Niedereichenbach - und ich mittendrin - Teil 4

Autor: Sternchen
veröffentlicht am: 23.01.2011


Ich blieb stumm, war unfähig, überhaupt etwas zu sagen. Oh mein Gott, was sollte ich jetzt bloß machen? Wollte ich mit ihm zusammen sein oder nicht? Auf der einen Seite liebte ich ihn. Ich glaube, ich war sogar mehr verliebt in ihn, als ich es in meinen Exfreund Finn gewesen war. Andererseits hatte ich Angst, verletzt zu werden.
“Hey, Sara, jetzt sag’ doch mal was!” Er war rot geworden und scheinbar war ihm mein Schweigen äußerst unangenehm. “Wenn du mich nicht so magst wie ich dich, ist das auch okay. Hauptsache, du bist jetzt nicht sauer. Ich bin verliebt in dich. Ich wollte nur, dass du das weißt.”, sagte er und atmete tief ein und wieder aus.
In diesem Moment war ich mir auf einmal sicher, was ich wollte. Absolut sicher. Ich beugte mich vor, stellte mich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. Als ich die Augen öffnete, sah ich ihn Lächeln. Er küsste mich noch einmal, ich spürte, wie glücklich er war und ich war es auch.
“Hoppla!”, hörte ich eine erschrockene Stimme hinter mir. Wir fuhren auseinander und ich drehte mich um. Dort stand Sven, der sich verlegen hinter dem Ohr kratzte.
“Tja, ich war gerade mit der Klasse aus Berlin im Waldbad, und… wie auch immer, gleich kommt hier eine ganze Schulklasse hinter mir her, also…”, er lachte.
Wortlos zog Andreas mich ins Rapsfeld, wo wir uns duckten und warteten, bis die Schüler uns nicht mehr sehen konnten, bis wir wieder hinauskamen. Dann lachten wir uns bald schief über diese kindische Versteckaktion.
Ich musste allerdings bald nach Hause zum Abendessen und er hatte seiner Mutter versprochen, den Klempner ins Haus zu lassen, der endlich die Waschmaschine reparieren wollte. Als ich meine Zimmertür öffnete, kam mir ein verärgerter Ataïr entgegen, den ich die ganze Zeit über in meinem Zimmer eingesperrt gelassen hatte. Ich überprüfte mein Aussehen im Spiegel. Meine Wangen waren leicht gerötet und irgendwie hatte ich einen glasigen Blick. Egal, es würde schon keinem auffallen.
Am Abendbrottisch begrüßte mich ein grinsender Sven. Allerdings beließ er es bei ein paar viel sagenden Blicken in meine Richtung und plauderte nichts aus. Oh Gott, ich hatte ihn wirklich geküsst! Und er war in mich verliebt und am liebsten wollte ich jedem davon erzählen, wie toll ich ihn fand, aber andererseits dachte ich mir, mein Vater würde schon früh genug von der Sache mit Andreas erfahren. Auch wenn wir uns schon sehr gut verstanden und ich über vieles mit ihm sprach, das wäre mir jetzt doch zu viel geworden. Ich wollte ihm Andreas lieber ein anderes Mal als meinen Freund vorstellen, zumal ich gar nicht wusste, wie er reagieren würde. Meine Mutter war damals bei Finn fast ausgerastet. Warum genau hatte sie gar nicht sagen können. Vielleicht war sie einfach im Laufe der Jahre etwas verrückt geworden. Ich schämte mich für diesen Gedanken. Aber irgendwie wusste ich, dass etwas daran wahr sein könnte. Ich hatte ihr insgesamt zweiundzwanzig e-mails geschrieben und dreimal versucht bei ihr anzurufen. Ich hatte auf die mails nie eine Antwort bekommen und sobald ich am Telefon meinen Namen sagte, hatte sie schon aufgelegt.
Sie hatte mit mir abgeschlossen, also versuchte ich mit ihr abzuschließen. Simon half mir dabei. Ich redete mit ihm oft über sie und in unseren Gesprächen merkte ich, dass er sie auch vermisste, wenn auch auf eine andere weise als ich. Während mir meine Mutter speziell fehlte, vermisste er scheinbar eine Person generell, die eine Mutterrolle übernahm. Er hatte unsere Mutter ja wirklich seit fünf Jahren kein einziges Mal gesehen. Ich hatte früher immer gedacht, unser Vater würde es ihm verbieten, weil meine Mutter es so darstellte, aber das stimmte nicht. Simon erzählte mir, dass, nachdem er sich entschieden hatte, zu meinem Vater zu ziehen, sie den Kontakt abgebrochen habe. Ich hätte ihm das nie geglaubt, hätte ich mich zu diesem Zeitpunkt nicht in der selben Situation befunden.
