Verlorene Jahre - Teil 4

Autor: Sternchen
veröffentlicht am: 06.03.2011


“Sophia, gehen Sie öffnen.”, befahl die Gräfin. Sophia tat wie ihr geheißen. Johanna, Helene, Joseph und Leonora sahen erstaunt von Gotthold zur Gräfin. Beide wirkten außerordentlich beunruhigt.
“Es ist wirklich ein Mann mit schwarzem Haar, er möchte zu Gotthold!”, verkündete Sophia kühl, als sie wieder ins Zimmer kam.

…VOR SECHSUNDVIERZIG JAHREN, JENER ABEND IM KELLER…
“Du bist was?”, flüstert er, kreidebleich im Gesicht.
“Schwanger. Von dir!”, erklärt sie noch einmal.
“Was machen wir denn jetzt? Wenn meine Eltern erfahren, dass ich eine Liebesnacht mit dir verbracht habe, wo wir doch nicht verheiratet sind - sie drehen mir den Hals um! Das tun sie ja sogar, wenn ich einmal Sonntags die Kirche verpasse!”, stammelt er.
“Reg dich nicht auf! Mir erginge es nicht besser. Meine Vater hätte doch niemals zugelassen, dass wir uns überhaupt treffen, hätte er von dir gewusst. Ich soll einen Adligen heiraten oder mindestens einen Anwalt, jemanden mit finanziellen Mitteln und Einfluss. Und ich soll erst recht nicht unehelich schwanger werden!”
“Was machen wir denn jetzt?!”, presst er hervor.
“Ich gehe, wenn ich den Bauch mit Abbinden oder Schnüren nicht mehr verbergen kann, in ein Kloster, unter falschem Namen. Ich lasse mir irgendeine Ausrede einfallen, wohin ich verreise. Dort muss ich das Kind zur Welt bringen. Heimlich.”
Er nickt. “Ich komme mit dir! Wir verstecken uns einfach, für immer, mit dem Kind!”
“Du weißt selbst, dass das nicht möglich ist!”, sagt sie eindringlich.
“Was machen wir dann? Willst du unser Kind im Kloster zurücklassen?!”
“Ich weiß es nicht.” Sie fängt an zu weinen, er hält sie fest.
……………………………………………………………………

