Verlorene Jahre - Teil 3

Autor: Sternchen
veröffentlicht am: 01.03.2011


Helene lief zum Bach. Sie war sich sicher, den freundlichen Joseph an diesem Tag nicht wieder zu sehen - warum sollte er auch da sein? - dennoch hoffte sie darauf.
Sie hätte ihn allerdings gar nicht treffen können, denn Joseph saß zu diesem Zeitpunkt mit seinem Vater, seiner Mutter, seiner Großmutter und dem Bruder seines verstorbenen Großvaters in dem Gasthaus, welches sein Großvater bis zu seinem Tod mit fünfundsiebzig Jahren geführt hatte und hörte sich die Planungen für die Beerdigung an und tat so, als sei er furchtbar traurig.
Dabei hatte er seinen Großvater das letzte mal mit zehn Jahren gesehen und erinnerte sich kaum noch an ihn. Er stand auf und entschuldigte sich unter dem Vorwand, auf Toilette zu müssen.
Stattdessen ging er aber nach draußen und setzte sich auf eine Bank. Er dachte an Helene. Sie war hübsch. Er würde am Montag zum Bach gehen, nahm er sich vor. Vielleicht war sie ja wieder dort.
“Joseph?”, sprach ihn ein schwarzhaariger Mann an. Joseph war sich sicher ihn noch nie gesehen zu haben.
“Tut mir leid, aber ich glaube, ich kenne Sie nicht.”, sagte er.
“Das stimmt. Man hat mir gesagt, du bist Joseph Kramer. Dein Großvater hieß auch Joseph Kramer, richtig?”
“Ja.”, antwortete Joseph.
“Mein Beileid zu seinem Tod. Ich bin auf der suche nach dem Bruder deines Großvaters. Weißt du, wo er wohnt?”, wollte der Fremde wissen.
“Er hat erzählt, er arbeitet bei einer Gräfin von … äh… Allwörden oder so als Butler. Aber Sie können direkt mit ihm sprechen, er ist gerade da drinnen.”, sagte Joseph und zeigte auf die Tür zur Gaststätte.
“N-nein, nicht notwendig. Ich suche ihn lieber privat auf. Kennst du die genaue Adresse von dieser Gräfin?”
“Nein, tut mir leid. Wer sind Sie überhaupt?”, erkundigte sich Joseph.
“Ein alter Bekannter.” Mit diesen Worten wandte sich der Fremde zum Gehen und war kurz darauf verschwunden. Das alles geschah so plötzlich, als wäre der Fremde nie da gewesen.
Inzwischen saß Agnes von Allwörden in ihrem Zimmer und dachte nach. Sie musste den Streit mit ihrer Tochter klären. Sie musste schleunigst dafür sorgen, dass ihr Leben wieder in geordneten Bahnen verlief. Eine Möglichkeit war es, einfach nichts zu tun und darauf zu hoffen, alles würde sich doch von selbst wieder einrenken. Die andere Möglichkeit war, selbst etwas zu unternehmen. Und wenn sie Gotthold entlassen würde? Nein. Dafür gab es keinen Grund. Sie sah aus dem Fenster. Gerade kam ihre Enkelin von ihrem Spatziergang nach Hause. Agnes mochte sie. Helene war freundlich, höflich und zurückhaltend. Was auch immer geschah: Nichts durfte die Familie zerstören.
Helene hatte unterdessen beschlossen, sich im Haus umzusehen. Da sie die bewohnten Zimmer schon kannte, ging sie zuerst in den Keller. Es roch etwas modrig und es war kalt. Hier waren Kartoffelsäcke gestapelt, Weinflaschen standen in einem Regal und in einem anderen lagerten Konservenvorräte. Am Ende des Ganges waren zwei Türen. Hinter der einen befanden sich die Heizungsanlagen, die andere klemmte. Helene stemmte sich dagegen doch die Tür saß fest.
Sie malte sich aus, wie es wäre, dahinter einen geheimen Gang oder Ähnliches zu finden. Schließlich ließ sich der rostige Riegel doch noch etwas bewegen. Helene rüttelte so lange an dem alten Metallstab, bis er so weit zurückgeschoben war, dass sie die Tür öffnen konnte. Sie hustete. Staub wirbelte ihr entgegen. Sechsundvierzig Jahre zuvor war dieser Raum zum letzten Mal einigermaßen sauber gemacht worden. In diesen sechsundvierzig Jahren hatte sich eine Zentimeterdicke Staubschicht gebildet. Doch Helenes Erwartungen wurden enttäuscht. Es war einfach nur ein kleiner, leerer Raum. Der einzige Gegenstand darin war eine uralte Glasflasche auf dem Boden. Milchiges Licht strömte durch ein kleines Kellerfenster, welches über und über von Spinnweben bedeckt war.

