Zufallstreffer - Teil 2

Autor: Sternchen
veröffentlicht am: 13.01.2011


Jeden Montag, wenn ich seinen Geschwistern bei den Hausaufgaben helfe kommt Julius ein bis zwei Mal in die Küche und holt sich etwas zu essen oder setzt sich für kurze Zeit zu uns an den Tisch und liest oder macht seine eigenen Aufgaben. Wie haben bis auf “Hallo” und “Tschüss” noch nicht mit einander gesprochen, obwohl ich das gern tun würde. Ich weiß einiges über Louisa und Gregor, welche Lehrer sie mögen und welche nicht, wo sie zur Schule gehen, wie die Freunde und Freundinnen heißen. Natürlich versuche ich ab und zu mal etwas über ihren Bruder herauszufinden, doch die Antworten bringen mich kein Stück weiter. Allzu offensichtlich will ich ja auch nicht nachfragen. Bis jetzt weiß ich nur, dass er gut in Chemie und Physik ist und dass er morgens im Bad manchmal mit seinem Spiegelbild spricht…
An diesem Montag mache ich mit Gregor gerade eine Übung für eine Englischarbeit und Louisa versucht, eine Matheaufgabe zu lösen, als Julius in die Küche kommt. Er gießt Kaffee in eine Tasse und setzt sich zu uns an den Küchentisch.
“Mama hat gesagt, du sollst nicht so viel Kaffee trinken.”, wird er von Louisa zurechtgewiesen.
“Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan und darf das jetzt.”, sagt er bestimmt mit seiner weichen Stimme. Er ist so ein Typ, dem man stundenlang zuhören kann, egal, was er sagt.
Da er keine Anstalten macht, mit mir zu sprechen oder mich anzusehen frage ich Gregor weiter Vokabeln ab.
Auch Louisa macht sich wieder an die Arbeit, und kaut angestrengt auf ihrem Bleistift herum. Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass Julius mich ansieht, ja regelrecht anstarrt. Seine grünen Augen durchbohren mich förmlich. Ich bekomme eine Gänsehaut und drehe mich zu ihm um.
Sofort starrt er in seinen Kaffe und rührt beinahe hektisch darin herum.
Wäre er eine Figur in einem Zeichentrickfilm würde er jetzt noch “unauffällig” pfeifen, denke ich. Hätte ich vorhin nicht gesehen, wie er mich angeschaut hat, wäre ich jetzt sicher, er hätte die ganze Zeit nur auf den Kaffee geachtet.
Ich frage Gregor weiter ab, der immer noch fest davon überzeugt ist, das Wort “rule” bedeute “Rollrasen” und beobachte Julius aus den Augenwinkeln. Er blickt noch einige Male zu mir herüber und dann jedes Mal schnell wieder weg.
Ich würde wirklich gern mit ihm sprechen, weiß aber nicht wie.
Irgendwann geht er dann wieder nach oben und für diesen Montag habe ich meine Chance verpasst.

Die restliche Woche zieht sich schleichend dahin. Fast jeden Tag steht eine Kontrolle oder ein Test an.
Ich glaube, Chemie am Mittwoch habe ich völlig verhauen. Während ich schrieb, stand die Lehrerin vor meinem Tisch und sah kopfschüttelnd auf mein Blatt. Ich wurde dadurch so nervös, dass ich das wenige, was ich wusste, auch noch vergas.

