Angel - Teil 2

Autor: Rehaugenfrau87
veröffentlicht am: 24.10.2011


Lilian’s erster Termin an diesem Tag fand ohne Besitzer statt. Er hatte den Schlüsse und die Daten der Alarmanlage bei ihrer Aushilfe Anke hinterlegt, und das war’s. Lilian kannte derartiges Verhalten. Es war immer dasselbe. Ehe im Eimer. Scheidung im Gange. Und irgend jemand wollte entweder Profit oder seine Ruhe.
In diesem Fall ging es um eine Altbauvilla in Wiesbaden in der Nähe Kurparks. Bereits an der Einfahrt durch das geschnörkelte Tor erkannte ihr geübter Blick, dass der Vorgarten die pflegende Hand eines Gärtners schon eine lange Weile entbehrt hatte. Sträucher und Büsche, die bereits längst hätten gestutzt werden müssen schossen unbekümmert in die Höhe. Der Rasen war zwar gemäht worden. Auf eine lieblose Art, die ahnen liess, dass die Person mit dem Rasenmäher es eilig hatte, ihr Samstagsbierchen und die Sportschau zu geniessen.
Lilian wusste, dass ihre Gedanken rümpfnasig und voreingenommen waren, aber es war Montag. Ein ungeficktes, verregnetes Wochenende lag hinter ihr, und es war ja klar, dass ausgerechnet heute die Sonne vom Himmel kotzen musste.
Auf jeder Stufe der Treppe, die zur Haustür führte standen Pflanzkübel. In keiner wuchs irgendetwas außer vielleicht etwas Moos und einige Spinnweben. Laub vom letzten Herbst hatte sich in den Ecken gesammelt und den Verwesungsprozess verzögert.
Sie betrat die Licht durchflutete Eingangshalle, eine geschwungene Treppe führte in das obere Stockwerk. Ihre Absätze klackerten auf hochwertigem Terracotta, das in erstaunlich liebevoll restaurierte, schimmernde Dielen überging, als sie den Raum zu ihrer Rechten betrat.
Ihr geübter Blick registrierte alles. So auch die sehr geschmackvolle, sehr teure Hand einer Frau, die über einen sehr guten Raumausstatter verfügt haben musste. Doch augenscheinlich wurde das Haus zur Zeit nur von einem männlichen Single bewohnt. Und zwar von einem, der weder etwas von einer Putzhilfe hielt, noch von diesen Möbeln, die man Schränke nannte und die dazu dienten Kleidungsstücke, Geschirr und Sonstiges aufzubewahren. Lilian empfand es als Ignoranz einen Makler zu bestellen und dann ein Haus zu präsentieren, dass ungefähr so heimelig war wie der Besuch einer öffentlich Toilette. Auch hier flüsterte ihr das Engelchen auf ihrer Schulter zu, dass nur ihre vernachlässigte Libido, sowie ihre Montagsphobie diese bösen, bösen Gedanken produzierten.
Sie schiss auf das Engelchen. „Herrje, Typ,“, murmelte sie auf dem Weg zur Küche, „woher hast du nur die Kohle für so eine Hütte? Verdienen Bullen so viel? Vielleicht hatte deine Alte die Kohle und du vermutlich den besten Jonny seit es Orgasmen gibt.“ In der Küche wiederum kam sie aus dem Staunen nicht mehr raus. Nicht nur, dass sie peinlich sauber war und topmodern ausgestattet.
Die Lebensmittel im Kühlschrank waren alle frisch, gesund und mit Sicherheit nicht von Aldi & Co. (Lilian schaute immer in die Kühlschränke ihrer Kunden.) In ihrem eigenen dämmerte ein Eisbergsalat, dumpf beobachtet von ein paar Scheiben Schinken und einer bestimmt sauren Flasche Milch, seinem baldigen Verfall entgegen. Der Mann kochte! Na, toll.
Im oberen Stockwerk gab es insgesamt fünf Zimmer, zwei davon waren völlig leer, jedes der beiden verfügte über einen Balkon. Es gab ein gemeinsames kleines Bad mit einer Dusche. Ein weiteres , ebenfalls topmodernes und absolut sauberes Bad grenzte an das Zimmer, das Lilian als Schlafzimmer des Eigentümers identifizierte. Ein Haufen Kleidung, vermutlich der der letzten zwei Wochen, türmte sich auf der Seite des Bettes, in die ihr Auftraggeber wohl ins Bett zu steigen pflegte. Mehrere Wasserflaschen formierten sich auf und neben dem Nachttisch. Bis auf eine waren alle leer, einige bereits stumpf vor Staub. Immerhin schien die steingraue Bettwäsche frisch zu sein. Lilian erkannte am Geruch, dass sie und der Mann den gleichen Weichspüler benutzten.
Sie blieb nicht länger als notwendig in dem Schlafzimmer, aber allein, dass sie die Besichtigung dieses Raumes bewusst nicht hinauszögern wollte, machte klar, dass sie es vielleicht getan hätte.
Als sie die Tür zum nächsten Raum schwungvoll öffnen wollte, knallte das Türblatt bereits nach wenigen Zentimetern gegen einen Widerstand. Sie stemmte die Schulter dagegen. Es war dämmerig in dem Zimmer und es roch süsslich, muffig. Die Jalousien waren heruntergelassen, sie musste Licht machen. Früher musste dieser Raum ein Arbeitszimmer gewesen sein. Nachdem Lilian sich durch die schmale Türöffnung gezwängt hatte, erkannte sie Schreibtisch und Sessel an die Wand geklatscht, als hätte jemand gewaltsam Platz geschaffen, um... Sie übersah alles mit einem schnellen Rundblick... um, die Reste einer Ehe darin unterzubringen. Ob Tischlampen, Gemälde, ob Dekoration oder sogar ein Regenschirm mit Tweety-Motiv. Lilian erinnerte sich auf dem Gang durch das Haus immer wieder Lücken in der Einrichtung und der Dekoration registriert zu haben, Lücken, die keinen Sinn machten im Auge des Betrachters.
Es war alles hier. Auch Dinge, die offensichtlich einem kleinen Mädchen gehören mussten. Dem Mädchen auf dem Foto in dem Silberrahmen. Die Frau neben ihm war von dunklerer Hautfarbe, sah beinahe aus wie Halle Berry und strahlte die Kleine an, die stolz einen Pokal in die Höhe hielt.
Lilians Handy gab zwei piepende Töne von sich. Der nächste Termin stand bald an, sowie ein Anruf bei ihrer Mieterin.
Gut, sie war eh hier fertig. Dennoch musste sie diesen Kunden anrufen. Bevor hier Besichtigungstermine stattfinden konnten gab es noch einiges zu tun.






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