…GENAU SECHSUNDVIERZIG JAHRE ZUVOR…
Sie sieht ihn auf der anderen Straßenseite, hat ihn ja schon erwartet. Von Joseph weiß sie, dass er heute kommen soll. Obwohl sein Anblick sie traurig macht fühlt sie eine innere Freude. Wie sie ihn vermisst hat.
“Guten Tag!”, ruft sie, lässt es beiläufig klingen. Er wendet sich um. Als er sie entdeckt breitet sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. Sofort kommt er zu ihr herüber.
“Wo warst du?”, fragt sie, keinesfalls vorwurfsvoll. Sie ist nur interessiert.
“Ich bin mit dem Zug an die Nordsee gefahren, wollte anheuern als Matrose für ein Schiff nach Amerika. Sie haben mich aufgenommen. So bin ich vor sechs Wochen dann losgefahren. Allerdings musste ich bei einem Zwischenstopp in Holland wieder von Bord gehen. Ich bin nämlich nicht seetauglich.” Er lachte.
“Ich muss mit dir sprechen.”, sagt sie leise. “Ungestört.”
“Ja.”, er ist sichtlich erstaunt. “Gehen wir doch zu Joseph, in die Gastwirtschaft.”
“Nein! Nicht zu Joseph. Komm mit zu mir, es ist wichtig. Jetzt!” Er folgt ihr, verwirrt, aber glücklich. Sie öffnet ein Kellerfenster und steigt hinein, in den Keller. Eine Decke liegt auf dem Boden, sie setzt sich darauf, während er zu ihr hinuntersteigt.
“Was willst du mir denn sagen?”, raunt er und beugt sich über sie, um sie zu küssen.
“Willst du nicht erst einmal einen Schluck trinken?”, fragt sie. Sie vermutet sicher Schnaps in seinem Seemannssack. Aber da muss er sie enttäuschen.
“Ich trinke nicht. Zumindest nicht mehr. Hier drin-”, er öffnet den Riemen. “- ist nur eine Flasche Milch.” Er zieht die Glasflasche hervor und trinkt den letzten Schluck aus. Dann sieht er sie an.
“Milch macht müde Männer munter!”, flüstert er und zwinkert ihr zu. Dann beugt er sich wieder über sie.
“Hör auf!”, fährt sie ihn an. “Dafür sind wir nicht hier.”
…………………………………………………………………

Agnes von Allwörden stand auf, strich ihre Kleider zurecht und atmete tief durch. Dann ging sie zum Zimmer ihrer Tochter und klopfte an die Tür.
Leonora saß auf dem Bett, als Agnes eintrat.
“Es tut mir Leid.”, sagte die Gräfin. “Ich hätte erkennen müssen, dass du gut allein klarkommst.”
“Schon gut.”, murmelte Leonora.
“Ich habe im Moment viel um die Ohren und mir ist der Kragen geplatzt. Es tut mir Leid. Natürlich weiß ich, dass du stark genug bist, deine Kinder großzuziehen.”
Leonora sah ihre Mutter an.
“Was hast du denn um die Ohren? Hast du irgendwelche Probleme? Bist du krank?”, fragte sie.
“Nein, ach was. Es ist schon alles in Ordnung.”, beteuerte die Gräfin. “Was ich gesagt habe war nicht in Ordnung. Du kommst ja wunderbar zurecht mit deinen Kindern und natürlich wirst du für das dritte auch noch eine gute Mutter sein. Besser, als ich je zu dir sein konnte. Verzeihst du mir?”
Plötzlich brach Leonora in Tränen aus.
“Nein, Mutter, du hattest ganz Recht. Ich komme nicht klar! Wir müssen aus unserer Wohnung ausziehen, ich habe kein Geld mehr, sie zu bezahlen. Arbeiten gehen kann ich mit dem Säugling auch nicht und Christopher unterstützt uns nicht - mir steht auch nichts zu, wir waren ja nicht verheiratet. Ich weiß nicht einmal, wo er steckt. Er ist einfach untergetaucht, nicht mehr auffindbar.”
“Kind…”, murmelte die Gräfin entsetzt.
“Ich bin nur gekommen, weil ich nicht mehr weiterweiß. In vier Wochen ist der Entbindungstermin und in zwei Wochen muss die Wohnung geräumt sein.”
Agnes kniff den Mund noch etwas mehr zusammen. Sie wusste, jetzt gab es für sie als Mutter nur eine einzige Möglichkeit. Sie würde ihrer Tochter selbstverständlich anbieten, mit ihren Kindern bei ihr zu wohnen. Ein bisschen Leben im Haus würde ihr sicher gut tun, es gab ohnehin zu viele lehr stehende Zimmer. Die Gräfin wusste aber auch, dass das ihre Situation um einiges komplizierter machen würde.

Nun war es also beschlossene Sache. Die Möbelpacker brachten die letzten Gegenstände aus der alten Wohnung. Es war Montag. Gotthold war mit dem Umzugsunternehmen in die Wohnung gefahren und hatte das Abbauen der Betten und Schränke genauestens beobachtet und kontrolliert. Nun lagerte alles in dem kleinen Raum im Keller. Agnes selbst war der Einfall gekommen, alles erst einmal dort zwischen zulagern.
Sophia hatte den Staub weggekehrt und war danach völlig grau mit der alten Glasflasche in der Hand wiedergekommen. “Die lag auf dem Boden.”
Agnes hatte sie in die Hand genommen und kopfschüttelnd betrachtet. Dann sagte sie: “Schmeißen Sie sie in den Müll, wo sie hingehört. Sie brauchen nicht wegen jeder alten Flasche zu mir zu kommen.”

