Verlorene Jahre - Teil 2

Autor: Sternchen
veröffentlicht am: 25.02.2011


Gotthold war erst am Abend wieder zurück. Die beiden Mädchen und ihre Mutter waren auf ihren Zimmern und die Gräfin las in einem Buch.
“Ich melde mich zurück.”, sagte er, als er in den Salon kam.
“Gut.”, antwortete die Gräfin abwesend. “Ich glaube, es gibt noch etwas anderes, als die Schwangerschaft. Irgendein Problem ist da noch…” Die Gräfin verfügte über einen scharfen Verstand. Sie zu täuschen war bisher noch niemandem gelungen.
“Dazu kann ich nichts sagen. Allerdings würde ich gern noch einmal mit Ihnen über etwas anderes sprechen.”, begann Gotthold.
“Wenn es nicht äußerst wichtig ist, lassen Sie mich für heute bitte in Frieden.”, antwortete die Gräfin. “Sie können sich entfernen, Sie haben ja noch eine Stunde frei.”
Gotthold rührte sich nicht von der Stelle.
“Es IST äußerst wichtig - wenn nicht, würde ich Sie nicht damit behelligen, gnädige Frau.”, beharrte er.
“Setzen Sie sich.” Die Gräfin legte das Buch zur Seite. Gotthold nahm im anderen Sessel Platz.
“Ich wäre Ihnen sehr verbunden, würden Sie mir übermorgen, am Samstag, noch einmal für einige Stunden frei geben würden.”, formulierte er seine Bitte.
“Weshalb?”
“Mein- mein Bruder. Ist … verstorben.”, erklärte Gotthold und wischte sich so unauffällig wie möglich über die Augen. Entsetzen breitete sich auf dem Gesicht der Gräfin aus. Glücklicherweise war niemand außer den beiden im Raum. Man hätte sich sonst gewundert, warum die Gräfin so erschüttert über diese Nachricht war.
“Dein Bruder?”, brach es dann aus ihr hinaus, sogar das Siezen hatte sie darüber vergessen.
“Ich habe es heute erfahren und ich würde… würde gern auf seine B-b-… auf seine Beerdigung gehen.” Gotthold musste sich sehr zusammenreißen, seine Souveränität zu wahren. Er stand auf und wandte das Gesicht ab.
Eine einzelne Träne rann über die rechte Wange der Gräfin, heimlich und für niemanden sichtbar.
“Ja… Natürlich. Du bist - Sie sind von jetzt an bis Sonntag freigestellt.”, sagte die sie sofort.
Gotthold räusperte sich, zog ein sauberes Taschentuch aus der Tasche und schnäuzte sich. Dann drehte er sich wieder zu der gnädigen Frau um.
“Dann ist da noch etwas.”, fügte er leise hinzu.
In diesem Moment kam Helene die Treppe hinunter. Sofort stellte sich Gotthold aufrecht hin, hob die Stimme und sagte: “Melde mich zurück, gnädige Frau.”
“In Ordnung, Gotthold. Sie können sich zurückziehen.”, antwortete die Gräfin. “Oh, Helene!”, spielte sie erstaunt.
“Ich wollte fragen, ob ich mir die Umgebung ansehen darf.”, sagte die Enkelin.
“Natürlich. Geh nur. In einer Stunde gibt es aber Abendessen.” Das Mädchen verschwand und Gotthold setzte sich wieder.
“Ich glaube, ich habe IHN gesehen.”, raunte er.
“Wen? Ihren Bruder?”, fragte die Gräfin verwirrt.
“Nein, Unsinn. Mein Bruder ist… Nein, ich habe IHN gesehen. Er stand in einem Geschäft und er sah so aus, als ob…”
“Das ist nicht möglich! Sie haben einen schweren Verlust erlitten. Ruhen Sie sich aus, und später denken Sie noch einmal darüber nach. - Sind Sie sich denn ganz sicher? Hat man Sie erkannt?”, flüsterte die Gräfin.
“Nein. Ich denke, er sah mich nicht. Und wie kann man sich in so einer Sache auch sicher sein? Ich bin mir überhaupt nicht sicher. Ich glaube sogar, dass es nicht ER war. Aber es wäre möglich.”
“Ja. Natürlich. Etliche Male wurde ich selbst von Trugbildern und Irrungen verwirrt. Aber es ist unmöglich. Unmöglich.”, flüsterte die Gräfin.
“Entschuldigen Sie mich. Der heutige Tag war etwas viel für mich. Ich werde mich zurückziehen.”, murmelte er. Die Gräfin nickte.
Er drehte sich noch einmal um. “Es war ein Fehler - alles.”
“Es ist verjährt. Alles ist irgendwann vergessen.” Ihre Stimme hatte einen bitteren Unterton.
“Nein, oh nein. Es gibt Dinge, die verjähren nie.”, sagte er im gehen.
Helene war unterdessen an dem kleinen Bach angekommen, der sich leise murmelnd seinen Weg bahnte. Hier traf sie zum ersten Mal auf den siebzehnjährigen Joseph.
“Hallo.”, grüßte er.
“Hallo. Kann ich dir helfen?”, antwortete Helene.
“Ich kenne mich hier nicht so gut aus. Kannst du mir sagen, wie ich nach Schönfeld komme?”, sagte er.
“Ich kenne mich hier auch nicht aus.”, erklärte Helene entschuldigend. “Aber ich kann dir zeigen, wo die nächste Bushaltestelle ist, ich glaube, der Bus fährt auch durch Schönfeld.”
“Ja, das wäre nett, danke.”
So gingen die beiden ein Stück nebeneinander her.
“Ich bin übrigens Joseph.”, sagte Joseph irgendwann. Dabei zupfte er am Reisverschluss seiner Jacke herum. Er hatte dunkelblondes Haar und grau-blaue Augen.
“Helene.”, stellte sich Helene vor. “Machst du Urlaub in Schönfeld?”
“Mein Großvater ist gestorben. Am Samstag wird er begraben.”
“Oh, das tut mir Leid.”, sagte Helene.
“Muss es nicht. Ich kannte ihn gar nicht. Bemitleiden könntest du mich höchstens, weil ich jetzt hier wohnen muss. Wir ziehen zu meiner Großmutter, die ja jetzt alleine lebt.”
“Der Bus!”, rief Helene aus. Joseph setzte sich in Bewegung und rannte, was das Zeug hielt, über die Wiese zur Haltestelle, die inzwischen in Sicht gekommen war. Helene sah, wie er den Bus gerade noch schaffte.
Merkwürdig fand sie diese Begegnung schon irgendwie, hatte sie sich doch noch nie mit einem völlig Fremden unterhalten. Sie wusste natürlich nicht, dass es Joseph genauso ging.
Beim Abendessen herrschte eine nahezu eisige Atmosphäre. Niemand sprach, alle stocherten stumm in ihrem Essen herum. Johanna war gelangweilt und hatte schon jetzt die Nase voll vom Aufenthalt ihrer Großmutter, fühlte sich nicht wohl in dem großen Haus, da sie mit ihrer Mutter nur in einer kleinen Wohnung lebten. Helene war in Gedanken bei dem merkwürdigen Treffen mit Joseph und fragte sich, ob sie ihn wohl noch einmal wieder sehen würde. Leonora dachte an das Kind, ihre Geldsorgen und daran, dass sie in den nächsten Tagen unbedingt mit ihrer Mutter sprechen musste. Und Agnes war von der Fülle an schockierenden Nachrichten, die sie an diesem Tag erhalten hatte, noch völlig benommen.
Nach dem Essen gingen alle zu Bett.
Doch lediglich Sophia - die von allem nichts mitbekommen hatte und deren einziges Problem war, dass jetzt, wo Gotthold aus einem ihr unbekannten Grund beurlaubt worden war, sie selbst die Hauptarbeit übernehmen werden müsse - lediglich sie, schlief gut in dieser Nacht.

