiner Meinung nach hast du ja noch Glück, wenn sie nichts von dir will. Mir ist sie jedenfalls unsympathisch. Aber wenn du meinen Rat nicht annehmen willst, hör auf mich mit deinen Problemchen zuzutexten.“, stöhnte Frederick. „ - Hey, wo willst du denn schon wieder hin?“
„Aufs Klo.“
„Also, entweder du hast auf dem Klo irgendwas versteckt, von dem ich nichts wissen darf und was du aller zwei Stunden ansehen musst, oder du hast echt ‘ne schwache Blase.“
„Sehr witzig. Ich hab‘ ne Nierenkrankheit, du Hirni. Fängst du jetzt auch noch damit an, dich mit mir über Toiletten zu unterhalten? Lessing sagte schon: ‚Kein Mensch muss müssen.‘“, erklärt Sergej. Frederick sah ihn verwirrt an.
„Also erstens meinte Lessing damit garantiert nicht, dass alle das Recht haben, aufs Klo zu gehen und zweitens: Wo hast du den das gehört?“
„Aurelius…“, sagte Sergej nur, als er schon fast aus dem Zimmer verschwunden war.
***
Die meisten Tage vergingen wie dieser. Sergej wurde von der Hupe geweckt, lief in den Waschraum, danach die Morgengymnastik, dann wieder Waschraum, wo er den dichtenden Aurelius traf, anziehen, Frederick wecken, Frühstück, Schule, Hausaufgaben, irgendwas mit Frederick (manchmal auch über Anna reden, auch wenn Frederick das hasste), Abendbrot, lesen, Nachtruhe.
In der nächsten Woche weckte Herr Girschner „seine Jungs“ mit der 5.Synphonie von Beethoven, gespielt aus einem kleinen Batterieradio, so laut, dass weiterschlafen unmöglich war. Am Mittwoch fasste Sergej einen Schluss: er würde mit Anna zum Frühlingsball gehen, koste es, was es wolle. Und selbst wenn er sie ansprechen musste. (Na gut, ansprechen war wahrscheinlich zwangsläufig nötig.)
Die übernächste Woche brachte in dieser Hinsicht jedoch noch keine Erfolge.
Das einzig Erwähnenswerte war, dass er einen Anruf bekam. Sergej war gerade im Waschraum, wo er wieder einmal Aurelius getroffen hatte, der es in seinem Zimmer nicht aushielt. Als er zurückkam, saß Frederick auf seinem Bett, das Handy in der Hand.
„Das hat geklingelt, da hab ich abgenommen.“, sagte er entschuldigend. „Ist wohl eine deiner Verwandten aus Kiew, ich versteh‘ die nicht. „
„Mann, gib her, wenn das meine Omi ist!“, schimpfte Sergej, riss ihm das Telefon aus der Hand und verschwand auf den Flur, um ungestört mit seiner Oma zu telefonieren.
Doch wenn man in einer anderen Sprache telefoniert, ist es fast so, als würde man im Tutu-Röckchen eine Gesangseinlage geben: Schüler bleiben plötzlich stehen, und beobachten einen; die, die netterweise doch weitergehen, sperren die Ohren auf, damit sie, egal wie leise man spricht, zuhören können. Zwar wusste Sergej, dass ihn keiner der Anderen verstehen konnte, dennoch „flüchtete“ er mit seinem Mobiltelefon in den Waschraum. Aurelius, der ja neuerdings dort abhing, hielt sich demonstrativ die Ohren zu. Anständig von ihm, jedoch theoretisch gar nicht notwendig.
Schließlich legte Sergej auf, und Aurelius konnte die Finger wieder aus den Ohren nehmen.
„Meine Großmutter kommt zum Besuchstag! Hier her!“, erzählte ihm Sergej.
„Toll. Schön für dich. Mir doch egal.“, kam zurück.
„Ich mein ja nur. Meine Oma kommt extra mit dem Flugzeug aus Kiew.“, fügte Sergej hinzu, “Sie ist noch nie geflogen.“
„Aha.“, war die knappe Antwort. Auf einmal sah Sergej, wie Aurelius die Tränen von den Wangen liefen. Aurelius unterdrückte ein Schluchzen und wischte sich hastig mit dem Ärmel seines (grün karierten) Hemdes über die Augen, was allerdings nichts half.
„Was ist denn?“, fragte Sergej erschrocken. „Hab ich irgendwas Falsches gesagt?“
„Mein Opa ist gestern ins Krankenhaus eingeliefert worden. Herzinfarkt!“
„Oh, scheiße!“ Sergej setzte sich zu Aurelius auf den Boden. Aurelius riebt sich immer noch die Augen, atmete tief ein, setzte sich wieder in die übliche, gerade Haltung. Innerhalb kürzester Zeit hatte er sich zusammengerissen.
„Was passiert denn jetzt?“, fragte Sergej.
„Erst mal muss er dort bleiben. Im Internet habe ich gelesen, dass nur die Hälfte der Betroffenen die ersten vier Wochen nach dem Infarkt überlebt. Zumindest nach so einem mit Herzstillstand und so, wie mein Opa hatte.“ Plötzlich begann er wieder zu weinen.
„Scheiße.“, murmelte Sergej noch einmal. „Ach, die im Internet wollen einen doch nur fertig machen. Außerdem, ich hab‘ doch deinen Opa gesehen. Der war doch total fit, der schafft das bestimmt.“ Hoffentlich, dachte Sergej im Stillen.

