Zufallstreffer - Teil 4

Autor: Sternchen
veröffentlicht am: 13.01.2011


Am Sonntag mache ich meine Hausaufgaben. Mein Vater ist gerade auf Fortbildung und meine Mutter trägt mir auf etwas für Goethes Gesundheit zu tun.
Ich finde, Goethe macht seine Aufgabe gut. Er lenkt mich ab, wo er nur kann, wenn seine Späße auch manchmal eher auf meine Kosten gehen.
Ich fahre mit dem Bus zu einem nahe gelegenen Wald und mache mit ihm einen dreistündigen Spaziergang. Na gut, ich muss ihn eine dreiviertel Stunde tragen, weil er sich am Ende weigert, auch nur noch einen Schritt zu tun. Aber alles in allem bin ich zufrieden.
~~~
Am nächsten Tag bin ich entschieden weniger nervös als ich erwartet hatte. Der Montag ist zwar bescheuert, wie immer, aber mehr auch nicht.
Nach der Schule gehe ich nach Hause, führe den Hund aus und füttere ihn.
Dann schnappe ich mir meine Tasche, gehe zu Rothmanns, klingele. Und genau da kehrt meine Nervosität zurück.
Louisa öffnet mir. Ich atme tief durch. Von nun an darf ich nicht mehr an Julius denken, ich muss mich voll und ganz auf das konzentrieren, wofür ich eigentlich hier bin. Die Hausaufgaben von Gregor und Louisa.
Obwohl ich mich zwinge, mit den Gedanken bei der Sache zu bleiben, ist da der letzte Rest Panik .
Was mache ich, wenn er jetzt in die Küche kommt?
Aber meine Sorge ist wohl unberechtigt. In zehn Minuten muss ich gehen und er ist noch nicht aufgetaucht. Auch Gregor fällt das auf.
“Komisch… Ich meine, ich bin es ja gewohnt, dass Ju sich den ganzen Tag in seinem Zimmer verschanzt, aber wenn du da bist verlässt er eigentlich immer mal seinen Bunker.”, erklärt er.
“Vielleicht hat er heute viel zu tun.”, sage ich und sehe nach unten, um mein Unbehagen zu verbergen.
Schließlich gehe ich, ohne Julius auch nur von weitem gesehen zu haben. Was mir auch ganz recht ist.
~~~
Auf diese Weise vergehen noch drei andere Montage. Mittlerweile habe ich mich an den Gedanken gewöhnt, ihn nicht zu sehen und habe auch kein Problem mehr damit, zu ihm nach Hause zu kommen. Wenn ich ihn nicht sehe, kann ich im selben Haus sein wie er, ohne ein mieses Gefühl zu haben. Es ist also, als wäre er gar nicht da.
Am vierten Montag jedoch, gerade als ich gehe, also schon auf der Türschwelle stehe, kommt er die Treppe herunter.
“Emilie…”, fängt er an.
“Ich muss, ich meine, äh, ich habe gar keine Zeit!”, rufe ich hektisch und laufe aus dem Haus.
“Hey, ich wollte doch nur kurz mit dir reden!”, ruft er mir noch hinterher. Blödmann. Wie kann er nur mit mir sprechen, nachdem er mich vor vier Wochen so enttäuscht hat. Na gut. Das muss ich mir dann doch eingestehen: Er wusste ja gar nichts davon, dass er mich enttäuscht hat. Er hat dabei ja noch nicht einmal mit mir geredet.
Irgendwie bin ich ja nicht einmal traurig. In den ganzen amerikanischen Liebesfilmen heulen die Frauen erst einmal tagelang, wenn sie verletzt wurden.
Ich bin einfach nur wütend. Auf wen, weiß ich eigentlich gar nicht. Ja, ein bisschen auf Julius, aber nicht nur. Auf mich selbst? Oder auf das andere Mädchen? Das ist ja auch egal.
~~~
Dienstagabend, ich bin gerade dabei, meine Hausaufgaben zu machen, klingelt es an der Tür. In der Annahme, es wären meine Eltern, die irgendwie früher nach Hause gekommen seien, drücke ich auf den Türöffner, öffne die Wohnungstür und setze mich wieder an den Schreibtisch.
“Wie wäre es, wenn du erst mal das Volumen ausrechnest?”, schlägt eine Stimme hinter mir vor. Vor Schreck falle fast von Stuhl. Hinter mir steht Julius.