“Guten Abend.”, sagte der Mann. “Ich suche nach Gotthold Kramer.”
“Der bin ich.”, krächzte Gotthold. Er wies auf den Stuhl neben sich. Der Mann setzte sich.
“Ich heiße Theodor Wagner und bin auf der Suche nach meinen leiblichen Eltern. Man hatte mir in dem Kinderheim, indem ich aufgewachsen bin, keine Auskunft erteilen können, ich bin ein Findelkind. Aber man konnte mir Ihren Namen und ehemalige Anschrift geben. Ich hatte gehofft, Sie könnten mir weiterhelfen. Vielleicht wollen wir lieber unter vier Augen sprechen, wenn das möglich ist?”, sagte er mit einem Blick auf die sechs anderen Menschen im Raum, die ihn anstarrten.
“Nein, bitte. Es wäre mir sehr wichtig, öffentlich mit Ihnen zu sprechen.” Gotthold bewahrte aufrechte Haltung und sah dem Mann gerade in die Augen.
“Nun gut, wenn die das möchten.”, sagte Theodor Wagner zögernd.
“Wie sind Sie zu mir gekommen?”, fragte Gotthold.
“Schon seit einiger Zeit wünsche ich mir, meine Eltern kennen zu lernen. Zu verstehen, warum sie mich ausgesetzt haben. Wissen Sie, ich bin nie adoptiert worden. Aber die einzige Information, die ich bekam, war, dass ein Gotthold Kramer mich gefunden hatte, mitten auf der Straße in einem Korb, und dann zum Waisenhaus gebracht hatte. Ich hatte auch erfahren, dass Sie damals in Schönfeld lebten, trotzdem habe ich Ihre Adresse nicht herausfinden können. Ich hatte die Suche schon fast aufgegeben, als ich in der Zeitung die Todesanzeige ihres Bruders las. Joseph Kramer, es trauern sein Bruder Gotthold und so weiter… Vielleicht könnten Sie mir noch einmal schildern, wo genau Sie mich gefunden haben? Es wäre meine letzte Hoffnung.”
“Hören Sie mir gut zu.”, sagte Gotthold. “Ich muss ihnen erst noch etwa anderes erzählen, bevor ich Ihnen darüber Auskunft gebe.”
Herr Wagner nickte. Er war verwirrt, aber bereit, den Geschichten eines alten Mannes zuzuhören, wenn er dafür auch nur eine einzige brauchbare Spur erhielte.
“Ich war vierundzwanzig, da lernte ich meine erste große Liebe kennen. Ich und mein Bruder Joseph stammen aus einem sehr konservativen Elternhaus, selbst für die damalige Zeit. Mein Vater, strenggläubig, hätte es nie geduldet, hätte er gewusst, dass ich meine Zeit mit einem Mädchen verbrachte, schließlich waren wir nicht verheiratet. Auch vor ihren Eltern mussten wir unsere Liebesbeziehung geheim halten. Meine Familie war nicht wohlhabend genug, als dass ich ihrer würdig gewesen wäre. Wir trafen uns in der Gastwirtschaft meines Bruders, er war als einziger eingeweiht. Bald kamen wir mit der Geheimniskrämerei nicht mehr klar. Wir trennten uns schweren Herzens. Und als ich sie, drei Monate später, wieder traf, erfuhr ich, dass sie schwanger war. Was also, sollten wir tun? Wir waren jung, ohne Perspektive, hatten von unseren Familien keine Hilfe zu erwarten, wenn herauskäme, dass sie von mir schwanger war. So gingen wir, als ihr Zustand nicht mehr zu verbergen war, in ein Kloster, und verbrachten dort die letzten drei Monate ihrer Schwangerschaft. Sie sagte, sie sei verreist. Ich erzählte meinen Eltern, ich würde eine Lehre zum Bediensteten machen, was ich später tatsächlich umsetzte. So etwas gab es damals. Nachdem sie das Kind bekommen hatte, mussten wir uns endgültig trennen. Sie weinte und ich wusste, diesen Fehler würden wir nie wieder gut machen können.”, Gotthold atmete keuchend aus und sah in die Runde. “Verstehen Sie nun?”, fragte er, an Theodor gerichtet.
“Ja.”, antwortete dieser. “Sie wollen mir sagen, dass es für meine leiblichen Eltern sicher schwer war, mich nicht bei sich zu behalten, wie für Sie und Ihre Freundin damals. Ich werde daran denken. Wo haben Sie mich denn nun gefunden?”, drängte er den alten Mann, der sich an den Kopf fasste.
“Nachdem “meine Freundin”, wie sie sagen das Kind bekommen hatte, sollte sie unbemerkt das Kloster verlassen und nach Hause fahren, ich sollte es mit mir nehmen, unter dem Vorwand, ich hätte es gefunden, in ein Waisenhaus geben, ohne ihm irgendwelche persönlichen Sachen mitzugeben - damit wir nicht entdeckt würden. In dieser Sache habe ich mich allerdings nicht ganz an den Plan gehalten. Ich schrieb den Namen Theodor - Geschenk Gottes - auf ein Papier und legte es in den Korb zu dem Bündel, welches mein eigener Sohn war. Du solltest sehen, wie sehr wir dich geliebt haben. Sieh mich an… du bist mein Sohn.”, nun saß Gotthold da und schluchzte. Die Anspannung der letzten Tage war so plötzlich von ihm gewichen.
Theodor saß stumm auf seinem Stuhl, konnte scheinbar keinen klaren Gedanken fassen. Gotthold stand auf, umarmte seinen Sohn und flehte immer wieder: “Verzeih mir! Bitte, verzeih mir!”
Wie lange hatte er sich gewünscht, seinen Sohn in den Armen halten zu dürfen. Leonora war gerührt von dem Bild, welches die beiden boten, ebenso wie Joseph, Helene und ihre Schwester Johanna. Agnes saß still auf ihrem Platz und zeigte keine Regung.
“Ich verzeihe dir doch. Ist ja gut…”, versuchte Theodor den alten Mann zu beruhigen. Er selbst war völlig überwältigt, konnte es gar nicht richtig glauben, hatte es noch nicht wirklich begriffen. Er wusste nicht, ob er sich freuen sollte oder konnte. Immerhin hatte er sein Leben lang die Wut auf seine scheinbar verantwortungslosen Eltern in sich getragen, doch nun - wo er wusste, das er keineswegs ausgesetzt worden war, und alles aus einer Notlage heraus geschehen war...
“Das Mädchen, ihre- äh, deine Geliebte… Meine Mutter. Hast du sie noch einmal wieder gesehen?”, fragte er schließlich.
Gotthold löste sich von ihm. “Ich denke, wo ich einmal dabei bin, sollte ich die ganze Geschichte erzählen.” Die Gräfin nickte kaum merklich, nur Gotthold nahm es wahr. Er räusperte sich. “Ich war nach meiner Ausbildung bei vielen verschiedenen gut situierten Herrschaften angestellt. Vor fünf Jahren etwa fiel mir eine Anzeige ins Auge. Ich bewarb mich für die Stelle als Angestellter bei Agnes von Allwörden. Meiner Jugendliebe - nein, Jugend ist falsch. Liebe verjährt nicht! Das ist deine Mutter.” Er deutete auf die Gräfin. Erschrocken schlug Leonora die Hände vor dem Mund zusammen.
Theodor begann zu weinen, als seine Mutter aufstand und ihn in den Arm nahm.

…WAS DANACH GESCHAH…
Theodor fand sich schnell mit der Situation zurecht. Es dauerte genau fünf Tage, bis Gotthold zu Agnes in deren Schlafzimmer umzog. Zwei Wochen später brachte Theodor, der von Beruf Arzt war, das Kind seiner Schwester Leonora zur Welt, ein Mädchen namens Luise. Er hatte selbst keine Kinder, kümmerte sich allerdings väterlich um seine Nichten und fand besonders Gefallen an seinem Neffen Joseph.
Theodor hatte Medizin studiert und wurde, als im Winter die Stelle frei wurde, Landarzt für Schönfeld und Umgebung und zog zwei Jahre später ins Haus der Gräfin.
Ungefähr acht Jahre später verlor Gotthold mit achtzig Jahren seinen letzten Zahn, was ihn zutiefst betrübt stimmte.
Helene, die gerade Literaturwissenschaft studierte, erwartete ihr erstes Kind. Joseph hatte sein Gastronomiestudium bereits beendet und wollte das Elternjahr nehmen. In diesen zehn Jahren waren fünf verschiedene Nachfolger für Gotthold eingestellt, aber nach einiger Zeit wieder entlassen worden, da Gotthold befürchtete, sie könnten seiner Agnes schöne Augen machen.


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Ich hoffe, es hat euch gefallen.
Freue mich natürlich über Kommentare.
(ach so: die Geschichte ist zu Ende :D )





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