Niedereichenbach - und ich mittendrin

Autor: Sternchen
veröffentlicht am: 18.01.2011


Hier stand ich also. Auf dem winzigen Bahnsteig eines Ortes, dessen Namen ich vor einer Woche noch nie gehört hatte. Machte sozusagen Ferien von meinen Problemen, Ferien von meinem Leben.
Ich hatte alles hinter mir gelassen.
Die Schwierigkeiten mit meiner Mutter, meine angeblich beste Freundin, mit der mich mein Freund Finn betrogen hatte, und den natürlich auch. Alles habe ich zurück gelassen, um noch einmal neu anzufangen. Bei meinem Vater in einem kleinen Dorf namens Niedereichenbach.
Diese Version war zumindest die, die ich allen erzählte. Also, dass ich zu meinem Vater ging, das stimmte schon. Allerdings waren die Sache mit meinem Freund und meiner Freundin nur ein nebensächlicher Grund. In Wahrheit vermisste ich meinen Bruder Simon, der nach der Trennung meiner Eltern mit meinem Vater gegangen war.
Wir sind am selben Tag, in der selben Stunde auf die Welt gekommen, wir sind Zwillinge. Wir hatten, seid unserer Geburt, jeden Tag unseres Lebens miteinander verbracht. Bis wir zehn Jahre alt waren. Die Trennung unserer Eltern hatte uns beide aus der Bahn geworfen. Wir haben uns gestritten, weil ich nicht mit zu meinem Vater gehen wollte und weil er nicht bei meiner Mutter und mir blieb. Ich hatte ihm und er hatte mir Vorwürfe gemacht. Wir hatten uns dann ein Jahr lang nicht gesehen und ich merkte, dass er mir fehlte. Auf Geburtstagen meiner Großeltern sah ich meinen Vater und ihn in den darauf folgenden Jahren ein paar Mal. Wir beide waren stur und hielten an unserer Entscheidung fest. Und dann fünf Jahre später stand ich also auf diesem Bahnsteig, nach drei Stunden Zugfahrt, um zu meinem Vater zu ziehen. Zweimal in den fünf Jahren war ich bei ihm gewesen. Ich versuchte mich an das Haus, indem er wohnte zu erinnern. Eine riesiges, weiß gestrichenes Gebäude mit rotem Dach.
Früher einmal war es der Wohnsitz eines reichen Großgrundbesitzers gewesen, und im Laufe der Zeit nach und nach verfallen. Ende des 20. Jahrhunderts hatte irgendjemand das alte Haus gekauft und zu einem Ferienlager umgebaut. Mein Vater hatte das Ferienlager übernommen und eine Jugendherberge daraus gemacht. Es scheint ganz gut zu laufen, denn es sind eigentlich immer fast alle Zimmer besetzt. Manchmal kommen sogar Sprachkurse oder Schulklassen aus anderen Ländern, die hier ihr Deutsch verbessern wollen.
Noch einmal holte ich tief Luft. Von der Nervosität, die ich noch am Morgen gespürt hatte, war nichts mehr übrig geblieben. In nicht einmal zehn Minuten würde mein Vater ankommen, um mich abzuholen. Ich würde meinen Bruder wieder sehen! Fast ein Jahr war es her, dass wir uns das letzte Mal bei der Goldenen Hochzeit meiner Großeltern getroffen hatten.
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Ich wartete, doch von meinem Vater war selbst eine viertel Stunde später nichts zu sehen.
Stattdessen hielt ein Bus neben dem Bahnsteig. Kaum, dass die Türen aufklappten sprang ein Junge heraus. Simon! Natürlich erkannte ich ihn sofort. Seine Haare waren genauso rot wie meine, im Gesicht hatte er, genau wie ich, unzählige Sommersprossen und seine blauen Augen funkelten immer noch so verschmitzt wie früher. Aber im letzen Jahr war er um einiges in die Höhe geschossen und er hatte offensichtlich seinen Kleidungsstil geändert. Ohne Hemd, sondern mit grünen T-shirt kam er mir irgendwie komisch vor. Vielleicht war das ja doch schon immer so gewesen und er hatte sich bei den Familienfeiern nur herausgeputzt.
“Hallo Sara!“, begrüßte er mich, als er dann vor mir stand. “Komm, wir laden deine Sachen in den Bus.”
“Ist Vati nicht mitgekommen?”, fragte ich und sah mich um.
“Nein. Das hier ist der Bus für eine Schulklasse aus Südbayern.”, erklärte er. “Wir warten, bis die ankommen und dann fahren wir da gleich mit. Papa muss zu Hause mit Jutta noch den Essensplan absprechen.”
“Wer ist Jutta?”, ich sah ihn verständnislos an.
“Die Köchin.”, sagte er, hob meine beiden Koffer hoch und trug sie zum Bus. “Kann ich die hier schon reinstellen?”, fragte er den Busfahrer.
“Ja, geht in Ordnung!”, antwortete dieser.
Simon öffnet die Klappe des Gepäckraumes und hievte die Koffer hinein.
