Wenn die Gedanken nicht schweigen ... Teil 8

Autor: key
veröffentlicht am: 14.08.2009




Sie versuchte, sich zu beruhigen. Massierte ihre Schläfen. Ging ein bisschen auf und ab. Atmete möglichst tief ein und aus. Es gelang ihr aber nicht! Sie beschleunigte ihre Schritte beim Auf- und Abgehen wieder, wurde immer schneller, bis schließlich nicht nur sie in einem Fort den Gang auf und ab, sondern auch ihr Puls in einem schnellen Stakkato raste.
'Hey, beruhig dich mal, so kann ich dich nicht da rein lassen, da muss ich ja befürchten, dass du ihn umbringst!'
'Beruhigen? Ich soll mich beruhigen? Kannst du mir mal sagen, wie man bei so einer Schweinerei RUHIG bleiben kann!'
Die schwarzen verwuschelten Haare standen ihm lässig vom Kopf ab, als wäre er grade aus dem Bett gekommen, seine Augen waren so blau wie das Eismeer, sein Blick jedoch keineswegs kühl oder unangenehm, eher intelligent und aufmerksam, die Lippen waren von einem zarten Rosé-Ton, umspielt von Grübchen, die sich beim Lächeln bilden. Das einzige, was das eigentlich durchweg hübsche Gesicht entstellte, war die lang gezogene Narbe, die sich wie ein Pfad von der linken Schläfe ganz knapp am Auge vorbei über die Lippen hinweg bis zur rechten Seite des Kinns zog.
Er seufzte und legte ihr die Hand auf die Schulter.
'Sandra, ich weiß, es geht dir ziemlich an die Substanz, weil du die beiden in dein Herz geschlossen hast, deswegen - wenn du möchtest - kann auch ich mit ihm …'
'Oh nein!', fiel die Kommissarin ihm ins Wort.
'Wenn ich doch nur wüsste warum!', fügte sie leise, fast kaum hörbar hinzu.
Er hatte es auch nicht gehört, aber er hatte es abgelesen - nein, nicht von ihren Lippen, sondern von ihren Augen.
'Weißt du, ich denke, da musst du ihn schon selbst fragen!'
Es war kein Ratschlag, den er ihr gab, sondern eine Feststellung. Und noch ehe die Luft, die er durch seine Aussage mit seiner melodischen Stimme zum Vibrieren gebracht hatte, wieder in Ruhe war, wurde sie erneut aufgewühlt durch den Lufthauch der Tür, die er hinter sich zu zog, als er ohne ein weiteres Wort, ohne einen weiteren Blick den Raum verließ.

***

Salzig. Zu salzig. Viel zu salzig.
Der Geschmack ging aus meinem Mund nicht mehr Weg, außerdem brannten die Tränen in meinen von der Ohrfeige aufgeplatzten Lippe, doch es kamen immer wieder neue nach, der Bach endete einfach nicht, ich konnte es nicht stoppen, konnte nicht aufhören zu zittern und eine Träne nach der anderen aus meinen Augenwinkeln ihren Weg über die Wangen antreten zu lassen. Die einen von ihnen trafen ihre Artgenossen in einem salzigen See in meinem Mund wieder, die anderen schafften es nicht mal zur Hälfte, ihren beschwerlichen Weg zu bewältigen und vertrockneten mitten auf der Wange, von wo aus sie glänzend das Licht reflektierten, wieder andere vermischten sich mit dem Blut in meinen Wunden. Und der letzte, weitaus geringste Teil, rann hinunter, vorbei am Mund und stürzten von der Spitze meines Kinns hinab in ein, wie es aus der Sicht einer Träne wohl sein musste, unendlich weites Nichts.
Doch ich weinte nicht vor Schmerz oder Heimweh und auch nicht aus Angst. Halt, stimmt nicht. Ich weinte aus Angst, aber nicht aufgrund der Angst um mich, wäre es nur um mich gegangen, wäre es mir egal gewesen, denn ein Leben ohne Matthew - ob im Zeugenschutzprogramm oder an der Seite von Dylan - wäre für mich in keinem Fall ein Leben. Auch nicht aus Angst um meine Mutter. Sie war diejenige, die ich am sichersten wusste, denn nun, da ich offenkundig entführt worden war, würden die Polizisten und Frau Steiner sie mehr hüten, als die Queen ihre Kronjuwelen oder die Schweizer Garde ihren Papst.Nein, ich hatte um ganz jemand anderen Angst und das mit gutem Grund. Und ein erneuter Sturzbach an Tränen brach aus mir heraus, als ich an Dylans letztes Gespräch mit mir dachte …

