Wenn die Gedanken nicht schweigen ... Teil 9

Autor: key
veröffentlicht am: 15.08.2009




***

'Na, sind Sie schon wieder hier oder immer noch?'
Schon wieder der Kerl mit der melodischen Stimme, der sich als Kollege von Sandra Steiner herausgestellt hatte.
Alexandra guckte ihn verdutzt aus ihren roten, vom vielen Weinen angeschwollenen Augen an. Sie blinzelte verstört. So wie jemand, der sehr, sehr müde ist, total übermüdet, aber einfach keinen Schlaf finden kann.
Aber wie sollte sie auch? Bei all den grässlichen Bildern, die in ihrem Kopf Randale machten, sobald sie nur versuchte, sich eine Mütze voll Schlaf zu gönnen.
'Immer noch, wo soll ich denn auch hin? … In meine Zelle?'
Der Mann verzog seine Lippen, die diesen seltsamen, interessanten Farbton hatten, zu einem schiefen Lächeln, das ihm eine gewisse jugendlich Ausstrahlung verlieh.
'Soll ich Ihnen mal was sagen? ... Das rot, das sich momentan um ihre Augen herum befindet, würde auf Ihren Wangen die etwas kränkliche Blässe vortrefflich ersetzen!'
Alexandra lächelte. Oder zumindest war es der Versuch eines Lächelns.
Der allerdings etwas erfolgreicher verlief, als die Versuche davor.
'Wo ist Sandra?', fragte sie stattdessen.
In diesem Moment brachte ein markerschütternder Ausruf die Luft in dem kleinen, fensterlosen Raum zum Vibrieren: 'WAS VERDAMMT NOCH MAL HABEN SIE SICH DABEI GEDACHT, SIE …'
Der Mann grinste verschwörerisch, wies mit dem Zeigefinger auf die Tür, durch die er gerade eben getreten war und antwortete 'Beantwortet das Ihre Frage?'