„Mein Herze, willst du ganz genesen,
Sei selber wahr, sei selber rein!
Was wir in Welt und Menschen lesen,
Ist nur der eigne Widerschein.“, zitierte Aurelius.

„Von wem ist das?“, fragte Sergej.
„Ist egal.“, sagte Aurelius, stand auf und hatte kurz darauf den Waschraum verlassen.
Die Sache mit Aurelius lies Sergej in den nächsten Tagen nicht mehr los. Er hatte den alten Mann ja einige Male gesehen. Immer, wenn der seinen Enkel vor den Feien abholte, oder nach den Ferien wieder ins Internat brachte. Obwohl Aurelius meistens mit dem Zug fuhr. Jedenfalls war Aurelius Großvater ein lustiger, freundlicher alter Herr, der sich um Aurelius kümmerte, wie um seinen eigenen Sohn. Auch war deutlich sichtbar, wie Aurelius seinen Großvater liebte.
Wenn dieser jetzt morgens in den Waschraum kam, blieben die Gedichte aus. Wenn überhaupt, dann waren es nur düstere Verse, die er leise vor sich her murmelte.
Herr Girschner war einige Tage später krank geworden und weckte seine Schützlinge nun über die Lautsprechen auf den Fluren. Da er aber im Bett bleiben musste, und die Anwesenheit der Schüler nicht überprüfen konnte, ließen alle die Morgengymnastik ausfallen. Den jungen Mann, der immer Ersatz für Herrn Girschner spielte, wenn dieser nicht aufpassen konnte, störte das nicht weiter.
Sergej fand das - im Gegensatz zu vielen seiner Mitschüler - nicht sehr erfreulich, denn nun musste er sehr früh aufstehen, um den Waschraum für sich allein zu haben: durch die fehlende Regelung kamen alle, wann sie wollten.
Am Ende dieser Woche sollte der Besuchstag stattfinden. Sergej hatte sich schon sehr auf seine Oma gefreut, doch am Mittwoch bekam er einen Anruf, dass sie doch nicht kommen würde. Die Flughäfen waren aufgrund des Unwetters und des starken Schneefalles in der Ukraine alle stillgelegt. Irgendwie war er sauer auf den Schnee. Er hatte sich sehr auf seine Oma gefreut und nun würde von seiner Familie niemand kommen. Aber er hielt sich immer wieder vor Augen, wie es Aurelius gehen musste, der ebenfalls keinen Besuch bekam und das aus einem weitaus schlimmeren Grund.
***
Am Freitag vor dem Besuchstag machte sich langsam eine wahre Massenpanik in den Gängen des Internates breit. Alle räumten auf, sortierten die Schränke neu, liefen hektisch auf den Fluren umher und suchten irgendein gutes Hemd oder das letzte Geschenk der Eltern, um es noch schnell gut sichtbar auf dem Schreibtisch zu drapieren. Sogar Frederick, eigentlich Chaostyp pur, wurde mitgerissen. Er war stundenlang damit beschäftigt, die Ordnung im Zimmer wieder herzustellen.





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