“Kennst du den Busfahrer auch?”, wollte ich wissen.
“Ne, die Busse zur Jugendherberge bestellen wir immer bei den Verkehrsbetrieben, wenn die Gäste das wollen.”, er zog ein zusammengerolltes A3-Schild aus seinem schwarzen Rucksack und entrollte es.
‘Jugendherberge Eichenbachgrund’ stand darauf. Wortlos ging er zu der einzigen Bank auf dem kleinen Bahnsteig und setzte sich. Ich setze mich neben ihn. Ich hatte zwar nicht erwartet, dass wir uns sofort wieder gut verstanden, aber zumindest auf eine Unterhaltung gehofft.
Aber das konnte ja noch werden. Fünf Minuten später hielt der Zug. Genervt stand Simon auf und hielt das Schild in die Höhe. Eigentlich verstand ich nicht ganz, was das sollte, immerhin wartete außer uns niemand an diesem kleinen Bahnhof.
Auf einmal wunde es schlagartig laut. Dreißig lärmende Schüler, etwas jünger als wir, drängelten sich aus eine Abteiltür, schubsten, quetschten und riefen wild durcheinander. Simon verdrehte die Augen.
“Warum, frage ich mich jedes Mal, warum müssen die immer so schreien?”, beschwerte sich Simon leise. Dann stand auch schon die Lehrerin der Klasse vor uns.
“Grüßt euch Gott! Sein’ Sie von der Jugendherbergen?”, fragte sie mit einem bayrischen Diaklekt.
“Ja, schönen guten Tag!”, sagte Simon und der genervte Ausdruck war urplötzlich aus seinem Gesicht gewichen, stattdessen schenkte er der fremden Frau ein freundliches Lächeln.
“Ich bin der Sohn des Herbergsvaters, er ist leider verhindert. Das ist meine Schwester.”, stellte er uns vor. “Der Bus steht dort drüben.”
“Ja, danke schön. - Klasse, geht’s ihr alle schon mal bitte in den Bus?”, rief sie den Schülern zu, die, nachdem ihre Taschen im Gepäckraum verstaut waren, versuchten, sich zu je fünft durch die Bustür zu quetschen, da jeder den besten Platz haben wollte.
Ich setzte mich mit meinem Bruder in die Reihe hinter der Lehrerin und der Begleitperson und sah aus dem Fenster, während Simon geduldig die Fragen zu den Zimmern oder den Essenszeiten beantwortete.
Nach zwanzig Minuten Fahrt auf der Landstraße, vorbei an Raps- und Getreidefeldern und durch kleine Dörfer kamen wir endlich am Ziel an. Es sah aus, wie in meiner Erinnerung: ein großes Haus, umgeben von einer weitläufigen Wiese mit einem Feuerplatz, dahinter begann der Wald. Der Bus hielt auf dem gepflasterten Hof, auf dem gerade ein kleiner Mann mit grauen Haaren, einem Basekap und einer ausgewaschenen Latzhose dabei war, mit einem Flammenwerfer das Unkraut zu verbrennen. Als er den Bus sah, stellte er den Brenner zur Seite und half dem Busfahrer beim Ausladen der Taschen. Es war Harald, der Hausmeister. Ich kannte ihn noch von meinem letzten Besuch. In diesem Moment öffnete sich die blaue Tür. Heraus trat mein Vater. Von ihm hatte ich die roten Haare, er trug Hemd und Jackett und lächelte mich an. Zuerst kam er auf mich zu und umarmte mich.
“Hallo Sara, ich bin froh, dass du hier bist!”, sagte er. Dann gab er der Lehrerin der bayrischen Schulklasse die Hand und begann, sich mit ihr zu unterhalten.
“Na, was willst du zuerst sehen? Ich zeig’ dir erst mal dein Zimmer.”, Simon nahm mir einen der Koffer ab und ging voraus über den Hof, durch die blaue Tür in den Innenbereich den Hauses. Der Boden war mit Parkett ausgelegt und die Türen waren aus dunkelbraunem Holz und mit einer schwarz aufgemalten Zimmernummer versehen. Das sah ich, als ich von der Haustür aus nach rechts blickte. Links neben dem Eingang befanden sich nur die Waschräume, dann wurde der Gang von einer Holztür mit einem Schild “Privat- Betreten verboten” begrenzt. Simon stellte meinen Koffer ab und öffnete sie.
Dahinter sah es genauso aus, wie im anderen Gang. Das zweite Zimmer gehörte mir. Simon stellte meine Sachen auf den Boden und sagte: “Ich lass dich jetzt mal auspacken oder was du so machen willst. In einer Stunde gibt es Abendessen, der Speisesaal ist von der Haustür aus rechts, wenn du dich noch erinnerst.” Dann war er auch schon im Nebenzimmer verschwunden.

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Das wäre der erste Teil. Ich hoffe, er gefällt euch und schreibe so bald wie möglich weiter.





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