***

'WAS VERDAMMT NOCH MAL HABEN SIE SICH DABEI GEDACHT, SIE …'Ihr fehlten die Worte. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie wirklich sprachlos. Es war, als hätte dieser Umstand, dass jemand zu so etwas fähig war, den Weg von ihrem Sprachzentrum zu den Stimmbändern gekappt. Durchgeschnitten.
Wie die Bremskabel damals, vor fünf Jahren ...
Sie schüttelte bei diesem Gedanken unwillig den Kopf, um ihn wieder in die Kiste zurückzuschütteln, aus welcher der Gedanke unvorsichtigerweise entfleuchen konnte. Stattdessen versuchte Sandra, sich zu konzentrieren. Sie blickte aus ihren Augen finster auf den Mann mit dem schütteren Haar in dem Sporthemd vor sich, der den Blick nach unten gesenkt und den Kopf in die Handflächen gestützt wie das sprichwörtliche Lamm vor der Schlachtbank dasaß.
Um ihren Mangel an Worten zu kompensieren, knallte sie den Stapel Papiere in ihrer rechten Hand mit einer Wucht auf den Tisch, dass es knallte. Das Bündel rutschte einmal quer darüber und blieb irgendwo in der Mitte hängen.
'Was ist, hat es Ihnen die Sprache verschlagen?!'
Der Mann sah auf. Für den Bruchteil einer Sekunde nur - dann vergrub er den Kopf wieder in den Handflächen. Länger konnte er diesem Blick, diesen wilden Augen, der Wut, die wie Funken daraus hervorsprühten, nicht stand halten.
'Los, erklären Sie's mir! … ich will versuchen, Sie zu verstehen!' Soweit man so einen Mistkerl überhaupt verstehen kann! 'Ich meine: wissen Sie eigentlich, was Sie Ihrem Sohn damit angetan haben?'
Da endlich gab der Mann seine Haltung des reuigen Sünders auf, stand auf, schob den Stuhl penibelst genau unter den Tisch, ging mit langsamen Schritten zum vergitterten Fenster und schaute hinaus. Als würden seine Gedanken abschweifen, den Gittern entfliehen und sich schwerelos in die Atmosphäre abheben.
Doch Sandra sah Tränen in seinen Augenwinkeln glitzern und wusste dadurch, dass der Mann gedanklich und körperlich so sehr hier anwesend war, wie sie selbst - hundertprozentig.'Soll ich es wiederholen? .… Wissen Sie, was Sie Ihrem Sohn, dem Mädchen und der Mutter angetan haben?'
Er holte tief Luft. Seufzte. Setzte zu einer Antwort an. Nein, setzte nicht nur an, gab sie auch:'Matthew … er war so selten zu Hause, seit er mit diesem Mädchen zusammen war. Er hatte keine Zeit mehr für mich. Wir waren kaum noch zusammen angeln oder beim Sport, die gemeinsamen Fernsehabende oder die Pizzeria-Besuche, wenn das Essen mal wieder angebrannt ist.' Bei diesem Satz huschte der Ansatz eines Lächelns über das faltige Gesicht, der jedoch binnen Sekunden wieder erstarb. 'Ich dachte mir, wenn das Mädchen weg ist, hat er wieder mehr Zeit für mich, für seinen alten Herrn, seinen Vater. … Außerdem konnten wir das Geld gut gebrauchen, schließlich sind wir noch nicht so lange in Deutschland, das Haus muss noch abbezahlt werden, das Auto hatte neulich einen Totalschaden.'
'Jammern Sie mir hier nicht die Leier vom 'Wir-haben-es-so-nötig-gehabt' vor. Sie sind Beamter. Sie verdienen weiß Gott genug. SIE SIND POLIZIST! Mann! Das Mädchen wäre doch schon aufgrund der Umsiedlung weg gewesen …'
'Aber sie hätte einen Weg gefunden, zu Matthew Kontakt aufzunehmen. Diese Jolie ist verdammt schlau!' Fast trotzig klangen diese Worte aus dem Mund des verbitterten Mannes.'Aber ist das der Grund? Sie haben sich vernachlässigt gefühlt und das Geld gebraucht? Deswegen haben Sie die Freundin Ihres Sohnes, das Mädchen, das er über alles liebt, an einen kranken Psychopathen verraten, kaum zwei Stunden nach der Umsiedelung? Diese Einzelverbindungsnachweise belegen es eindeutig! Das haben Sie ja wirklich super gemacht: das Mädchen - weg, Ihr Sohn - weg! Wir haben zwei Verschwundene und nichts erreicht … KLASSE!'

***

Der Raum um mich herum drehte sich. Schaukelte von links nach rechts, machte eine 360°-Drehung, schien mal ferner, mal näher. Gott, war mir schlecht. Ich schloss die Augen wieder und fühlte meinen Mageninhalt die Speiseröhre hochkommen. Ich lehnte mich so gut es ging mit geschlossenen Augen nach vorne und würgte. Tränen standen mir in den Augen und ich hustete und spuckte, bekam keine Luft mehr. Panik befiel mich. Schmerz war der Hauptbestandteil meiner Knochen, Panik meines Blutes. Doch ich war beinahe zu müde, zu schmerzerfüllt für Panik. Ich würgte und würgte. Kam mir vor wie eine Katze, die ihre Wollknäuel ausspuckt, aber natürlich kam mir der Vergleich nicht in den Sinn. Ich japste und versuchte Luft in meine leeren Lungen einzusaugen, doch immer und immer wieder kamen neue Wellen Erbrochenes nach. Ich ließ es über mich ergehen. Mein Körper würde schon wissen, was er tat.
Wenn nur nicht jede Bewegung so ... ARGH
Irgendetwas brannte noch mehr, als der normale Schmerz. Ich stöhnte laut auf und biss meine Zähne zusammen. Öffnete mit letzter Kraft meine Augen, zwang mich sie offen zu halten. Im Dämmerlicht erkannte ich, dass eine Gestalt vor mir aufregte. Ewig lang kamen erst mal Beine, dann, weit entfernt, wie in luftigen Höhen, ein Oberkörper. Nur leise drang ein schäbiges Lachen durch meinen Gehörgang und fand seinen Weg in mein Gehirn.'Jod-Tinktur. Brennt schön auf offenen Wunden, nicht wahr?'
Meine Augen gingen wie von selbst wieder zu, meine Handgelenke schmerzten, meine Arme waren irgendwo festgemacht, hielten mich aufrecht, obwohl ich nicht mehr aufrecht sein konnte, obwohl ich mich waagrecht fühlte. Ich ließ meinen Oberkörper soweit wie möglich nach vorne sacken. Spürte, wie die Ohnmacht wieder in meine Knochen kriechen wollte. Doch ich musste unter allen Umständen verhindern, dass mir die Lichter wieder ausgingen.Was würde dieser Kerl sonst mit mir anstellen?