Der nächste Tag war ein Freitag. Beim Frühstück herrschte wieder Schweigen.
“Mutter- ”, erhob Leonora irgendwann die Stimme, “- Ich finde deine Reaktion nicht angemessen. Viele Frauen werden mit vierzig noch einmal schwanger, meinem Kind geht es trotzdem gut, es ist rundum gesund. Dass ich Helene mit fünfundzwanzig bekommen habe, war dir auch nicht recht. Da war ich zu jung. Mit Fünfundzwanzig! Jetzt bin ich vierzig und zu alt! Es gibt massenweise allein erziehende Frauen. Ich habe mir nicht ausgesucht, von dem Vater meiner Kinder sitzen gelassen zu werden, der bei einer Nacht- und Nebelaktion einfach abhaut. Aber nun ist es einmal so und ich werde auch damit klarkommen.” Es war selten, dass sie ihrer Mutter so deutlich die Meinung sagte. Diese sah nur von ihrem Teller auf.
“Du musst selbst wissen, ob du es schaffst. Ich habe dir deswegen keinen Vorwurf gemacht.”
“Hast du wohl. Seit wir hier sind, kann man mit dir kein vernünftiges Wort wechseln. Du schweigst dich noch zugrunde!”
“Ich habe noch andere Probleme als deine Schwangerschaft. Sei bloß nicht so egoistisch, zu glauben, dass sich all meine Sorgen nur um dich drehen!” Damit stand Agnes auf und verlies mit schnellen Schritten den Raum.
Helene murmelte “Ich gehe ein bisschen raus.” und war kurz darauf ebenfalls verschwunden.