“Was… machst du hier?”, stammele ich, nachdem ich mich halbwegs von meinem Schreck erholt habe.
Er wird rot. “Tut mir leid, dass ich einfach so in dein Zimmer gekommen bin, aber die Tür war offen und… ich wollte ja mit dir reden und du musstest gestern so schnell weg, und meine Mutter hat ja deine Adresse, wegen der Nachhilfe von meinen Geschwistern.”
Ich nicke nur.
“Also, warum ich hier bin…”, er scharrt ein bisschen mit dem Fuß hin und her. Ich schlage mein Buch zu und sehe ihn an.
“Ich wollte…”, fängt er erneut an. Dann wird er wieder unterbrochen. Winselnd und mit dem Schwanz wedelnd kratzt Goethe an der inzwischen verschlossenen Wohnungstür. Aber jetzt muss er einfach mal ein paar Minuten warten. Ich will wissen, was Julius hier will.
“Ich glaube, dein Hund will raus, Goethe, oder?”, sagt er.
Wir gehen nach draußen, die ganze Zeit spricht keiner von uns beiden ein Wort. Erst, als wir auf der Straße sind und mir die kalte Winterluft ins Gesicht bläst, werde ich wieder klar im Kopf.
“Hat Paula dir gesagt, dass der Hund Goethe heißt?”, frage ich. Um einfach irgendetwas zu sagen, was ihn ermuntert, weiterzureden.
“Du hast es gesagt, als wir uns zum ersten Mal gesehen haben. Das weißt du wahrscheinlich nicht mehr, ich war im Park und - bitte unterbrich mich nicht, das ist jetzt… ziemlich kompliziert also, äh, schwer für mich, also, bitte, lass mich ausreden.”, sagt er und holt noch einmal tief Luft. “Also, ich war im Park und auf einmal kam da dieser Hund angerannt, und wollte mein Bratwurstbrötchen, und hat mir die Hose voll gesabbert. Erst war ich sauer und dann habe ich das Mädchen gesehen, das dem Hund hinterher gerannt ist und irgendwie…, fand ich es ganz gut. Naja. Jedenfalls habe ich gehofft, dich noch einmal zu treffen, aber irgendwie hat es nicht geklappt. Und dann, Monate später sitzt du einfach plötzlich bei mir zu Hause. Ich war total…”, er wedelt mit den Armen in der Luft herum, “… und dann habe ich mir jeden Montag vorgenommen, irgendwie ein Gespräch mit dir anzufangen. Aber ich wusste nie, wie.”, er hat sich richtig in Rage geredet und sieht mich jetzt an. “Dann warst du auch plötzlich bei Paula und ich dachte, so viele Zufälle kann es doch gar nicht geben. Dann habe ich eben allen Mut zusammengenommen und dich gefragt, ob du mit mir ausgehst und du warst so erschrocken. Natürlich war ich erst mal total enttäuscht, dass du das nicht möchtest, also habe ich gesagt, dass ich mit Paula gehen wollte, und dich zusätzlich mitnehme. Ich wollte eigentlich nur dich mitnehmen.”
Ich sehe ihn an und schüttele fassungslos den Kopf.
“Hör mal.”, sagt er noch einmal und schluckt. “Wenn dich das jetzt erschreckt, dann verstehe ich das. Ich wollte nur alles gesagt haben. Du hast ja gesagt: ‘Auch wenn du nicht gewinnst, kannst du dir später wenigstens nicht vorwerfen, du hättest es nicht versucht.’ - Warte bitte noch einen Moment, ehe du etwas sagst. Die Sache ist die: Ich habe mich in dich verliebt, Emilie. Ich wollte nur, dass du es weißt.”
Dann sagt er nichts mehr. Irgendwie verloren steht er da.
“Ich weiß noch, wie wir uns zum ersten Mal gesehen haben.”, sage ich, mit einem Zittern in der Stimme. “Ich habe dich auch gesucht. Und ich habe genau das selbe für dich empfunden. Aber du brauchst mir nichts vorzumachen. Ich habe gehört, wie du zu Emilie gesagt hast, du hättest dich in ein Mädchen verliebt. Vor einem halben Jahr. Magst du sie denn noch?”
“Ja! Auf jeden Fall!”, beteuert er und schaut mir ernst ins Gesicht.