***

Er wurde es nicht müde, sie anzusehen.
Auch wenn sie weinte, war sie schön. Er war besessen von ihr. Süchtig. Konnte nicht anders, musste sie anschauen, die ganze Zeit. Auch wenn er ihre Tränen nicht trocknen durfte - noch nicht - und auch wenn er mit seinen Fingern die samtweiche Haut ihrer Wangen nicht berühren durfte - noch nicht - und auch wenn er die rosa Lippen nicht mit seinem Finger nachzeichnen durfte - noch nicht - weil sie sich ihm noch verweigerte und noch nicht bereit war, sich auf ihn einzulassen, so wusste er doch, dass sich das bald ändern würde.Er lehnte sich in seinem mit Kaschmir überspannten Sessel zurück, verschränkte die Finger, schloss die Augen und erinnerte sich genüsslich an das letzte Gespräch …

***

'Na meine Schöne, hast du dich schon etwas beruhigt? … Du wirst gewiss noch lernen, dass du mir Respekt zu zollen hast. Ich hoffe jedoch, dass du es schnell lernst. Denn es tut mir eben so weh, wenn nicht sogar noch mehr, wie dir, wenn ich dich bestrafen muss!'Er hatte seinen Zeigefinger zärtlich, aber bestimmend unter mein Kinn gehalten und mich gezwungen, ihn anzusehen.
'Fein, wenn es dir mehr weh tut, als mir, werde ich dir kein Stückchen Respekt mehr zollen, als bisher, denn du hast den Schmerz verdient, du Ekel!'
Ich hatte die Worte mehr verächtlich hingespuckt, eins nach dem anderen war es, sich beinahe überschlagend, aus meinem Mund herausgepurzelt, hingespuckt, wie schlechtes Essen auf den Teller.
'Tztztz, wer wird denn gleich so aufbrausen sein?', hatte er mit einem spöttischen Unterton gefragt und mit seiner Fingerspitze eine Haarsträhne aus meinem Gesicht gestrichen. Trotzig hatte ich meinen Kopf herumgerissen, den Blick weg von ihm, und hatte mit ruhiger Stimme, aber bestimmt - auch wenn ich gewiss nicht in der Lage war, mir diesen Tonfall leisten zu können - geantwortet 'Fass mich nicht an!'
Da hatte er wieder nur gelacht. Sich zurück gelehnt, mich von oben bis unten gemustert und gelacht. Diese dreckige Lache, dieser spöttische Blick, dieser Hohn in seiner Stimme, wann immer er mit mir sprach, waren weitaus schlimmer, als jede körperliche Gewalt, die er mir antat. Doch ich spürte, bei jeder Bewegung von ihm, jedem Blick, jedem Wort und jeder Berührung, dass er mich zwar schlagen konnte, vermutlich auch auspeitschen oder vergewaltigen, dass er mich jedoch niemals - niemals - umbringen können würde, da er in gewisser Weise abhängig von mir war.
Psychisch komplett krank. Wahrscheinlich das Syndrom, dass er aufgrund seines Vaters und seines Geldes alles auf der Welt haben konnte, was er wollte, nur mich nicht, ich hatte mich damals seiner Macht entzogen - etwas, das überhaupt nicht in seine gedankliche Ansicht der Welthierarchie passte, an deren Spitze er - nach seiner eigenen Auffassung - zusammen mit seinem Vater stand.
Deswegen wusste ich, dass ich sicher war. Er würde nicht zulassen, dass mir irgendetwas geschah, bevor er sich von mir alles genommen hatte, was er wollte.
Das war gefährlich, denn es hatte mich dazu verleitet, mit ihm zu spielen.
'Na, willst du mich wieder schlagen, um mich gefügig zu machen?' hatte ich ihn mit einem abschätzigen Blick gefragt und mich ihm ein Stück entgegen gelehnt. Doch dabei hatte ich vergessen, dass er mir im grausamen Spiel der Realität im Gegensatz zum Schach um einiges voraus war. Hatte etwas getan, was auch im Schach der größte Fehler war, den man machen konnte: Ich hatte ihn unterschätzt.
Und war an seiner Antwort fast zerbrochen!!!
Er hatte sich damit genügt, denn Kopf zu schütteln, sich mit dem Drehstuhl von mir wegzudrehen und auf einen Monitor des Zimmers - in das ich mittlerweile von zwei seiner Gorillas geschleppt worden war - zu zeigen. Just in diesem Moment flackerte ein Bild auf - und mein Herzschlag setzte für einen Moment aus. Mir wurde schwarz vor Augen und ich lehnte mich an die Wand, schüttelte den Kopf, immer wieder, wie in Trance, hin und her, hin und her. Doch als ich meiner Augenlider wieder Herr war und sie erneut öffnen konnte, war dasselbe Bild auf demselben Monitor an derselben Wand.
Matthew, sein Gesicht von einem Kratzer durchzogen, ein Auge violett umrahmt, geschwollen, sein Hals und sein Brustkörper mit Blutergüssen übersäht - das konnte man deswegen sehen, da er oberkörperfrei und nur in einer kurzen Hose irgendwo im nirgendwo in einem dreckigen Verlies saß, seine Hände an den Handgelenken eine Armlänge über seinem Kopf mit Ketten an die Wand gefesselt, sodass es ihm garantiert nicht möglich war, eine bequeme Sitzposition zu finden. Seine Oberlippe war aufgeplatzt - ganz automatisch führte ich meine Hand zu meiner eigenen Wunde, als ich das sah. Er hing an den Ketten, als wäre er tot, er rührte sich nicht. Hätte sein geschundener Brustkörper sich nicht ganz langsam - geradezu quälend langsam - ab und an mal ansatzweise gehoben und wieder gesenkt, hätte ich wirklich geglaubt, er wäre von dieser Welt gegangen. So jedoch war ich erleichtert, dass er 'nur' bewusstlos war.
Ich konnte nicht hinsehen, musste meinen Blick abwenden. Doch ich konnte meinen Blick auch nicht abwenden, musste wieder hinsehen. Ich kaute auf meiner Unterlippe herum. Ein Gedanke jagte den anderen in einer wilden Hetzjagd durch meinen Kopf. Wird er es überleben? Wo ist er? Wie geht es ihm? Wie stark sind seine Schmerzen?
Und ich fühlte mich so elend, als wären seine Wunden meine Wunden und als wäre sein Elend das meine. Und in diesem Moment wünschte ich mir, dass das Sprichwort 'geteiltes Leid ist halbes Leid' einen wahren Kern hatte, denn so sehr wie ich unter diesem Anblick litt, würde ihm das seine Schmerzen um einiges lindern.
Ich stöhnte auf, als ich noch mal hinsah. Ich konnte nicht anders. Selbst in diesem schrecklichen Zustand fand ich Matthew noch schön, seinen Körper atemberaubend.'Jungs, dreht ihn mal um, wir wollen doch, dass sie was sieht, für ihr Geld!'
Lachen.
Dreckiges Lachen.
Sein dreckiges Lachen.
Und Hass. In mir. Brodelnd. Tiefrot. Kochend. Blutrot.
In dem Moment liefen wieder zwei von den Schränken ins Bild - wo hatte Dylan die nur alle her, gab es irgendwo ein Nest von denen? - und drehten den bewusstlosen Körper ein wenig, sodass sich der von roten Streifen und blutigen Rissen nur so übersäte Rücken meinen auf den Monitor fixierten Augen präsentierte.
Ich stöhnte schmerzerfüllt auf und wandte den Blick ab.
Wie konnte Dylan so grausam sein? Wie konnte er einen Menschen so zurichten, so leiden lassen? Und ich meinte in diesem Moment definitiv nicht mich.

