Niedereichenbach - und ich mittendrin - Teil 5

Autor: Sternchen
veröffentlicht am: 24.01.2011


Eine Woche nach Schuljahresbeginn, am Montag, hatten Simon und ich die Aufgabe bekommen, die neuen Gäste vom Bahnhof anzuholen, die für eine Woche bleiben würden. Unser Vater hatte wieder keine Zeit uns Sven musste mit einer Sommergrippe das Bett hüten.
Wir stiegen also an diesem Tag schon im Nachbarort aus dem Schulbus aus, und ich fand mich nach kurzem Fußmarsch am selben Bahnsteig wieder, an dem ich auch vor sechs Wochen gestanden hatte. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass ich noch nicht einmal zwei Monate hier lebte, mir kam die Zeit viel länger vor.
Ich erinnerte mich an das mulmige Gefühl, was ich damals gehabt hatte. Wie sich gezeigt hatte, waren meine Ängste damals unbegründet gewesen. Der Bus stand schon bereit und Simon wechselte mit dem Busfahrer ein paar Worte zu den organisatorischen Details. Wir waren gerade noch rechtzeitig angekommen, denn in ebendiesem Moment hielt auch schon der Zug.
Etwa 25 Schüler unseren Alters stiegen aus und mit ihnen ein mürrisch aussehender Lehrer und eine Lehrerin, die dabei war, sich um einen Jungen, dem im Zug offenbar schlecht geworden war, zu kümmern.
“Guten Tag.”, sagte der Lehrer mit einem seltsamen Akzent. Ich bin der Lehrer vom Gymnasium in Gorzòw. Sind Sie von der Herberge in Nieder- reichi- …?”, er holte einen Zettel aus der Hosentasche und las langsam “Niedereichenbach?”
“Ähm, ja.”, sagte Simon und hielt das Pappschild in die Höhe. “Unser Vater, der Leiter der Herberge, ist leider nicht da, darum holen wir Sie hier ab. Der Bus steht dort hintern. Mein Vater hatte gar nicht erzählt, dass Sie nicht aus Deutschland kommen.”
“Wir kommen aus Polen.”, sagte der Mann und lächelte ein winziges bisschen. “Ich bin der Deutschlehrer. Meine Kollegin unterrichtet auch Deutsch.”
Er schrie seinen Schülern etwas zu. Es klang wie “Pschäitsch, dostajemiw-autobuschje”, oder so ähnlich. ‘Autobuschje’ war sicher Bus, denn die Truppe setzte sich in Bewegung und alle stiegen in den Bus. Mir fiel auf, dass Polnisch vor allem aus vielen “Sch-” und “Ch-” Lauten bestand und das “J” recht oft zu hören war.
Der Bus war gerade losgefahren und Simon erzählte mir von seinem nächsten Artikel in der Schülerzeitung, als mir jemand von hinten auf die Schulter tippte.
“Hallo! Ich heiße Maciek.”, grüßte mich ein etwa 1,80m großer, brünetter Junge, der auf dem Platz hinter uns saß
“Hallo.”, sagte ich, etwas verwirrt.
“Gówno!”, schrie der Junge neben ihm plötzlich. Er war dunkelblond und sein Haar war millimeterkurz geschnitten.
“Was ist los? Hat er Schmerzen?”, fragte ich besorgt.
Maciek sah mich verständnislos an.
“Ich meine, hat er sich weh getan? Aua-Aua?”, versuchte ich es erneut.
“Oh, nein, nein. Olek nicht aua-aua. Olek sagte: ‘Maciek, du kannst nicht an erstes Tag in Deutschland sprechen mit deutsches Mädchen.’ Maciek sagt: ‘Doch.’ Olek sagt: ‘Du sprichst mit Mädchen, also ich gebe dir fünf Zloty. Du sprichst nicht mit Mädchen, also du geben mir fünf Zloty. Zloty ist Geld in Polen.”
“Ach so.”, sage ich und lache. Macieks Nebensitzer Olek hat eine Wette verloren.
“Und Olek sagt böses Wort, weil Geld ist jetzt für mich!”, grinst Maciek.
“Idiota!”, schimpfte Olek.
Erstaunlicherweise waren die Polen sehr offen uns gegenüber und offenbar erfreut, ihre Deutschkenntnisse ausprobieren zu können. Ich verbrachte den Rest des Nachmittages mit Maciek, Olek und dessen Freundin Milka (ja, die hieß wirklich so).
Am nächsten Morgen begegnete ich Maciek wieder. Ich war gerade auf dem Weg zu Speisesaal, wo ich in der Schulzeit mit Simon allein frühstücke. Normalerweise ist früh um halb sieben, wenn ich aufstehe, um mich für die Schule fertigzumachen niemand wach von den Gästen.
“Bousche!”, oder so etwas in der Art rief er, als ich vor dem Jungenwaschraum auf ihn stieß. Er hielt sich seine Kleidung und sein Handtuch vor, ansonsten war er nackt, und als ihm das bewusst wurde, als er an sich heruntersah, wurde er rot und lief, so schnell er konnte den Gang entlang in sein Zimmer.
“Tschuldigung!”, rief er mir noch über seine Schultern zu.
Kopfschüttelt ging ich in den Speisesaal, wo mein Vater bereits seine erste Tasse Kaffee trank und Simon sich vor Lachen fast an seinem Tee verschluckte, als er mich sah. Allem Anschein nach hatten sie die Szene bestens durch die Glastür beobachten können.
“Ganz schön aufdringlich, diese Polen…”, bemerkte mein Vater ohne von seiner Zeitung aufzusehen, der Schalk war deutlich in seiner Stimme wahrzunehmen.
Simon prustete und spuckte dabei eine Ladung Tee über den Tisch.
