Wenn die Gedanken nicht schweigen ... Teil 10

Autor: key
veröffentlicht am: 21.08.2009




'Okay, Leute, her mit euren ganzen konstruktiven Vorschlägen, wie wir an die Sache rangehen wollen!' Ein paar eisblauer Augen fixierte nacheinander jeden Einzelnen im Raum - sei es Polizist, Profiler, die beiden Angehörigen oder aber nur die Sekretärin, die grade zwei Kannen voll Kaffee brachte und die vor Schreck ob des Taxiertwerdens beinahe die Kannen hätte fallen lassen.
Alexandra sinnierte einen Moment darüber nach, ob es sein konnte, dass der Blick des Polizisten auf ihr zwei Sekunden länger hängen geblieben ist, als auf den anderen, oder ob sie sich das nur einbildete. Doch dann herrschte sie sich in ihren Gedanken an, dass sie sich schämen sollte. Ihre Tochter war entführt, vielleicht gar nicht mehr am Leben, und sie dachte darüber nach, ob …
'Luke, wie kannst du immer nur so optimistisch sein?', fragte Frau Steiner kopfschüttelnd und fuhr dann nach einem kurzen Moment, in dem ihre Zähne auf ihrer Unterlippe kauten, fort. 'Das Problem an der Sache ist vorwiegend folgendes: Wir können nicht mal eben nach Indien, wo Jolie VERMUTLICH ist, einspazieren, an das Villen-Tor der Familie klopfen - bzw. an eins der fünf, die sich in Indien befinden - und sagen 'Hallöle, wir dürfen doch mal schnell gucken, ob ein deutsches Mädchen bei euch gefangen gehalten wird …' Abgesehen von dem Problem, dass wir die indische Polizei erst mal fragen müssten, und die sich schon in der Vergangenheit nicht gerade sehr kooperativ gezeigt hat, besitzt der Vater des Hauptverdächtigen in nahezu allen Ländern dieser Erde diplomatische Immunität, da er - logischerweise - Diplomat ist.'
Betretenes Schweigen herrschte nach dieser Feststellung. Dem war schließlich nichts mehr hinzuzufügen und keiner der Beamten hatte nur im Ansatz irgendeine Idee, was man nun tun könnte. Das Schweigen lastete auf den Schultern der Anwesenden wie ein schweres Gewicht. Jeder fühlte sich irgendwie schuldig, weil er nicht DIE Idee oder DEN Geistesblitz vorzuweisen hatte, der jetzt mehr als nötig gewesen wäre.
Nach kurzer Zeit stützte Luke sein Kinn in die Hand, legte den Kopf leicht schief, nickte gedankenverloren, einmal, zweimal, strich sich mit den Fingern über die rasierte Haut seines Kinns , stand auf, stützte die Arme auf den Tisch und ließ die Worte über seine Lippen purzeln wie eins Seeleute Matrosen über die Planke 'Ja, so könnte es gehen …'

***

Das war krank.
Das konnte er doch nicht ernst meinen.
Es war eine Sache, Matthew zu quälen, ins Verlies zu sperren, zu foltern und zu misshandeln, aber ihn dazu zu zwingen, sich selbst etwas anzutun, so ein Gedanke konnte nur einem kranken Hirn entspringen. Bisher war es nur eine wage Vermutung gewesen, aber jetzt war ich mir sicher: Dylan war ein kompletter Psychopath.
Aber warum?
Was kann bei einem Menschen schief gehen, dass er derart gewalttätig, grausam, rücksichtslos und egoistisch wird?
Und irgendwie fing ich an, ihn zu bemitleiden …
Aber war das im Grunde genommen nicht auch irgendwie … krank?

