Wenn die Gedanken nicht schweigen ... Teil 7

Autor: key
veröffentlicht am: 17.04.2009




'Na komm schon, spucks aus!', murmelte Sandra Steiner und starrte ungeduldig den Computer an.
Die einzige Möglichkeit, die sie momentan sah, Jolie zu retten, war den Verräter zu finden, der es überhaupt erst ermöglicht hatte, dass sie nach der Umsiedlung noch hatten auffindbar sein können. Nervös trommelte sie mit den Fingern der linken Hand auf dem Schreibtisch herum.
Alles, was sie wollte, waren die Einzelverbindungsnachweise von Haustelefonen und Handys aller Mitarbeiter, die von dem neuen Aufenthaltsort wussten, was nicht mehr als ein Dutzend sein dürfte.
Sicherlich war das nicht gerade rechtens, ohne vorherigen richterlichen Beschluss solche Daten einzuholen, aber hätte sie sich während ihrer nun doch schon mehrere Jahrzehnte langen Dienstzeit immer an alle Vorschriften, Regeln und Paragraphen gehalten, würden jetzt noch einige Verbrecher da draußen rumrennen.
Illegal.
Legal.
Egal.
So einfach konnte man von einem zum anderen kommen.
'Na endlich ...'
Erfreut registrierte sie die lange Reihe von Zahlen und Namen, die ihr die Maschine ausspukte.
Wieder einmal wunderte sie sich darüber, was alles mit zwei verschiedenen Zahlen - 0 und 1 - möglich war, denn andere Zahlen kannte so ein PC ja nicht. Aber war es nicht mit vielem im Leben so? Es war entweder an oder aus, schwarz oder weiß, gut oder schlecht, links oder rechts, so richtig viel dazwischen gab es meist nicht!
Sie seufzte, als ihr bewusst wurde, dass sie noch eine lange Nacht vor sich haben würde, denn Dylan würde wohl kaum so dumm gewesen sein und vom Ausland aus oder mit einem ausländischen Handy Kontakt zu dem Mitarbeiter aufgenommen zu haben, das wiederum würde jedoch heißen, dass sie jede einzelne Nummer, jedes noch so kleine Gespräch, überprüfen müssen würde.
Sie konnte sich nicht erklären, warum, aber sie hatte das Mädchen und seine Mutter vor fünf Jahren so richtig ins Herz geschlossen. Außerdem war es ihr zuwider, dass ein solches Ekel wie diesen Dylan und seinen Vater ungestraft Morde begehen durfte, ohne sich in irgendeiner Art und Weise dafür rechtfertigen zu müssen. Wer hatte so einen Schwachsinn wie diplomatische Immunität erfunden? Warum sollten Diplomaten die besseren Menschen sein?Und dass es Mord gewesen sein musste, war ja wohl eindeutig klar!
Oder wer konnte mei durchgeschnittenen Bremskabeln schon an einen Unfall glauben?In diesem Moment erregte aber etwas anderes ihre Aufmerksamkeit und zog sie aus den Sümpfen der Vergangenheit in die Realität, doch die war nicht viel besser.
'Bingo, jetzt hab ich dich!', flüsterte Sandra Steiner leise und kaute - wie immer, wenn sie einen Schritt weitergekommen war - von Ehrgeiz gepackt auf ihrer Unterlippe herum.Doch im nächsten Moment sah sie den Namen, ihr Gehirn stellte binnen Sekunden die nötigen Verbindungen her, schüttete Transmitter aus, überbrückte die Synapsen, sodass sich die Information von einer Zelle zur nächsten bewegen konnte und die Erkenntnis, die schreckliche Wahrheit, wie eine Explosion mit einem heftigen Knall plötzlich platzfüllend, unumstößlich und mit all ihrer Schrecklichkeit in ihrem Denkorgan stand.
Das war doch nicht möglich …
Und wie so oft im Leben drängte sich nur eine einzige Frage auf: Warum?