“Auf Wiedersehen, Julius Rothmann. Ich bin kein Ersatz für ein anderes Mädchen, das du nicht haben kannst. So mies hatte ich dich nicht eingeschätzt! Du bist ein riesengroßes Arschloch! Du kannst deiner Mutter ausrichten, dass ich nicht mehr komme. Sag ihr, was du willst. Ich hasse dich!”, ich drehe mich um, damit er mich nicht weinen sieht und laufe so schnell ich kann nach Hause. Was Julius mir hinterher ruft, verstehe ich nicht mehr. Das ist mir aber auch egal.
~~~
Wie konnte er mich nur so enttäuschen.
Wieder klingelt das Telefon. Paulas Nummer erscheint auf dem Display. Ich will aber mit niemandem sprechen. Nur Goethe ist da und tröstet mich.
Schon wieder ruft Paula an. Ich nehme nicht ab. Dann erscheint eine SMS auf meinem Handy.
“Ju ist total fertig, er sagt, du magst ihn nicht?? Warum? Er will dich nicht mehr sehen und mich auch nicht. Was ist da los?”
Ich tippe zurück
“Er wollte mich nur als Ersatz für das Mädchen, was er vor einem halben Jahr kennen gelernt hat. ):”
Keine Minute später erhalte ich die Antwort:
“Wann habt ihr euch das erste mal getroffen, im Park? RECHNE MAL NACH!”
August, September, Oktober, November, Dezember, Januar…
OH GOTT.
Ich schreibe nicht zurück, ziehe eine Jacke über, schnappe mir Goethe und renne zu den Rothmanns. Kein Licht brennt im Haus, niemand öffnet auf mein Klingeln.
Was habe ich nur getan?
In meiner Verzweiflung steige ich in den nächsten Bus, und fahre in den Park. Ich werde ärger bekommen, weil ich nicht rechtzeitig zu Hause bin, aber das ist jetzt auch egal. Es ist immerhin besser, als wenn ich meinen Eltern verheult gegenüber stehen würde.
Im Park ist es ruhig. Nur zwei kleine Jungen spielen Fußball, zwischen zwei Bäumen haben Sie das Tor markiert.
Ich setze mich auf die Bank, auf der vor einem halben Jahr Julius gesessen hat und lasse Goethe von der Leine. Dem Ball jagt er sicher nicht hinterher und weiter weg als bis zum nächsten Mülleimer wird er nicht laufen. Dachte ich.
Auf einmal jedoch ist er verschwunden. Fast kommen mir wieder die Tränen. Ich habe alles kaputtgemacht und nicht einmal Goethe steht zu mir.
Gerade will ich ihn rufen, da höre ich eine warme Stimme von der anderen Seite der Wiese. Sie klingt irgendwie gepresst, trotzdem erkenne ich sie sofort. Auch wenn ich durch die Dunkelheit nicht sehen kann, woher sie kommt.
“Lauf’ nach Hause. Kann man denn nie seine Ruhe haben.”, höre ich ihn sagen.
“JU!”, rufe ich laut. Das Herz schlägt mir bis zum Hals. “Vor einem halben Jahr - es tut mir so leid! - Ich war das vor einem halben Jahr! Es tut mir Leid, dass ich so fies war! Ich habe alles falsch verstanden! Geh nicht weg! Bitte!!”
“Boah, Mann! Geht’s noch peinlicher? Wir wollen hier in Ruhe bolzen!”, beschwert sich einer der kleinen Jungs.
Ich höre nicht zu, laufe einmal quer über die Wiese, bis ich Julius erreicht habe.
“Bist du böse auf mich? Hasst du mich jetzt?”, frage ich mit einem Kloß im Hals, als ich bei ihm ankomme.
“Ich kann dich gar nicht hassen. Ich freue mich.”, sagt er leise.
Sein Gesicht kommt meinem immer näher. Ich sehe noch Goethe, der mittlerweile im Mülleimer sitzt. Egal. Gleich werden wir uns küssen!
Genau in diesem Moment werde ich vom Fußball der beiden Jungs am Oberschenkel getroffen.
“Hey! Kickt mal einer dem Ball zurück?”, schreit einer.
Julius lässt mich los, nimmt Anlauf und tritt so fest er kann gegen den Ball, der an einem Baum abprallt und geradewegs ins gedachte Tor hinein fliegt.
“Zufallstreffer!”, sagt der Knirps abwertend.
Julius lach leise und sieht mir in die Augen.
“Das kannst du laut sagen!”, murmelt er, bevor er sich zu mir herunterbeugt und mich küsst.




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