***

'Warte noch ein bisschen, bis ich wieder bei meiner liebsten Jolie bin, damit ich mit ihr gemeinsam das Spektakel betrachten kann …', hörte ich die Stimme ganz leise durch das Pochen meines eigenen Herzens hören, war jedoch kaum fähig, sie zu registrieren. '… und denk dran: langweile mich nicht!' Ich spürte seinen Atem an meiner Ohrmuschel, fühlte fast, wie die Worte durch meinen Gehörgang rasten und auf das Trommelfell trafen. Der Wucht dieses Aufpralls hätte mich meine niedergestreckt. Ich rieb meine Handgelenke, die Dylan für mich von den Ketten gelöst hatte, wie sonst sollte ich tun, was er verlangte??
Ausgelaugt und leer fühlte ich mich, so leer, dass ich nicht mal mehr Angst oder Panik empfinden konnte. Doch leer war ich keineswegs. Viel mehr war ich voll, voll bis oben hin, voll von Schmerz. In diesem Moment konnte ich erahnen, woher das Wort schmerzerfüllt seinen Namen hatte.
Die Tür meines Gefängnisses fiel ins Schloss.
Jeder Atemzug tat mir weh, meine Lungen brannten wie Feuer, aber es gab etwas, was noch schlimmer brannte, als meine Lungen oder meine Atemwege: es war mein Herz. Es fühlte sich an wie ein einziger harter Knoten, jeder Schlag tat weh und bei jedem Schlag und noch öfter, bei jedem Mal Blut einige Zentimeter Weiterpumpen, dachte ich an Jolie.Ich hatte solche Angst. Um sie - nicht um mich. Was mit mir passierte, war mir so ziemlich egal.
Denn ohne sie wollte ich sowieso nicht leben und die Wahrscheinlichkeit, dass ich diesen Alptraum hier lebendig mit ihr verlassen würde ging gegen minus Unendlich. Also konnte ich nur noch eines für sie tun: Die kranken Spiele von Dylan mitspielen, sie am Leben halten, das tun, was ich mir vorgenommen hatte: sie zu beschützen - und wenn es das Letzte war, was ich tat.
Trotz der brütenden Hitze fühlte sich der Messerschaft in meiner Hand kalt an, ich lehnte mich an die Mauer, Halt suchend, atmete einmal schwer durch und hob mit - wie es mir vorkam - letzter Kraft die Hand mit dem Messer … als sich aufgrund der Idee, die mein Gehirn gerade durchzuckt hatte, ein Ausdruck grimmiger Genugtuung auf meinem Gesicht breit machte.
DAS würde ihm ganz gewiss nicht gefallen.

***

Sie saß auf dem Bett, neben dem Wächter, den er abgestellt hatte.
Er lächelte. Sie konnte diesen verstümmelten, kaputten, beschädigten Kerl doch nicht wirklich noch lieben. Und er war noch lange nicht fertig mit ihm … er würde erst ihren Widerstand und dann die Seele und jeden Knochen dieses Häufchen Elends brechen. Dann, wenn sie ihn nicht mehr wollte.
Er setzte sich neben sie auf das Himmelbett, blickte sie von der Seite an, legte den Arm um sie.
Sie wehrte sich, zuckte zurück und giftete ihn an 'LASS DIE FINGER VON MIR!'
Diesmal konnte er ganz entspannt und ruhig bleiben. Ihre Zurückweisungen juckten ihn nicht mehr, denn jetzt hatte er sie in der Hand. Und mit einem inneren und äußeren Lächeln hauchte er mit einer wie mit Samt belegten Stimme in ihr Ohr 'Gib deinen Widerstand auf oder ich gehe da runter und schneide ihm mit dem Messer vor deinen Augen die Kehle durch …' Als er sah, wie eine Träne aus ihrem Augenwinkel lief, eine einzige, silbern glänzende Träne, und bemerkte, wie sie den Blick sich in ihr Schicksal fügend senkte, biss er ihr zärtlich ins Ohrläppchen, strich ihr Haar aus dem Gesicht und legte vor Aufregung und Siegesrausch zitternd seinen Arm erneut um sie.
Er war glücklich - und hatte das Gefühl, dass sie es auch war.

***

Alles in mir sträubte sich gegen diese Berührung, diese Zärtlichkeit. Meine
Muskelanspannung war wie ein elektrischer Strom, der durch meine Adern und meine Haut floss. Mir war nur noch nach Weinen zumute. Die Hoffnung, dass ich aus diesem grässlichen Alptraum noch mal aufwachen und mir die Sonne auf das Gesicht scheinen würde, hatte ich längst begraben …
Aber ich ließ alles stumm über mich ergehen. Es war die einzige Möglichkeit, Matthew am Leben zu erhalten. Dylan wusste, dass er Matthew brauchte, um meinen Willen zu brechen. Er war also in Sicherheit, solange ich tat, was Dylan von mir wollte.
Und ich würde ALLES tun für Matthew - auch wenn Dylan sich bald nicht mehr mit kuscheln begnügen würde, auch wenn er mehr wollen würde, ich würde es ihm um der Liebe zu Matthew Willen geben …