***

Tränen rannen über ihre Wangen. Die Wimperntusche - oder war es der Kajal - brannte in ihren Augen, doch wegwischen wollte sie ihn auch nicht. Ihr fehlte die Kraft. Sie saß da und atmete. Unfähig an irgendetwas anderes zu denken, als ihre Tochter.
Wo bist du Jolie? Geht es dir gut? Was machen sie wohl gerade mit dir?
Ein Gefühl der Schuld erdrückte sie.
'Hätte ich es ihr nur gleich gesagt, dann wäre das alles nicht passiert!'
Seit sie hier zu ihrer eigenen Sicherheit in einer gemütlich eingerichteten Gefängniszelle saß, tat sie nichts anderes, als immer wieder diesen einen Satz zu wiederholen. Immer und immer wieder. Und sie taxierte den Teppichboden. Doch sie sah ihn nicht. Nicht wirklich. Es war, als würde sie einfach durch die Vielzahl verschiedener Flecken, die er beherbergte, hindurch sehen.
'Hätte ich es ihr nur gleich gesagt, dann …'
'… hätte das vermutlich auch nicht viel geändert!' tönte eine sanfte, dunkle Stimme neben ihr und sie spürte durch das Nachgeben des Sofas, wie sich jemand neben sie setzte. Diese Stimme hatte einen Klang, wie die eines Märchenerzählers. Etwas Beruhigendes schwang in ihr mit, etwas, das sie zum Aufhorchen und die Stimmen, die sich in ihr stritten, zum Verstummen brachte.

***

Er hatte den Anderen beobachtet, seit dem Tag, an dem seinen Engel eigentlich schon zu sich holen wollte, an dem aber der graue BMW ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte. Zuerst hatte er einen seiner Spione auf ihn angesetzt. Denn er war jemand, der gerne die Kontrolle behielt - über alles und jeden.
Dann, am nächsten Tag, als er zum ersten Mal mit Jolie gesprochen hatte - nach so vielen Jahren - hatte er endlich registriert, dass der Widerstand in ihr nicht mit den normalen Mitteln zu brechen war. Sie sprach nicht mit ihm, sie aß nichts, sie trank nichts, sie sah ihn nicht an. Sie weinte nicht einmal.
Er hatte sich darauf vorbereitet, dass sie weinen würde, hatte damit gerechnet und sich darauf eingestellt. Auch wenn er Tränen für eine Schwäche hielt, hatte er sich vorgenommen sie ihr zu verzeihen. Sie zu verstehen, sie zu trösten. Doch sie saß nur da und starrte vor sich hin. Wandte den Blick ab, wann immer er sich ihr näherte, zuckte bei jeder Berührung zusammen und ihr Körper spannte alle Muskeln an. Ansonsten reagierte sie auf nichts und niemanden in ihrem Umfeld. Es war, als wäre sie in eine andere Welt abgetaucht. Eine Welt, in der er nicht existierte, und auch niemand sonst.
Da hatte er eingesehen, dass er ein Druckmittel brauchte. Und wer wäre besser dafür geeignet, als der Andere? Beim ersten Mal, als dieser Gedanke seine Gehirnwindungen wie eine fixe Idee durchzuckt hatte, hatte er schmunzeln müssen. Oh ja, er war einfach genial!Und es war so einfach gewesen, ihn zu überwachen und zu folgen. Seit dem Tag, an dem er sie geholt hatte, war der Andere jeden Tag zur Brücke gegangen, hatte stundenlang auf das Wasser gestarrt und sich nicht bewegt, wie ihm seine Männer berichtet hatten. Erst, als er diese Symptome gehört hatte, wurde ihm bewusst, was mit Jolie los war oder woran sie Tag für Tag, Stunde um Stunde wohl mit ihren Gedanken war.
Am ersten Tag, an dem er selbst den Anderen überwacht hatte, hätte sich dieses Problem beinahe von selbst im wahrsten Sinne des Wortes zwar nicht in Luft aber im Wasser aufgelöst. Er war schon auf der anderen Seite des Geländers gestanden, hatte hinab gesehen. Dylan stand da und sah einfach nur zu und unbändige Zufriedenheit erfüllte ihn. Er würde nicht einen Finger rühren müssen. Der Andere würde schon bald Geschichte sein. Nicht einmal zum Zustoßen würde er gezwungen sein. Er konnte einfach zusehen.
Doch halt - was machte der Andere denn da?
Er stieg wieder zurück übers Geländer, lehnte sich schnaufend und keuchend mit zittrigen Knien dagegen. Jetzt wurde wieder der eiskalte, schwarze Hass in seiner Brust übermächtig, von dem er genau wusste, dass das nicht gut war. Denn jedes Mal, wenn das passierte, tat er Dinge, die nicht in seinen Plan passten. So auch heute …
Er konnte nicht anders, er musste seine Gedanken laut aussprechen!
'Hättest du nicht der Welt einen Gefallen tun und springen können? Aber selbst dafür bist du zu schwach. Zu schwach, um deine Geliebte zu schützen und zu schwach, um dir selbst ein Ende zu machen! Erbärmlich!'