Am Freitag bin ich bei Paula zum Übernachten eingeladen. Allerdings fahre ich nach der Schule nicht direkt mit ihr nach Hause, sondern führe noch Goethe aus und hole meinen Schlafsack und das restliche “Zeug” von zu Hause ab. Dann setze ich mich in den Bus und fahre an den Stadtrand, wo Paula wohnt. Beinahe wäre ich wieder eingeschlafen.
Zum Glück muss ich nicht jeden Tag mit dem Bus fahren, sonst würde ich dort wahrscheinlich regelmäßig ein Nickerchen halten, denke ich, als ich gerade noch rechtzeitig aufschrecke und aussteige.
Drei Minuten später klingele ich bei Paula an der Tür.
“Hallo, komm rein.”, begrüßt sie mich, nimmt mir meinen Schlafsack ab und bringt mit mir meine Sachen in ihr Zimmer.
Auf dem Boden in Paulas Zimmer liegen zwei Luftmatratzen.
“Hast du noch jemanden eingeladen oder willst du aus Solidarität auch auf einer Matratze schlafen?”, frage ich sie.
“Ja, deine Matratze habe ich schon gestern Abend in mein Zimmer geräumt. Meine Mutter hat heute Nachmittag die zweite hier hingelegt. Sie hat nämlich meinen Cousin übers Wochenende eingeladen. Ich wusste davon bis gerade eben auch nichts. Aber wenn es dir unangenehm ist, mit ihm in einem Zimmer zu schlafen, können wir die Matratze auch ins Wohnzimmer legen. Das macht ihm sicher nichts aus.”, erklärt sie mir.
“Nein, nein. Für mich geht das schon in Ordnung.”, sage ich. Ich habe einmal bei Paula im Wohnzimmer übernachtet. Im Winter kommt durch die undichte Balkontür Luft und es ist richtig kalt. Das will ich keinem antun. “Ist er denn schon da?”
Paula hat mir einmal erzählt, wie gut sie sich mit ihrem gleichaltrigen Cousin versteht und ich bin gespannt, ihn kennen zu lernen.
“Er sitzt in er Küche und lernt. Morgen macht er bei irgendeinem Wettbewerb mit. Darum ist er auch hier. Meine Tante ist mit seinen Geschwistern zu meinen Großeltern gefahren. Er wollte aber unbedingt hier bleiben, um daran teilzunehmen.”, erklärt Paula.
“Was denn für ein Wettbewerb?”, will ich wissen.
“Keine Ahnung, irgendwas wofür man Grips braucht.”, lacht sie.
Dann gehen wir in die Küche. Mich trifft fast der Schlag. Diesmal kann ich meine Überraschung nicht verbergen. An Paulas Küchentisch sitzt, wie selbstverständlich, Julius Rothmann, alias der Junge mit der Wurst.
Er hat uns noch nicht bemerkt und ist in ein dickes Buch vertieft. Sein brauner Rollkragenpullover ist über und über mit Radiergummikrümeln verziert.
Angestrengt formt er mit den Lippen die Worte, die er liest.
Paula hat nichts von meinem Schock mitbekommen.
“Ju?”, fragt sie leise und als er nicht reagiert stupst sie ihn leicht an die Schulter.
“AH!”, ruft er und zuckt zusammen.
“Tschuldige. Ich wollte dir meine Freundin Emilie vorstellen.”, beruhigt sie ihn und deutet auf mich.
Er sieht mich an und scheint genauso überrascht wie ich.
“Tag.”, stammelt er und legt seinen Stift beiseite. “Na so was.”
Langsam gewinnt er an Fassung zurück und lächelt mich an. Er lacht leise und schüttelt den Kopf.
“Zufälle gibt’s. - Ich bin gleich wieder da. ” Er steht auf und geht in Richtung Badezimmer.
“Was sollte das denn?”, will Paula wissen.
“Das ist große Bruder von den beiden Kindern, denen ich Montags bei den Hausaufgaben helfe”, antworte ich leise.
“Dann sind Gregor und Louise deine Nachhilfeschüler?”, fragt sie verblüfft. Mir fällt auf, dass ich ihr gegenüber tatsächlich nie irgendwelche Namen genannt habe. Ich nicke.
Ihre Augen weiten sich plötzlich: “Moment mal… Heißt das, du bist in JU verknallt?”
“Pssst, nicht so laut.”, flüstere ich hysterisch, aus Angst, Julius könne mich hören.
In diesem Moment steht er wieder in der Tür. “Was gibt’s denn da zu tuscheln?”, fragt Ju, oder Julius, oder der Junge mit der Wurst.
“Nichts. Wir überlegen nur gerade, welchen Film wir nachher ansehen.”, lügt Paula. Sie ist jetzt in der Zwickmühle. Einmal hat sie mir gesagt, dass sie und ihr Cousin sich alles erzählen.
“Ich würde euch ‘Willkommen bei den Sch’tis’ empfehlen. Ich hab’ den mal mit der Klasse auf Französisch gesehen. Das war echt witzig.”
“Nö, den kenn’ ich schon.”, sagt Paula. “Aber ich habe eine andere Idee. Hier um die Ecke gibt es eine Videothek. Mal sehen, ob wir da etwas Gutes finden. - Kommst du mit?”, fragt sie Julius.
“Ne, ich muss das hier lernen.”, sagt er und zeigt auf das Buch.
Paula und ich gehen allein zur Videothek.
Wir besorgen den Film “Nur mit dir”. Zwar kennen wir ihn schon, aber wir finde, dass man ihn ruhig zweimal sehen kann.
Als wir zurück kommen, ist es bereits um sechs und Paulas Mutter, Frau Schneider ist gerade nach Hause gekommen. Sie ist noch recht jung, hat die selben blonden Haare wie ihre Tochter und ist stets korrekt gekleidet.
“Na, was macht ihr heute noch?”, fragt sie, nachdem wir das Abendbrot vorbereitet haben und nun beim Essen sitzen.
“Also ich mach’ jetzt Schluss mit lernen.”, stöhnt Julius. Und rauft sich die strubbeligen, dunklen Haare. “Mir platzt der Schädel!”
Paula lacht. “Du kannst mit uns den Film ansehen” Sie zwinkert mir unauffällig zu.
“Klar.”, sagt er und beißt in sein Käsebrot.
Nach dem Abendbrot setzen wir uns vor den Fernseher im Wohnzimmer. Paula schiebt die DVD in das Fach unter dem Bildschirm und wir machen es uns auf dem Sofa gemütlich.

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Ich hoffe, es gefällt euch bis jetzt. Eine übersichtliche Charakterbeschreibung der Figuren gibt es so schnell wie möglich im letzten Teil.





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