Angel

Autor: Rehaugenfrau87
veröffentlicht am: 23.10.2011


„Wirst du immer bei mir bleiben? Mein Engel, mein Grosser, mein König?“
“Ja, immer,“
“Auch dann, wenn ich blöd bin?“
“Besonders dann.“


Das erste, das die Königin spürte, als sie das Licht der Welt erblickte, war ein kühler Luftzug. An ihrem Arsch.
De facto sah er das Licht als Erster. Bezeichnend für den Rest ihres Lebens kam die Königin mit dem Arsch zuerst auf die Welt. Um ihr gleich zu zeigen, wie sehr selbige sie mal konnte.

Ich wurde im Jahr des Feuerpferdes geboren. Sehr viel später erfuhr ich, dass in China und Japan die Geburtsjahre von Mädchen um ein Jahr vor oder ein Jahr nach hinten verschoben wurden. Denn Frauen, die im Jahr des Feuerpferdes geboren werden sind. Ja, sie sind. Und eben darum schwierig, unbezähmbar und insbesondere unbesitzbar. Eigenschaften, die in Asien für eine erhöhte weibliche Singlerate sorgen. Aber ich kam hier auf die Welt.
Was „die Dinge“ nicht wirklich einfacher macht. Aber zumindest machbar. Im Sinne von: Sie geschahen.

Meine erste Erinnerung beginnt dort, im ersten Moment, in dem ich dachte. In Worten. Damals wurde mir die erste Person Singular bewusst. Und. Dass ich sie war. Ich war zwei Jahre alt.



Nach einem langen kalten Winter war dies der erste Tag, an dem die Sonne schien. Von einem blauen Himmel herab. Zum ersten Mal war die Temperatur bereits am Vormittag auf 20 Grad gestiegen. Grund genug, gute Laune zu haben. Grund genug, das Grau in den Schrank zu hängen.
Grund genug,tief einzuatmen und die Wärme, den Frühling hungrig in jede Faser einzusaugen.

Samuel Burg stolperte unmotiviert den Hang hinab. Eine kurze Nacht hinter sich, keine Zeit, sich zu rasieren. Sein langjähriger Kollege und Freund erwartete ihn, hielt ihm den typischen Pappbecher mit der geschmacklosen Brühe hin.
“Sie... bzw. Teile von ihr liegen dort unten.“, die unvermeintliche Zigarette wies diffus auf die Gleise vor ihnen.
“Der Rest?“, Sam sparte sich das Danke und nahm einen widerwilligen, wenn auch notwendigen Schluck von der schwarzen lauwarmen Brühe.
“Sie sammeln gerade die Beine ein. Dort hinten.“, die Kippe deute gen zwei von der medizinischen in weissen Müllsäcken. Die Beine kamen in eine blaue.
Sam ignorierte Franks prüfenden Blick.
“Und was sollen wir hier?“
Kaum ausgesprochen bereute er die Frage bereits. Allein die Tatsache, dass er hier war, bedeutete, dass es sich hier nicht um einen Suizid handelte.
Er hatte keinen Bock. Nicht heute. Frank wusste das. Er wusste auch, was notwendig war, damit Sam Blut leckte.
Jemand hatte ein Kissen unter den Kopf der Toten gelegt. Und eins unter ihren Po. Ihre Arme waren hoch über ihren Kopf gereckt. Die Finger der rechten Hand lagen behütet in der linken, die zu einer Faust geschlossen war.
Was Sam sah wirkte wie eine dieser Ballerinas auf den Spieluhren. Ihre Haut war extrem hell und bestimmt sonnenempfindlich, ihr Haar lang, dunkel, sehr dunkel. Bitterschokolade.
Beim Anblick ihres Gesichts hätte Sam am liebsten gekotzt. Es war kindlich. So sehr.
Hohe Wangenknochen, feine weich geschwungene Augenbrauen und ein Mund. So rot.
Er trug keine Handschuhe. Dennoch wischte er mit dem Daumen. Über diesen Mund. Es gab keine Spuren.
Ich stelle mir vor, wie ich zu einem anderen Zeitpunkt über diese Lippen wische. Sie reagieren. Auf meinen Daumen. Saugen. Ihn ein. Beissen.
Nichts geschah, ausser dass Sam blendend weisse Zähne sehen konnte.
“Sam.“ Peter hielt ihm die Handschuhe hin. Reiss dich zusammen, sagte sein Blick.
Sam erfüllte seinen Wunsch. Er wollte die Augen sehen, die Iris. Wäre sie Schneewittchen gewesen, er hätte sie wachgeküsst. Sie wachküssen wollen. Aber. Ihre Beine waren fort. Und dort, wo ihr Becken hätte sein sollen lag ein Wust von bläulichen Gedärmen auf dem Schotter. Zwischen den Gleisen.
“Sie sind dunkelbraun, wetten?“, nichts was Sam tat, in diesem Moment, hatte irgendetwas mit Ermittlung zu tun. Peter war schon froh darüber, dass er überhaupt anwesend war.
Ihre Augen waren gelb. Nein, bernsteinfarben. Wenn das besser klingt. Sie hatten die Farbe von Honig. Und ihre schwarzen Wimpern waren lang. Sehr lang.
“Ich habe einen toten Engel hier.“, hörten die von der Gerichtsmedizin Sam’s zornige Stimme.
Und sie brachten ihm... die Beine.






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