…SECHSUNDVIERZIG JAHRE UND DREI MONATE ZUVOR…
“Du liebst mich doch auch! Ich weiß, dass du mich auch liebst!”, ruft er.
“Ja! Ja, ich liebe dich. Sei doch endlich still! Trotzdem musst du gehen. Ich kann nicht mit dir zusammen sein.” Sie wischt sich eine Träne vom Gesicht.
“Ich doch genauso wenig! Meine Eltern würden mich enterben und verstoßen.”, ruft er.
“Als ob es nicht ein Glück für dich wäre, die Schulden deiner Eltern nach ihrem Tod nicht zu übernehmen!”
Sein Gesichtsausdruck verzerrt sich zu einer verdutzten Grimasse.
“Geht es dir darum?”
Sie begreift, was sie gesagt hat, und beteuert sogleich: “Nein, entschuldige. Natürlich nicht. Ich liebe dich, mit oder ohne Geld, aber…”
“Vergiss doch die blöden Regeln! Wir brennen durch: Wir fahren nach Amerika! Lass uns gemeinsam in Amerika ein neues Leben aufbauen!”, beharrt er.
“Das geht nicht. Sie würden mich finden. Wir haben kein Geld, keine Ausbildung - also keine Arbeit, nichts!”, sie beginnt zu weinen. “So schön der Gedanke auch ist - wir müssen ihn verwerfen. Du kennst doch die Gründe!”
“Dann treffen wir uns weiter heimlich! Bei Joseph, im Gasthaus! Er verrät uns nicht.”, drängt er.
“Versteh doch! Es geht nicht. Das kann nicht von Dauer sein. Besser unsere Wege trennen sich jetzt, als später. Je später, desto schmerzvoller der Abschied.”
Er nimmt sie in den Arm, küsst sie leidenschaftlich. “Ich kann nicht ohne dich sein! Ich brauche dich. Wir werden das Geld schon irgendwie zusammenbekommen - einen Schiffsfahrschein für Amerika - mehr brauchen wir doch nicht!”
“Und wovon willst du dort leben?”, bringt sie ihn auf den Boden der Tatsachen zurück.
Er sieht sie an, etwas ratlos. “Wir finden eine Möglichkeit, zusammen zu sein. Willst du wirklich, dass ich dich verlasse? Du willst es doch gar nicht!”
“Geh!”, ruft sie. “Bitte, geh!”
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Fortsetzung folgt...
Ich hoffe, es gefällt euch bis jetzt - natürlich freue ich mich immer über Kommentare (auch über konstruktive Kritik).





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