Das Geschenk

Autor: Jayuu
veröffentlicht am: 07.10.2011


„...Also überlegen Sie sich gut, was Sie studieren wollen. Ihre Hausaufgabe ist für die nächste Stunde die selbe, wie auch für heute. Informieren Sie sich auf der angegebenen Internetadresse über einzelne Berufe und notieren Sie, was Sie interessiert. Ich möchte diese Liste nächste Woche von Ihnen sehen und erwarte spannende Ergebnisse. Schönes Wochenende!“
„Oh mann, das habe ich doch schon längst getan und bin mir eigentlich schon ziemlich sicher, was ich machen möchte. Muss ich diese Liste trotzdem durchgehen?“, fragte sich Mia. „Schreib doch einfach alles auf, was du dort zu dem Thema 'Medizin' findest. Schadet dir ja auch nicht“, meinte Ayumi, Mia's beste Freundin.
Sie waren beide im elften Jahrgang des Ulrich-Hoffman-Gymnasiums. Noch drei Semester und sie hätten ihr Abitur in der Tasche.
„Uff, ich bin so kaputt, 10-Stunden-Tage sollten abgeschafft werden. Vor allem an einem Freitag! Und jetzt muss ich auch gleich noch zum Arzt...“
„Wieso musst du denn zum Arzt?“, fragte Ayumi Mia erstaunt.
Doch diese grinste nur. „Ich habe dir doch erzählt, dass ich in den Ferien ein Praktikum im Krankenhaus machen werde und dafür brauche ich eine Bescheinigung, dass ich nicht krank bin.“
„Ach soo...“, meinte Ayumi nur.
„Naja, ich muss jetzt wirklich los, ich brauche den Termin. Wir sehen uns dann morgen, ja?“, fragte Mia und verabschiedete sich.
Sie ging zu Fuß nach Hause, legte ihre Tasche ab, sah noch einmal in den Spiegel und puderte sich die Nase nach. Dann nahm sie sich eine kleinere Tasche, packte ihr Portemonnaie ein und ging los.