***

Verdattert schlug ich die Augen auf, zwang meine schmerzenden und noch immer zitternden Knien wieder die gesamte Last meines Körpers auf. Woher kam diese Stimme?
Suchend blickte ich mich um. Wer wusste von Jolie?
Da sah ich, wie sich ein Umriss etwas aus dem Schatten der Bäume löste und sich näherte. Nach und nach schälten sich einzelne Konturen genauer heraus, wurden stechend scharf. Und als ich die Augen sah, wusste ich, wen ich vor mir hatte. Diese Augen hatten mich verfolgt in meinen Träumen, Augen, schwarz wie die Nacht.
Dylan - oder wie auch immer dieser Kerl wohl hieß.
'Wo ist sie?? Was hast du mit ihr gemacht?'
Nun kam ich also doch noch dazu meine gesamte Wut herauszuschreien. So laut ich nur konnte. Ein paar Vögel flogen verschreckt davon. Doch was tat dieser Mistkerl? Er lachte. Er sah mich an und lachte. Lachte mich aus.
'Wo ist sie?', fragte ich noch einmal.
Ich hatte das Bedürfnis mich auf ihn zu stürzen und es aus ihm herauszuprügeln. Ihm jeden einzelnen Knochen in seinem elendigen Körper zu brechen. Ihn zu schütteln bis die Antwort aus seinem Mund herausfallen würde wie reifes Obst von den Bäumen. Wollte, dass er den gleichen Schmerz empfand, wie ich gerade, wollte ihn äußerlich so zerreißen, wie ich innerlich zerrissen war.
Doch Gott sei Dank war die Vernunft stärker und mir wurde bewusst, dass er meine einzige Möglichkeit war, Jolie zurück zu bekommen. Sie wieder zu sehen. Denn ich war mir sicher, dass das Zeugenschutzprogramm alleine sie nicht davon abgehalten hätte, mir irgendeine Nachricht, irgendein Lebenszeichen zukommen zu lassen. Dafür kannte ich sie zu gut.Der Fremde lachte noch immer.
Meine Wut wuchs, mein Atem wurde schneller, meine Muskeln spannten sich an.'Reg dich ab, ich würde ihr nie etwas zu leide tun. Sie gehört zu mir. Hat immer zu mir gehört! Was du einmal als deinen Besitz gedacht hast, war immer nur geliehen, immer nur zeitlich begrenzt. Sie wird mich heiraten, das war seit ihrer Geburt so vorbestimmt!'Jedes einzelne Wort schmerzte wie eine Ohrfeige und zerbrach mein Herz immer mehr.'Wer gibt dir das Recht, so etwas zu behaupten?'
Wieder dieses dreckige Lachen. Noch einmal, und ich würde mich wirklich auf ihn stürzen.Er kam unentwegt näher. Schritt für Schritt. Trat so bedächtig und elegant auf, als würde es dafür Haltungsnoten geben. Er hatte es nicht eilig. Natürlich nicht! Er wurde nicht gerade von Sehnsucht, Angst, Eifersucht und Hass erdrückt. Ihm schnürte nicht die Hilflosigkeit die Luft ab. Es war so ungerecht, vor demjenigen zu stehen, der all die Antworten kannte, die ich haben wollte, aber nichts weiter tun zu können, als abzuwarten. Ihm ausgeliefert zu sein, auf Gedeih und Verderb. An seinem Willen hing meine gesamte Welt.
'Weißt du, so etwas wie Recht gibt es bei uns nicht. Bei uns zählt nur die Macht des Stärkeren und die Religion. Und da ich Mitglied der obersten Kaste, der Brahmanen, bin und mein Vater zugleich der Diplomat ist, vor dem alle Welt im Staub kniet, habe ich die besten Voraussetzungen, um so etwas behaupten zu können!'
Er sagte das mit einer Gleichgültigkeit, die es mir erschwerte all das erst mal zu fassen. Es steckte so vieles an Informationen in diesem Satz, so vieles über den Charakter von Dylan, doch all dies brauchte eine gewisse Zeit, bis es in meinem Gehirn ankam.