***

Sie war tapferer gewesen, als ich gedacht hatte, doch beim Anblick seines Rückens war sie fast zusammengebrochen.
Das hatte mich wütend gemacht!
Wie sehr und wie tief mussten ihre Gefühle für diesen dreckigen Kerl verwurzelt sein, dass sie sich allein bei seinem Anblick fast vor meine Füße erbrach?
'Was hast du mit ihm gemacht?', presste sie mühsam und stimmlos zwischen ihren bebenden Lippen hervor. Ich hätte sie beinahe nicht verstanden, hätte ich mich nicht während sie sprach ihrem Mund so weit genähert, dass mein Ohr sie fast berührte.
In mir keimte eine Welle der Erregung auf - ich fühlte, dass er der Schlüssel war. Nein, nicht er, viel mehr es, denn dieser Kerl hatte keine andere Bezeichnung verdient. Spürte, dass er das Herzstück war, um von ihr zu kriegen, was immer ich wollte. Doch ich musste es geschickt anstellen. Diesmal war die Taktik nicht, wie sie es schon so oft zuvor gewesen war, zu töten, sondern am Leben zu lassen.
'Nun, ich würde sagen, ich habe ihn ein wenig mit der Peitsche gestreichelt?'
'Du elender, kleiner, dreckiger Wurm!'
'Na, na, na, hab ich dir nicht gesagt, du solltest mit deinen Worten etwas vorsichtiger sein - oder wie würde dir ein hübsches Muster auf der Brust deines Freundes gefallen? … Jungs, kitzelt ihn doch ein wenig mit dem Messer!'







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