Als Mia sie Praxis betrat, hörte sie plötzlich eine bekannt Stimme. „Ach, hey Mia! Was machst du denn hier, bist du krank?“ Sie sah sich um und entdeckte Valentina, ihre Cousine, die dort als Arzthelferin arbeitete.
„Hallo Valentina! Nein, ich bin nicht krank. Und dafür brauche ich eine Bescheinigung. Du weißt schon, für's Krankenhaus.“
„Ach so, na dann ist ja gut“, meinte Valentina erleichtert. „Willst du zu Herrn oder zu Frau Doktor?“
„Ist mir egal.“
„Gut, dann setz dich, es kann noch 'ne Weile dauern“, dann verschwand Valentina.
Mia setzte sich auf die gepolsterten Ledersessel, schnappte sich eine Zeitschrift und blätterte.
„Frau Marois, bitte?“, ertönte eine freundliche Stimme. Mia stand auf. „Hallo, Frau Marois. Folgen Sie mir einfach“, sagte die nette Frau, setzte sie in ein Behandlungszimmer und ließ sie erst einmal allein. Zehn Minuten später kam dann der Arzt und schüttelte Mia die Hand. „Hallo Mia, ich bin Doktor Rosner. Was kann ich für dich tun?“, fragte dieser.
Er war groß, mit etwas längeren, dunklen Haaren, knapp über 30 und hatte schöne, dunkelbraune Augen. Mia verschlug es erst einmal die Sprache. Doch bevor sie sich fangen konnte, sagte der Arzt „Du hast ja strahlend blaue Augen!“ Das machte Mia noch mehr sprachlos und der ausgesprochene Gedanke war nun auch dem Herrn Doktor unangenehm, denn er entschuldigte sich und fragte erneut, was Mia denn hätte.
„Ich brauche für ein Praktikum ein Attest vom Arzt, dass ich gesund bin“, sagte Mia. Der Arzt schien irritiert.
„Okay... Darf ich mal fragen, wo du denn dein Praktikum machst?“, er lachte. „Tut mir Leid, aber ich hatte noch nie so einen Fall, dass jemand für ein Praktikum ärztlich nachweisen musste, dass er gesund ist.“
„Im Krankenhaus“, sagte Mia nur und lächelte zurück.
„Ach so, die vom Krankenhaus... Die sind immer etwas pingelig.“ Er tippte etwas in den Computer ein. „So so, eine Bescheinigung, dass du nicht krank bist...“, murmelte er vor sich hin. Dann wandte er sich wieder an Mia. „Würdest du denn sagen, dass du krank bist?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, eigentlich nicht.“
„Ich muss dich trotzdem einmal abhören und in deinen Mund gucken“, beschloss der Arzt und holte ein Holzspatel aus dem Becher auf dem Schreibtisch. Er schaute ihr ungewöhnlich lange in den Hals und forderte sie zweimal auf „Ah“ zu sagen. Als er fertig war, grinste Mia und fragte „Wollten Sie mich gerade ein bisschen ärgern?“
Der Arzt lachte. „Ganz ehrlich? Ja wollte ich.“
Jetzt lachte auch Mia. „Und wie lange wollen Sie mich gleich abhören?“
„Das könnte auch etwas länger dauern.“
„Oh bitte nicht, diese Stethoskope sind immer so kalt auf der Haut.“ Der Doktor lächelte nur.
Mia zog ihr Oberteil hoch, damit der Arzt zum Abhören an ihren Rücken kam. Sie zuckte zusammen, als das kalte Stethoskop ansetzte, doch sie fühlte auch die warmen, sanften Finger des Arztes um das Metall herum. Seine andere Hand ruhte auf ihrer Schulter. Langsam versetzte er das Stethoskop immer an eine andere Stelle. Als er fertig war, war Mia froh, endlich ihr Oberteil runter ziehen zu können und setzte sich auf den Stuhl neben dem Arzt.
„Hmm, und wie schreibe ich das jetzt auf?“, fragte sich dieser.
„Das weiß ich nicht, Sie sind der Doc“, sagte Mia.
„Oh nein, tut mir Leid, das war keine Frage an dich“, meinte er etwas beschämt.
„Ich weiß.“
„Tut mir Leid, ich neige manchmal dazu, Gedanken laut auszusprechen. Das hast du bestimmt schon gemerkt.“
„Das ist doch gar nicht schlimm...“, meinte sie.
Der Arzt wandte sich nun voll zu Mia und sah ihr ins Gesicht. „Du hast blaue Augen!“, sagte er.
Sie wurde verlegen. „Tja, das ist wohl 'ne genetische Tatsache...“, stammelte sie. Er wandte sich wieder ab und tippte im Computer herum.
„Ich dachte, es ist gar nicht schlimm, wenn ich meine Gedanken ausspreche. Deine Augen sind blau, das habe ich gedacht“, grummelte er vor sich hin.
Mia sah ihn an und lächelte. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, deshalb schwieg sie lieber. Nach einer Weile ertönte dann das Geräusch des Druckers und der Arzt grinste triumphierend. „Endlich habe ich den Text fertig, sowas zu schreiben lag mir noch nie. Das Krankenhaus hätte ruhig einen Vordruck mitgeben können, dann wäre das ganze viel einfacher gewesen.“ Er nahm den Zettel aus dem Drucker und gab ihn Mia. „Möchtest du Krankenschwester werdn?“, fragte er sie.
Mia schüttelte den Kopf. „Nein, das ist nichts für mich, ich wollte eher in die Chirurgie“, sagte sie.
„Also dann eher OP-Schwester oder OP-Assistentin?“, fragte er weiter. Sie schüttelte erneut den Kopf.
„Nein, Chirurgin. Ich will Medizin studieren.“ Der Arzt machte große Augen.
„Wow, das ist ja... toll!“, staunte er.
„Ja. Wo ich doch die Gelegenheit habe, mit einem Arzt zu sprechen, könnten Sie mir vielleicht helfen? Denn ich habe noch so einige Fragen offen...“
„Natürlich, aber ich habe jetzt leider keine Zeit mehr, ich habe noch eine Menge Patienten im Wartezimmer und eigentlich schließen wir ja um sieben.“ Mia guckte enttäuscht.
„Ich schreibe dir aber mal meine private E-Mail Adresse auf, dann kann ich deine Fragen schriftlich klären, oder ich lade dich mal am Wochenende auf einen Kaffee ein. Das ergibt sich dann“, sagte er aufgeregt. Er kritzelte etwas auf einen Zettel.
Mia lächelte. „Kann ich das dann auch lesen?“ Er lachte.
„Na, das hoffe ich doch!“ Er zeigte ihr den Zettel und fragte „Und, kannst du das lesen?“ Sie kniff die Augen zusammen und versuchte die Schrift zu entziffern.
„Okay, ich kann's lesen“, lachte sie schließlich.
„Schön Mia, dann wünsch ich dir noch einen schönen Tag. Man sieht sich“, verabschiedete er sich. Mia war inzwischen auch aufgestanden.
„Danke, das wünsch ich Ihnen auch. Und ein schönes Wochenende. Tschüss!“ Sie wollte gerade die Tür öffnen, da rief der Arzt noch „Ach, und Mia?“
„Ja?“, fragte sie irritiert.
„Du hast blaue Augen“, sagte er ernst. Sie lächelte und verschwand hinter der Tür.