Im Schulbus erzählte ich Andreas von dem Vorfall, der ebenfalls noch einmal lachen musste. Er nahm es mir nicht übel, dass ich beinahe diesen fremden Jungen nackt gesehen hätte, immerhin konnte ich ja nichts dafür.
Am Nachmittag, nach der Schule konnte ich mich nicht mit Andreas treffen, Kai gab ihm Nachhilfe in Physik.
Also spielte ich ein bisschen mit Ataïr auf dem Hof.
“Hallo!”, hörte ich plötzlich eine wohlbekannte Stimme hinter mir sagen. Ich drehte mich um und wurde rot, als ich in Macieks braune Augen sah.
“Entschuldigung, dass ich heute früh ohne Kleidung war. Es ist für mich sehr … nicht gut. In Englisch: embarrassing”, entschuldigte er sich noch einmal.
“Das ist schon in Ordnung.”, sagte ich. “Ich bin nicht böse.”
“Gut.”, antwortete er.
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Am Abend machte die polnische Schulklasse ein Lagerfeuer an der Feuerstelle und ich setzte mich zu ihnen. Maciek und ich kamen schnell ins Gespräch. Er erzählte mir, wohin er schon gereist war und ich staunte nicht schlecht. Sogar in Asien war er schon gewesen.
“Und ich war einmal in Deutschland, in ein anderes Stadt, das hieß Munster.”
“Münster?”, fragte ich ihn.
“Ja, genau. Münster. Kennst du das Stadt? Meine Tante lebt in Münster.”, erklärte er.
“Ich habe auch dort gewohnt. Ich bin erst im Juli hier hergekommen.”, sagte ich. “Kennst du den ‘St. Paulus Dom’?”
“Wie bitte?”, fragte Maciek irritiert.
“In Münster ist eine große Kirche. Kirche? Verstehst du?”
“Oh ja.”, er grinst mich an. “Und alle Leute haben, wie heißt es, in Englisch: bicycle?”
“Fahrrad. Ja, ich hatte auch ein Fahrrad. Ich bin immer mit dem Fahrrad in die Schule gefahren!”, erklärte ich ihm langsam. Ich merkte, wie sehr mir meine alte Heimat fehlte und freute mich, mich mit jemandem über die Stadt, in der ich immerhin fast mein ganzes Leben verbracht hatte, unterhalten zu können.
“Warum bist du jetzt hier?”, fragte Maciek. Ich zögerte erst. Doch dann begann ich zu erzählen. Ich redete sehr langsam uns benutzte nur einfache Worte und Maciek hörte mir aufmerksam zu. Schließlich setzten wir uns abseits der Gruppe auf die Wiese, wo niemand versuchte, Fetzen unseres Gespräches aufzuschnappen. Ich erzählte immer mehr, von meiner Mutter, die mich scheinbar nicht mehr wollte und von der Angst, dass ich vielleicht die falsche Entscheidung getroffen hatte hier her zu kommen. Aber auch, dass ich froh war, hier zu sein, wegen meinem Bruder und meinem Vater, mittlerweile hatte ich das Gefühl, nie von ihnen getrennt gewesen zu sein, und wir waren eine richtige Familie geworden.
Ich erzählte eigentlich alles, die gesamten letzten Monate breitete ich vor ihm aus und er unterbrach mich kein einziges Mal. Als ich irgendwann anfing, zu weinen, reichte er mir stumm ein sauberes Taschentuch. Es hatte gut getan, mit jemandem über alles zu sprechen und ich fühlte mich automatisch besser danach.
“Ich weiß dein Problem.”, sagte er schließlich, als ich fertig war. “Ich war zehn Jahre alt und mein Vater verschwindete, ohne sagen warum und wo er gehen will. Ich dachte, er will mich nicht haben. Aber jetzt, ich bin glücklich. Du musst auch glücklich sein. Ich denke, es ist gut, dass du bei Papa und Bruder bist. Deine Mama mag dich, wenn du bei ihr bist, aber Papa mag dich immer. Du bist bei Mama, also Papa mag dich. Jetzt du bist bei Papa, also Papa mag dich immer noch. Und Bruder auch. Du und dein Bruder, ihr seid Freunde. Das ist nicht oft mit Bruder und Schwester.”
“Danke.”, sagte ich und putzte mit die Nase. “Ist dein Papa dann wiedergekommen?”
“Nein.”, Maciek schüttelte den Kopf. “Aber ich weiß, Mama mag Maciek und Papa vielleicht auch. Aber Papa will nicht sein bei Maciek, also ich sehe: Mama mag Maciek mehr als Papa, also bleibe ich bei Mama.” Er grinste.
“DOBRAAAHNOZ”, brüllte Macieks Lehrer in diesem Moment (zumindest hörte es sich so an).
“Was sagt er?”, fragte ich Maciek.
“Lehrer von Maciek sagt: Zeit für Schlafen!”, er stand auf, wuschelte mir durch die Haare und sagte mürrisch: “Neun Uhr, Schlafen… Das ist nicht gut”

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Kleine Anmerkung: Ich denke, die polnischen Wörter werdet ihr im Wörterbuch nicht finden, da es entweder -wie sich aus dem Kontext erschließen lässt- Schimpfwörter sind, aber auch, weil ich eigentlich fast alles so geschrieben habe, wie es gesprochen wird, und nicht, wie es wirklich geschrieben wird, damit man es sich besser vorstellen kann.
Es wird glaube ich, auch so klar, was die jeweilige Person gerade sagt.
Fortsetzung folgt.
(Ich entschuldige mich nochmals für die Probleme am Anfang)





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