Niedereichenbach - und ich mittendrin - Teil 2

Autor: Sternchen
veröffentlicht am: 19.01.2011


Ich sah mich in meinem neuen Zimmer um. An der einen Wand stand ein Hochbett und darunter war der Kleiderschrank. Es gab ein Fenster, von welchem aus ich auf den Hof blicken konnte, wo gerade der Bus wieder wegfuhr. Unter dem Fester stand ein Schreibtisch. Er war wahrscheinlich neu gekauft, er sah relativ modern aus. Daneben stand mein Bücherregal. Es war schon gefüllt, unter anderem sah ich auch die Schulbücher, die Simon mir bereits für den Beginn des neuen Schuljahres besorgt hatte. Aber bis dahin waren noch fünf lange Wochen Zeit.
In der Ecke zwischen Bücherregal und Bett stand ein weißer Stoffsessel. Und an der Wand dahinter hing ein Spiegel. Ich betrachtete mich darin.
Meine roten Locken standen wild von meinem Kopf ab, die grauen Augen sahen irgendwie müde aus. Mir viel auf, dass die vielen Sommersprossen, besonders die auf meiner schmalen Nase, jetzt durch die Sonne noch deutlicher zu sehen waren. Ich begann, auszupacken. Eigentlich hatte ich alle meine Kleidungsstücke mitgenommen, denn in den Koffern hatte ich genug Platz dafür gehabt. Die meisten meiner Bücher und einige Möbelstücke und Gebrauchsgegenstände wie die Schreibtischlampe, den Computer oder das Bücherregal hatte mein Vater schon vor einer Woche abgeholt und mitgenommen.
Nach und nach füllte sich der Kleiderschrank. Meine blaue Strickjacke holte ich, nachdem ich sie im Schrank verstaut hatte, sofort wieder heraus um sie über mein weißes Sommerkleid zu ziehen, da mir doch etwas kühl geworden war. Nachdem ich alle meine Sachen in den Schrank geräumt hatte, blieb mir vorerst nichts mehr zu tun.
Ich sah mich in dem neuen Zimmer um und wurde etwas traurig. Ich vermisste meine Mutter. Aber ich wusste, ich würde vorerst nicht zu ihr zurück können. Ich hatte irgendwann gemerkt, dass mir mein Vater fehlte, genau wie Simon. Ich wusste, dass mein Vater sich wünschte, mich öfter zu sehen, darum bat ich meine Mutter, in einmal in Monat am Wochenende oder in den Schulferien besuchen zu dürfen. Da drehte sie durch.
Wie ich nur zu meinem Vater halten könne, warf sie mir vor. Und, dass ich doch gleich zu ihm gehen solle, wenn ich, nachdem, was er uns beiden angetan habe, indem er uns Simon “wegnahm”, immer noch zu ihm halten würde.
‘Genauso könnte ich sagen, du würdest ihm mich wegnehmen.’, antwortete ich ruhig.
Sie fing an zu schreien und sich über meinen Vater auszulassen, und indem ich ihn verteidigte, weil ich es in einigen Dingen einfach für notwendig hielt, machte ich sie nur wütender. Am Ende nahm sie meine Sachen und wollte mich herausschmeißen. Ich telefonierte mit meinem Vater, um ihn zu bitten, mich bei sich aufzunehmen, da meine Mutter mich scheinbar nicht mehr wollte. Sobald das Schuljahr vorbei war, zog ich um. Meine Mutter hatte sich noch nicht einmal von mir verabschiedet.
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Es war 18:30Uhr. Zeit fürs Abendessen. Ich wischte mir die Tränen aus den Augen und tuschte ein wenig meine Wimpern, damit nicht auffiel, dass ich geweint hatte. Dann ging ich in den Speisesaal, der aufgrund des von ihm ausgehenden Geräuschpegels auch nicht schwer zu finden war.
Es war ein großer, heller Raum, in dem mehrere lange Tafeln mit verschiedenfarbigen Stühlen standen. An der einen Seite stand eine Art Buffet mit Brot, Butter, Wurst, Käse, Gemüse,…
Ich sah meinen Vater mit einer Frau diskutieren. Sie hatte eine orangefarbene Dauerwelle und trug eine geblümte Schürze vor dem, etwas runderen Bauch.
Ich ging zu ihnen herüber.
“Hallo Sara! Es tut mir wirklich Leid, dass ich nicht genug Zeit hatte, dich richtig zu begrüßen!”, sagte er und drehte sich zu der Frau mit der Schürze um.
“Jutta, das ist Sara, meine Tochter!”, stellte er mich, nicht ganz ohne Stolz in der Stimme, vor. “Sara, das ist Jutta. Sie ist sozusagen unsere Küchenfee.”
“Sie sieht Ihnen ähnlich. Und wie sie Simon erst ähnlich sieht!”, sagte Jutta zu meinem Vater.