***

Der erste Strich, der Anfang, der erste Stich, die Überwindung die Spitze in die eigene Haut zu bohren, war das schwerste. Es brannte so sehr, wie ich mir immer vorgestellt hatte, dass das Höllenfeuer brennen würde. Warmes Blut rann über meinen Oberkörper, lief meinen Rippen folgend an der Seite meines Körpers hinab.
Eben jener Körper zuckte unter dem, was ich tat. Protestierte mit allen Mitteln gegen diese Selbstverstümmelung. Aber der Körper an sich war ja auch dumm, konnte er doch nicht die Liebe empfinden, die mich zu solch Taten trieb, aber hatte nicht der Körper auch Jolies Zärtlichkeiten genossen? Konnte er dann nicht seinen Teil zu ihrer Rettung beitragen? Wäre das nicht nur recht und billig?
Mittlerweile hielt ich mit beiden Händen den Dolch, so sehr zitterte ich. Mein Atem war nur noch ein keuchen. Ich nur noch ein Schatten meiner selbst. Aber ich würde das durchstehen, für Jolie. Immer wieder wurde mir schwarz vor Augen, das Blut lief in unaufhaltsamen Bächen kreuz und quer über mich. Beides machte es schwerer für mich, meine Idee umzusetzen, aber es würde gehen ...
Und immer und immer wieder ließ ich in meinen Gedanken Jolies Stimme ablaufen, zu dem Moment, als sie das erste mal 'Ich liebe dich' zu mir gesagt hatte.
Das verlieh mir Kraft weiterzumachen, und der Gedanke daran, wie Dylan schauen würde, wenn er erkennen würde, was ich getan hatte.
Das gab mir sogar so viel Kraft, dass ich ein Lächeln aufsetzen konnte.

***

Mittlerweile verschleierten die Tränen meine Sicht komplett.
Das war gut so, denn ich konnte es einfach nicht ertragen, mit ansehen zu müssen, wie Matthew sich da selbst zugrunde richtete.
Und das alles nur für mich …
Er litt nur wegen mir. Ich war schuld daran, dass er hier war. Mein Widerstand war es gewesen, der Dylan auf diese Idee gebracht hatte, Matthew zu entführen. Es war einzig und allein meine Schuld.
Und diese lastete schwer auf mir.
Fühlte sich genauso schwer an, wie Dylans Arm um meine Schulter.
Doch die Schuld füllte, einmal, dass ich sie erkannt und angenommnen hatte, mein ganzes Wesen aus, jedes Fitzelchen Luft in mir, jede Pore der Haut, legte ich um meinen Brustkorb wie ein viel zu eng geschnürtes Korsett und raubte mir den Atem.
Ich war zu keinem Gedanken, keiner Empfindung mehr fähig außer 'Du bist schuld - Du bist schuld - Du bist schuld' Was sich immer und immer wieder, immer schneller werdend in meinem Gehirn wiederholte, es war, als wäre mein Geist in einem Karussell des Schuldgedankens gefangen und konnte nicht mehr stoppen.
Da hörte ich plötzlich nichts mehr.
Zuvor hatte Matthew bei jedem Schnitt aufgestöhnt. Nun: Stille.
Das hieß entweder, er war fertig oder aber … tot.
Ich konnte nicht hinsehen, auch wenn alles in mir, mich drängte, den Blick zu heben und mir die Tränen von den Augen zu wischen.
Doch ich schaffte es nicht. War zu schwach.
Nicht nur schuldig, sondern auch schwach. Prima.
Doch da hörte ich Dylan neben mir vor Wut aufschreien, was mich letzten Endes dazu brachte, reflexartig meinen Kopf zu heben.
Und da sah ich, was Dylan so erzürnte:
Matthew hatte das Messer beiseite gelegt und mit den Armen so gut es ging das verkrustete Blut abgekratzt, sodass nur noch zu sehen war, welches 'Muster' er geschnitten hatte, um Dylan nicht zu langweilen.
Und mir stockte der Atem ob dieses Musters.
Da stand in großen Druckbuchstaben, schwer zu erkennen, aber doch zu entziffern und ganz klar:
ICH LIEBE DICH JOLIE!







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