Doch als es das tat, konnte ich nicht mehr an mich halten.
Ich hechtete vorwärts so schnell ich konnte und der Braunhaarige und ich landeten auf dem staubigen Waldboden. Ich ballte die Hand zur Faust, holte zum Schlag aus, schloss die Augen. Es würde schlimm genug sein, Knochen brechen zu hören, da musste ich sie nicht auch noch Splittern sehen.
Plötzlich jedoch ging alles ganz schnell. Ich bemerkte einen Widerstand gegen meine Knöchel, hatte kaum noch Zeit, meine Augen zu öffnen, da lag ich schon auf dem Rücken selbst im Dreck mit einem unbändigen Druck auf dem Brustkorb. Verstört blinzelte ich. Dylan kniete auf meinen Armen, halb auf meinen Brustkorb gesetzt. Dreckige Lache. Ich zappelte und schlug um mich, doch erwischte ihn nicht. Ich keuchte und schrie, zerrte an meinen Armen, versuchte ihn mit den Füßen zu erreichen. Kein Gedanke war in meinem Kopf, denn die Wut über meine Hilflosigkeit und meine Schwäche überschattete alles andere, machte jede Logik zunichte.
Da fühlte ich, wie mein Hals plötzlich von einer unbändigen Kraft unter meinem Kinn gestreckt wird und kann grade noch aus den Augenwinkeln mehr erahnen als erschielen, dass Dylan mit seinem Unterarm meinen Kopf nach hinten drückt.
Mit aller Anstrengung verdrehe ich meine Augen so sehr, dass ich das Muskelpaket auf mir anstarren kann, sehe seine eiskalten Augen, sein verächtliches Lächeln, sehe jedoch keine Anstrengung. Sollte es so leicht für ihn sein, mich in Schach zu halten? Da blitzt plötzlich etwas silbernes in der Sonne.
Ein Messer!
Sekunden später spüre ich einen leichten Druck am Hals.
Schließe die Augen.
Soll es das jetzt gewesen sein? Aus Angst, mir selber die Kehle aufzuschlitzen, wage ich es kaum noch zu atmen. 'Hast du keine Alpträume davon du Mistkerl?', ich gebe mir alle Mühe, diese Worte verächtlich auszuspeien. Weiß jedoch nicht, ob es mir gelingt, oder die wie der Rest meines Körpers von Angst befallenen Stimmbänder zu sehr zittern.
'Ach weißt du, es wird mit jedem mal leichter!'
Meine Lippen beben. Mein Gott ist mir schlecht. In philosophischen Stunden hab ich mich oft gefragt, was nach dem Tod kommen würde, doch jetzt wollte ich das gar nicht mehr so genau wissen. Aber ich würde nicht um Gnade flehen, würde nicht betteln. Ich würde mit einem Lächeln im Gesicht und Verachtung auf den Lippen sterben. Jolie sollte mein letzter Gedanke sein.
Doch … nichts …
'Oh, Menschen sind solche Narren! Noch vor wenigen Minuten wolltest du selbst springen, wolltest es selbst tun, jetzt, wo jemand da ist und dir die Arbeit abnehmen wird, hast du Angst davor! … Mach wenigstens die Augen auf und sieh mich an, bevor die Lichter für immer ausgehen!'
'Nein Danke, ich behalte lieber die schönen Bilder der Welt in Erinnerung, bevor ich mit einem Abbild deiner Visage auf meinen Nervenzellen sterben muss …'
Da fühlte ich etwas Warmes an meinem Hals hinunterlaufen und ein Brennen durchzuckte meine Kehle. Dann noch einmal ein heftigerer Schmerz, von dem mir keine Zeit blieb, noch genauer zuzuordnen, wo er seinen Ursprung hatte, denn da verlor ich mich in einem tiefen, undurchdringlichen Nebel und einer Dunkelheit, die noch dunkler war, als die Finsternis, wenn man seine Augen schließt. Lernte man immer erst mit den letzten Atemzügen, welche Farbe WIRKLICHES schwarz war?







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