“Setz’ dich doch schon mal zu Simon an den Tisch dort hinten.”, schlug Vati vor. In einer Nische an der Wand gegenüber entdeckte ich zwei Tische. Mein Bruder saß bereits an dem einen, am anderen hatte Harald Platz genommen, zusammen mit einem jungen Mann, vielleicht 25 Jahre alt, der eine SMS auf seinem Handy tippte.
“Hallo Harald!”, rief ich, als ich vor seinem Tisch stand. Harald war etwas schwerhörig, das wusste ich noch.
“Hallo! Ich wusste schon, dass du kommst. Ich habe dich ja auch kurz gesehen, beim Bus. Herzlich willkommen!”, antwortete er.
“Hallo, ich bin Sven, Mädchen für alles sozusagen!”, sagte der Typ mit dem Handy. “Und das ist Marie. Sie hilft deinem Vater bei der Verwaltung und bei Organisationen von Projekten…”, er deutete auf eine blonde Frau um die Vierzig, die gerade dazu kam.
“Hallo”, sagte Marie und gab mir die Hand.
Ich setzte mich an den Tisch daneben zu Simon. Beide Tische (der für die Mitarbeiter und der für unsere Familie) waren schon gedeckt, ich würde mich also nicht mit lauter Halbstarken am Büffet um ein Stück Wurst schlagen müssen.
“So, ich denke, es sind jetzt alle da. Ich halte es kurz, ihr habt alle Hunger, bitte denkt einfach daran, nachher euer Geschirr wegzuräumen. Guten Appetit!”
Drei Schulklassen stürzten sich gleichzeitig auf das Essen, sodass mein Vater und Jutta sich gerade noch so in Sicherheit bringen konnten.
Als wir dann beim Essen saßen, erkundigte sich mein Vater nach dem Verlauf der Reise und wir unterhielten uns ein bisschen über die restliche Ferienplanung. Über die gesamten Sommerferien würde die Herberge besetzt sein. Also würden wir nicht wegfahren, was mich überhaupt nicht störte. Aber Vati hatte eine Überraschung für mich.
“Also, ich habe vor einigen Monaten Simon ein Haustier versprochen. Er wollte einen Affen oder ein Zwergpony, aber mal unter uns gesagt, ich fand das nicht so toll. Jetzt hat er Mäuse. Sein Freund hatte Mäusenachwuchs. Also, was soll’s, besser als ein Pony - auch wenn die irre stinken.”, lacht mein Vater.
“Ich miste ja immer aus.”, sagt Simon.
“Die Sache ist die: ich denke schon länger darüber nach, eine Katze anzuschaffen. Sie könnte überall herumlaufen und hoffentlich ein paar Mäuse auf dem Hof fangen. Und da dein Bruder nun schon die Mäuse hat, such’ du dir eine aus. Du warst doch früher so tierlieb.”, er lächelt.
“Wirklich? Darf ich?”, frage ich noch einmal nach.
“Natürlich. Er kann dir gehören. Also, wenn du das willst. Aber: keine Rassekatze und keine, die nicht schon stubenrein ist!”, sagt er noch.
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In dieser Nacht schlief ich nicht gut. Der Wind heulte ums Haus und wenn ich mich konzentrierte, hörte ich immer noch die Stimmen der Gäste. Insgesamt konnten hier drei Schulklassen à 30 Schüler nebst Betreuer untergebracht werden. Im Moment waren “wir” fast voll besetzt. Jutta wohnte ebenfalls mit im Haus, in einem Zimmer unter dem Dach, genau wie Sven.
Am nächsten Morgen wachte ich um circa 8 Uhr auf. Das war, selbst in den Ferien, normal für mich, ich war eine Frühaufsteherin. Ich zog mir einen blauen Rock an und ein weißes Top, schnappte mir meinen Kulturbeutel und ging ins Bad um mich zu waschen. Danach hatte ich noch eine halbe Stunde bis zum Frühstück um 9 Uhr Zeit, also beschloss ich, mir etwas die Gegend anzusehen. Weil die Haustür geschlossen war und ich keine Ahnung hatte, wo sich der Schlüssel befand, öffnete ich kurzerhand das Fenster und kletterte hinaus. Ich befand mich schließlich im Erdgeschoss, also war das kein allzu schwieriges Unterfangen. Ich lief eine Weile die Straße entlang, die Morgensonne war schon jetzt warm auf meiner Haut. Bald wurde die gepflasterte Straße breiter und asphaltiert, die ersten Häuser tauchten rechts und links der Straße auf. Die Jugendherberge lag noch etwas außerhalb des kleinen Dorfes. Allerdings erreichte ich schon nach zehn Minuten Fußmarsch das Dorfzentrum. Hier gab es einen kleinen Platz mit einer Kirche, einer Bäckerei und einem kleinen Laden, der von Kleidung bis zu Lebensmitteln alles zu verkaufen schien. daneben war eine Post mit Schreibwarenladen. Weil ich keine Zeit mehr hatte, mit alles genauer anzusehen, kehrte ich um und beschloss, den Rest später einmal zu erkunden. Zu Hause kletterte ich durch das Fenster wieder in mein Zimmer.