Der Arzt ließ sich wieder auf seinen Stuhl fallen und seufzte. „Was hab ich mir denn dabei gedacht? 'Ich lad dich auf einen Kaffee ein' und 'du hast blaue Augen'. Das Mädchen ist erst 18 Jahre alt und will sicher nichts von einem hässlichen, alten Sack wie dir!“, er haute mit der Faust auf die Tischplatte und verließ das Zimmer. Dann sah er Mia, wie sie sich vorne über den Tresen beugte und sich angeregt mit Valentina unterhielt. Er blieb stehen und musterte sie. „Gott, ist das Mädchen hübsch“, dachte er sich noch und ging dann auf den Tresen zu. Valentina und Mia bemerkten ihn und sahen ihm entgegen.
„Ihr kennt euch?“, fragte dieser, als er vor ihnen stand. Valentina lachte.
„Das ist meine Cousine Mia!“ Auch Mia lachte.
„Ach, so ist das!“, er lächelte.
„Kann sie noch für die nächste halbe Stunde, bis Feierabend bleiben? Ich nehme sie dann nämlich mit nach Hause“, fragte Valentina nach kurzem Zögern.
„Natürlich! Du kannst unserer angehenden Ärztin dann auch gleich die Praxis zeigen, wenn sie möchte“, sagte er und zwinkerte Mia zu. Dann nahm er sich eine Akte vom Tisch und ging.
„Was hast du denn mit dem gemacht, sonst ist er nie so gut drauf!“
Mia hob die Augenbraue. „Wirklich? Ich kann mir bei dem gar nicht vorstellen, wie er denn anders sein sollte. Keine Ahnung, ich war einfach ganz normal.“ Valentina zuckte mit den Schultern und dann zeigte sie Mia gleich die Praxis.

Dr. med. Yves Rosner versuchte sich auf seine Patienten zu konzentrieren, doch immer, wenn er durch den Flur von Patient zu Patient ging, traf er Valentina und Mia. Er hatte keine Frau oder Kinder, doch genau das wünschte er sich allmählich. Nur war Mia dafür natürlich nicht die Richtige. Er war fast 31 Jahre alt und sie gerade mal 18! Wie soll das passen? Dieses Mädchen will doch auch überhaupt nichts von ihm. Sie hatte ihn gar nicht nötig, denn so hübsch wie sie war, konnte sie jeden haben.
Erneut versuchte er, sich Mia aus dem Kopf zu schlagen. Festen Schrittes ging er auf das Labor zu und öffnete die Tür.
„Mia, was machst du denn da?“, lachte er, als er Mia mit einem Lappen und einem Instrument in der Hand da sitzen sah.
„Mir war langweilig nach der 'Führung' und da hab ich Valentina gesagt, sie sollte mir eine Beschäftigung geben. Und ja, jetzt sitze ich hier und desinfiziere die Instrumente.“ Sie lachte. Der Mund des Arztes verzog sich zu einem warmherzigen Lächeln.
„Mia, hättest du vielleicht schon morgen Abend Zeit? Ich meine, wegen deiner Fragen.“
Mia blickte hoch. „Oh, tut mir wirklich Leid, aber ich bin das ganze Wochenende über nicht da. Ich würde wirklich gerne! Ich hätte das nächste Wochenende Zeit, wenn Sie können?“ Yves starrte auf den Boden. Natürlich, wie hätte er denken können, dass sie schon morgen Abend Zeit für ihn hätte. Das Mädchen hatte andere Freunde und andere Beschäftigungen, als ihn.
„Alles in Ordnung?“, fragte Mia. Er nickte. Dann sah er ihr fest in die Augen.
„Nächste Woche wäre gut. Den Rest können wir ja per Internet klären.“ Dann schnappte er sich einen Zettel von der Arbeitsplatte, drehte sich um und verließ den Raum und Mia sah ihm nach.





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