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Die Tage vergingen. Nach einer Woche, kurz vor Schulbeginn, hatten die Anderen auch mitbekommen, dass ich und Andreas jetzt ein Paar waren und mein Vater wusste Bescheid. Er war ganz cool geblieben, Hatte seine Kaffeetasse gehoben und gesagt: “Auf das es länger hält, als Simons Beziehung!”
Mein Bruder war einmal vor einem halben Jahr im Winterurlaub mit einem Mädchen zusammen gewesen, allerdings hielt das nur ein paar Tage. Dann nämlich hatte ihm seine Auserwählte gesagt, sie hätte schon einen festen (offiziellen) Freund, und zwei heimliche Freunde und einen dritten könne sie einfach nicht unterbringen. Er erzählte die Geschichte jedem, der sie hören wollte, da er sie mittlerweile selbst lustig fand.
In der Schule kam ich erstaunlich gut zurecht, ich war exakt auf dem Stand, wie die anderen Schüler aus meiner Klasse. Ich konnte mich mit Andreas nicht mehr so oft treffen, wie früher, da er ja eine Klasse über mir war im Moment viel Stress hatte und nachmittags hauptsächlich mit lernen zubrachte. Ich musste die Zeit morgens und Nachmittags im Schulbus und die Mittagspausen effektiv nutzen, wenn ich etwas von ihm haben wollte.
Der Schulbus war auch etwas, was ich noch nicht kannte. Er karrte jeden Morgen alle Dörfer ab und fuhr dann zum einzigen Gymnasium im Umkreis von mehreren Ortschaften, drei Dörfer weiter. Weil nicht alle Schüler zur gleichen Zeit Unterrichtsschluss hatten, und nicht nach jeder dreiviertel Stunde ein Bus kommen konnte, musste man nachmittags bis um halb vier warten. Dann hatten die letzten Schluss und alle konnten wieder gemeinsam nach Hause gefahren werden. In der Zeit, die man nach dem Unterricht länger in der Schule verbrachte, konnte man eigentlich machen, was man wollte. Einige erledigten bereits die Hausaufgaben, andere spielten Karten und Michael zum Beispiel hielt jedes Mal ein Nickerchen im “Raum der Stille”, der eigentlich gedacht war, falls jemand ungestört über das Leben sinnieren oder Andacht halten wollte (Das bedeutet, der Raum war eigentlich bis auf ein paar komische Typen, die gelegentlich ihre Pause mit so etwas verbrachten, immer leer.)
Im Raum der Stille gab es zwar kein Bett, aber Michael hatte immer eine Wolldecke in seinem Spind, auf die er sich legte.
Ich weiß noch, wie ich das zum ersten mal mitbekam.
Andreas und ich standen auf dem Gang und waren völlig ineinander versunken. Ich hatte meine Augen geschlossen und er beugte sich zu mir herunter und küsste mich. Sein Talisman, der Zahnanhänger, berührte meinen Hals.
Kichernd stellten sich ein paar Fünftklässlerinnen vor uns hin und beobachteten uns. Sie machten keine Anstalten, weiterzulaufen.
Andreas stöhnte und löste sich von mir.
“Komm, wir gehen in den Raum der Stille, da ist nie jemand!”, raunte er mir zu. Er nahm mich bei der Hand und zog mich um die Ecke, hinein in einen kleinen Raum.
Die Vorhänge waren heruntergezogen und ich erkannte kaum sein Gesicht.
“Ich liebe dich!”, flüsterte er heißer und küsste mich abermals. In diesem Moment schnarchte es laut hinter mir. Andreas gab einen erstickten Laut von sich, ich quietschte und machte einen Satz nach vorn, sodass Andreas strauchelte und sich den Kopf am Fensterrahmen stieß.
“Was’n hier los?”, murrte jemand, kurz darauf wurde das Licht angeschaltet. Wir sahen entsetzt in Michas überraschtes Gesicht.
“Alter, ich schlaf hier!”, fuhr er Andreas an und deutete auf die Wolldecke auf dem Boden, neben der auf einem Stuhl ein Wecker aufgestellt worden war.
“Das war peinlich…”, sagte Andreas langsam, rieb sich den Hinterkopf und ging rückwärts zur Tür.
“Gute Nacht!”, sagte ich noch, während sich Michael wieder hinlegte. Er war so groß, dass er den kleinen Raum komplett für sich beanspruchte, wenn er sich schräg hinein legte.

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bald geht's weiter. :)





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