***

Es war einfach ekelhaft.
Dylan war so ein … Monster. Und selbst das war noch eine Untertreibung.
Er verstand es, die Menschen zu quälen, sie da zu treffen, wo es am meisten weh tat, immer tiefer und immer tiefer in die gleiche Wunde zu stochern, darin herumzubohren und mächtig Salz hineinzuschütten.
Ich saß mit einem der Schränke in meinem Zimmer und musste auf den Monitor blicken. Dylan hatte beim Verlassen des Zimmers dem Gorilla auf Indisch irgendeine Anweisung gegeben, die ich natürlich nicht verstanden hatte.
Aber dem Mistkerl hatte es großes Vergnügen bereitet, sie für mich noch mal ins Deutsche zu übersetzen. Der große, übermäßig stark behaarte, dunkelhäutige Mann, mit Oberarmen, die doppelt so dick waren, wie meine Oberschenkel, konnte irgendwie mit Dylan kommunizieren. Und dieser Mistkerl stand gerade in dem Verlies, in dem sich Matthew befand - 'Gerade mal zwei Stockwerke unter dir, meine Süße, freust du dich nicht, dass ich ihn hergebracht habe, um zu spielen. Ist das nicht ein schönes Hochzeitsgeschenk von mir?' - und ich wusste, dass er ihm irgendetwas antun würde. Tränen rannen über meine Wangen. Ich konnte nicht hinsehen, doch DURFTE ich auch nicht wegsehen. Denn jedes Mal, wenn ich den Blick vom Monitor abwandte, um dem grausamen Spiel zu entgehen, oder die Augen schloss, gab der Gorilla Dylan ein Zeichen und der schüttete Jod, in Matthews offene Wunden.
Zumindest einen Vorteil hatten die Tränen: sie verschleierten meine Sicht, ich musste nicht alles sehen. Mir war so schlecht. Ich konnte mich kaum aufrecht halten, biss immer wieder vor Verzweiflung und Hilflosigkeit auf meine Lippen, die längst wieder aufgeplatzt waren. Ich … musste … stark … bleiben! Biss die Zähne zusammen und atmete gegen die Übelkeit an. Musste die Augen offen halten, konnte nicht zulassen, dass Matthew wegen mir …In diesem Moment sah ich, wie Dylan sein Messer zückte.
Ich schreckte auf meinem Bett zurück, mein Atem setzte erst aus und wurde dann fast keuchend. Der Schrank ließ seinen Zeigefinger über die Schnittwunde an meinem Hals gleiten und sah mich fragend an. Kaum merklich nickte ich und flehte ihn mit stummen Worten, mit stummen Blicken um Hilfe an, Hilfe, die er mir nicht gewähren konnte, selbst wenn er gewollt hätte. Weil Dylan ihn dann vernichtet hätte. Ihn, seine ganze Familie und alles, was ihm lieb und teuer war. Ich verstand diesen Mann, der da vor mir saß, irgendwie zumindest. Ansatzweise. Auch wenn es verrückt war.
Dylan ging mit dem Messer auf Matthew zu, der in seinen Ketten hing, als wären ihm jegliche Knochen, jegliches Rückenmark abhanden gekommen. Ihm fehlte die Kraft, sich selbst aufrecht zu halten. Wie unfair war diese Rollenverteilung? Wie ungerecht war diese Welt?Nun blickte Dylan mitten in meine Richtung, in meine Augen, starrte mich mit seinem höhnischen Grinsen ganz direkt an. Natürlich, er wusste, wo die Kamera war. Und er wusste, was er mir in diesem Moment antat, in dem er mich zwang.
Dieser kleine dreckige Psychopath.
Noch nie in meinem Leben hatte ich derartigen Hass gespürt, hatte auch nie für möglich gehalten, dass ich jemals jemanden so sehr hassen können würde, wie ich Matthew liebte - unendlich.
Nun kniete sich Dylan neben Matthew, der ihn verwirrt anblinzelte. Genauso verwirrt, wie ich vermutlich gerade schaute,
Nun sprach Dylan mit seiner autoritären, keinen Widerspruch zulassenden Stimme 'Matthew, du hast Publikum. Sag hallo zu deiner Liebsten, die grade mal zwei Stockwerke über dir ist. Ist es nicht wundervoll, dieses traute Beisammensein? Nun, du willst doch sicherlich nicht, das ihr etwas passiert, oder?!'