Ich zog mir meine schwarzen Sandalen aus und lief in den Speisesaal, wo wieder reges Treiben herrschte. 90 Schüler zwischen dreizehn und siebzehn Jahren “kämpften” am Buffet um Brötchen und Cornflakes.
Ich ging in den hinteren teil des Raumes, wo mein Vater schon mit dem Frühstück begonnen hatte. Diesmal saß er am selben Tisch wie Jutta und Sven.
Harald frühstückte -genau wie Marie, die heute ihren freien Tag hatte- zu Hause und war sicher schon an der Arbeit.
Ich setzte mich an den Tisch.
“Nanu”, grinste mein Vater mich an. “Du bist ja schon wach!”
“Schon lange.”, erwiderte ich.
“Da bist du Simon ja nicht sonderlich ähnlich. Wenn es nach ihm ginge, würde er den ganzen Tag im Bett liegen.”, sagte er.
Ich nahm mir ein Brötchen aus dem Korb in der Mitte des Tisches und bestrich es sorgfältig mit Honig. Sven erzählte gerade eine Geschichte von seiner Tante, die sich zwei Tage lang im Wald verlaufen hatte. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu.
“Darf ich mir nachher die Gegend ein bisschen ansehen?”, frage ich.
“Sicher. Du kannst ja Simon fragen, ob er dir etwas zeigt. Es tut mir Leid, dass ich nicht viel mit euch unternehmen kann in den Ferien, aber du siehst ja: alles ist voll!”, antwortet er mir.
“Das ist schon in Ordnung.”
Dann steht Vati auf.
“So. Hallo! Könntet ihr mir kurz eure Aufmerksamkeit schenken? - Also: Die Klasse aus Bayern macht heute eine Wanderung durch den Wald, ihr könnt euch gleich eure Mittagessen- Pakete abholen. Der Sven wartet dann direkt nach dem Essen auf dem Hof. Dann die Klasse aus den Niederlanden” er spricht nun langsamer.“ Bitte denken Sie daran, dass Sie alles einpacken und nichts liegenlassen. Ihr Bus kommt, wie Ihnen sicher schon gesagt wurde, in einer halben Stunde. Wir haben uns sehr gefreut, dass Sie hier waren.”, gemeint waren einige Schüler zwischen 16 und 17 Jahren. Mein Vater hatte mir am Vortag schon gesagt, dass sie abreisen würden.
“Ich hätte dann noch eine Bitte an die ‘Kleinen’”, er wandte sich den Achtklässlern zu. “Nach um zehn wäre es nett, wenn ihr etwas leiser sein könntet. Ich wohne hier mit im Haus und - meine Herrn!”
Die Schüler kicherten. Ich hoffte, dass sie meinen Vater ernst nehmen würden, da ich auf eine ruhige Nacht hoffte.
“Ich werde mich dann auch mal fertig machen. Ich führe heute die Bayern durch den Wald.”, stöhnt Sven und erhebt sich. Er stapelt sein Geschirr zusammen und trägt es zur Geschirrablage.
Ich selbst stand auch auf und ging durch die, inzwischen geöffnete Tür auf den Hof hinaus. Harald mähte gerade den Rasen. Ich winkte ihm zu und machte mich abermals auf den Weg in Richtung Dorfplatz. Eigentlich hatte ich ja mit Simon hierher gehen wollen, doch auf dem Weg zu meinem Zimmer, wo ich meine Schuhe angezogen hatte, hatte ich lautes Schnarchen aus seinem Zimmer gehört und aufwecken wollte ich ihn wirklich nicht.
Der Weg zum Dorfplatz kam mir noch kürzer vor als am Morgen, die Sonne brannte jetzt vom Himmel und es war unglaublich heiß geworden. Als ich auf dem Platz angekommen war, ging ich in die Hocke und hielt meine Hand über das Pflaster. Ich berührte die heiße Straße. Früher hatte ich das oft gemacht, um zu prüfen, ob der Boden zu heiß war, um barfuss zu laufen oder nicht. Mittlerweile trug ich aber immer Schuhe, ich hatte mir das barfuss gehen abgewöhnt, die Hand legte ich aber dennoch auf den Boden.
Ich sah auf und sah gerade noch den Jungen mit den riesigen Korb auf dem Arm, aber er mich scheinbar nicht. BUM!
Er stieß gegen mich, strauchelte, ich stolperte, schrammte mir das Handgelenk auf. Kleidung in allen Farben flog durch die Luft. Der Korb knallte auf den Boden.





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