Johanna hatte einen Wutausbruch, als ihr endgültig bewusst wurde, dass sie nicht in ihr altes zu Hause zurückkehren würde.
Helene wurde der Stress zu viel. Sie ging hinaus in den Garten und lief dann in Richtung Bach. Schon von Weitem sah sie Joseph dort sitzen.
“Hallo.”, rief sie, als sie bei ihm war.
“So sieht man sich wieder.”, sagte er. Sie setzte sich zu ihm auf den Boden.
“Ich dachte, jetzt, wo du einiges über mich weißt, könnte ich vielleicht auch etwas über dich erfahren…”, fügte er noch hinzu.
“Naja. Ich heiße Helene, bin fünfzehn Jahre alt und bin, wie es aussieht, gerade hierher gezogen.”
“Cool. Das heißt, ich bin nicht der einzige Neue auf der Schule. Es gibt nämlich nur eine in Schönfeld und Umgebung. Du gehst doch aufs Gymnasium, oder?”
Helene nickte.
“Du bist dran.”, forderte er sie auf.
“Womit?”
“Mit fragen. Frag mich was über mich.”, antwortete er.
“Na gut… Was willst du später mal werden?”, fragte sie.
“Da gibt es nicht so viel zu überlegen. Mein Opa hatte eine Gastwirtschaft, die leitet jetzt mein Vater und so wie’s aussieht, werde ich sie irgendwann auch übernehmen müssen… Aber das stört mich nicht - das alles schon vorherbestimmt ist - ich koche ganz gern und vielleicht kann man ja ein Hotel oder so draus machen, dann käme die alte Bude noch mal groß raus. - Ich bin dran. Was sind deine Hobbys?”
“Hm… Ich lese gern. Eigentlich habe ich kein richtiges Hobby.”, antwortete Helene.
“Hast du ‘Schneewittchen muss sterben’ gelesen? Wahnsinnsbuch.”, sagt er.
“Bitte! Ich wusste nach den ersten Seiten schon, wie es ausgeht. Spannend geschrieben ist es auch nicht.”, empörte sich Helene.
“Das ist spannend! Ich meine, wie die erst den Täter finden und dann ist er’s wieder doch nicht… Bist du darauf gekommen?”, fragte er. Der Donner lies Helene verstummen. Kurz darauf setzte heftiger Regen ein.
“Komm mit!”, rief Helene und zog ihn in Richtung des Hauses.
Dort saßen die anderen bereits am Tisch. Auch Gotthold war so eben angekommen und schüttelte den regennassen Schirm aus, als Helene und Joseph völlig durchnässt an ihm vorbei ins Trockene stürzten.
“Joseph!”, rief Gotthold aus, als er seinen Großneffen erkannte.
“Joseph?”, rief die Gräfin aus dem Esszimmer. “Der Enkel Ihres Bruders?”
“Ja, ebendieser.”, antwortete Gotthold.
Helene lachte, als sie begriff.
“Ich habe ihn getroffen und es hat geregnet, da habe ich ihn mitgenommen.”, erklärte sie ihrer Großmutter.
“Aber Kind!”, sagte diese. “Du kannst doch keine wildfremden Leute mit nach Hause bringen.”
“Er ist mein Großneffe.”, warf Gotthold ein.
So setzten sie sich mit an den Tisch, auch Gotthold wurde es erlaubt, und tranken eine Tasse Tee, als es plötzlich klingelte.
“Wer ist denn das, um diese Uhrzeit? Ob vielleicht Post kommt?”, wunderte sich die Gräfin.
“Es könnte dieser Mann sein, der neulich nach dir gefragt hat.”, fiel Joseph ein.
“Welcher Mann?”, fragte Gotthold.
“Da war so ein Mann, Mitte vierzig, schwarze Haare, ungefähr so groß wie du, würde ich sagen. Er sagte, er sei ein Bekannter von dir und hat mich nach deiner Adresse gefragt, dass war am Freitag, vor der Gaststätte. Er wollte aber nicht reingehen und direkt mit dir sprechen.”
Gotthold wurde blass - beinahe totenbleich - und sah die Gräfin an. “So sah der, den ich gesehen habe auch aus. Mitte vierzig, sagt der Junge!”
“Unsinn. Es gibt massenweise Männer mit schwarzen Haaren.”, erwiderte die Gräfin barsch und tupfte sich die Stirn mit ihrem Taschentuch ab.
“Mutter, was ist denn da los?”, wollte Leonora wissen. Nervös fuhr sich Gotthold mit der zittrigen Hand durchs Haar. Dahin war der exakte Scheitel. Doch das schien niemanden zu stören.
Es schellte ein zweites mal an der Tür, diesmal länger.
______________________________

So bald wie möglich geht es weiter - ich hoffe, es gefällt euch bis jetzt!





Teil 1 Teil 2 Teil 3 Teil 4


© rockundliebe.de - Impressum Datenschutz