***

Er kostete jeden Moment aus, den er dieses zitternde, bebende Häufchen Elend neben sich in den Ketten hängen sah. Er liebte jedes Wort, das ihm über die Lippen kam, spürte die Macht in jedem einzelnen Buchstaben. Sein Körper pulsierte vor dem Glücksgefühl, das ihm dieser Moment der Gottgleichheit, dem Richter über Leben und Sterben brachte.
Und er genoss es, zu sehen, wie dieser Abschaum neben ihm, seine ganze Willenskraft aufbringen musste, um den Kopf zu schütteln.
'Gut!' Er lachte, ganz einfach, weil er das Bedürfnis hatte zu lachen, so gut fühlte er sich.'Dir ist doch klar, dass ich dafür meinen Spaß haben möchte, wenn ihr nichts passieren soll, oder?'
Unwilliges, zustimmendes Stöhnen.
'Und du willst doch auch sicher nicht, dass ich mich aus Langeweile sexuell an ihr vergehe … oder?' In dem letzten Wort ließ er eine Drohung mitschwingen, deren Ton schärfer als die Klinge eines Säbels nicht sein könnten.
'Lass die Finger von ihr, mit mir kannst du machen, was du willst, aber lass sie …' Was für ein Kraftaufwand das gewesen sein musste, diesen ganzen Satz herauszupressen. Göttlich, wie abartig der Kerl sie liebte! Und um wie vieles göttlicher war das Gefühl, ihn damit bis zum Äußersten zu quälen, zu sehen, wie weit er gehen würde, um sie zu retten.
'Nun dann' er hatte seine Stimme bewusst gesenkt, in dem besten Wissen, dass Jolie sich nun oben vor dem Monitor ganz unbewusst ein Stück nach vorne lehnen würde, um ihn besser zu verstehen, so war es also kaum mehr als ein heiseres Flüstern, das ihm über die Lippen kam, als er Matthews Hand öffnete, den Schaft des Messers hineinlegte und die Finger darum wieder schloss 'dann wirst du doch sicherlich, um sie am Leben und mich bei Laune zu halten, das Bedürfnis haben, deinen Brustkorb mit einem schönen Schnittmuster zu verzieren … und bitte, sei etwas kreativ, damit ich mich nicht doch langweile.'







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