Schwesterchen

Autor: JaDe
veröffentlicht am: 09.09.2011


Ich konnte es immer noch nicht fassen, dass sie nie wieder kommen würde. Das ich schuld an ihrem Tod war. Hätte ich nur eine Sekunde schneller reagiert... vielleicht würde sie jetzt noch leben. Helena war nur wenige Minuten älter als ich. Wir waren mehr als nur Seelenverwandte oder Schwestern. Wir waren eins. Ohne die andere konnte keine von uns existieren. Ohne die andere waren wir nichts.
Das wahrscheinlich auch der Grund warum man uns nur im Doppelpack antraf. Selena und Helena, die siamesischen Zwillingsschwestern... so hatten sie uns getauft. Schon alleine die Namenskonstellation war einmalig. Shelena war auch eine beliebte Wortwahl, wenn man von uns sprach. Doch jetzt gab es keine siamesischen Zwillingsschwestern mehr... und auch kein Shelena... Jetzt gab es nur noch Selena... ohne Helena!
Am schlimmsten war aber, dass ich am nächsten Tag zur Schule musste. Ja, ich musste. Ich hielt es zu Hause nicht mehr aus. Es war alles so leer... so anders.
In der Schule wusste niemand was passiert war. Niemand wusste, dass Helena nie wieder kommen würde.

Jemand hakte sich bei mir ein. Bianca. „Na, Sel, wo ist denn deine bessere Hälfte? Krank kann sie ja nicht sein. Gestern war sie ja noch kerngesund und du bist ja auch...“ Mein Gesichtsausdruck ließ sie verstummen. „Sel, was ist los?“ „Helena kommt nicht wieder.“ Es klang so kalt. So abgefertigt. Als hätte meine Schwester mir nichts bedeutet. Maren gesellte sich zu uns. „Hey Sel, wo...“ Bianca gebot ihr zu Schweigen. Ich wunderte mich, Maren schwieg nie, wenn man es von ihr wollte. Okay, sonst auch nicht. „Wieso kommt Helly nicht wieder?“ „Weil sie tot ist.“ Wieder klang es, als ob Helena mir nichts bedeutete.
Jeder normale Mensch würde weinen, um sich schlagen oder zumindest in irgendeiner Form trauern. Doch ich fühlte mich einfach nur leer. Als würde ich nicht existieren. „Nein!“ sagte Bianca. Sie zitterte und war leichenblass. Maren weinte. Die Tränen perlten von ihrer Wange. Wieso konnte sie weinen?
Ich ließ sie einfach stehen. Ich lief in die Klasse und ließ mich neben Angel fallen. Angel war wohl der verrückteste Typ der ganzen Schule. Ich war durch Zufall neben ihm gelandet. Ein Versuch mich und Helena zu trennen. Hatte dann ja wohl wunderbar geklappt, was?

Angel war eine Art Punk. Er trug meistens zerrissene Jeans und seine Ohren waren über und über gepierct.
Der Lehrer trat ein. Kurz und knapp ging er die Anwesenheit durch. Wie in Trance ließ ich die Namen an mir vorbei rauschen. „Helena Moreno?“ Ich sah erschrocken auf. Hatten Mama und Papa nicht mal den Lehrern Bescheid gesagt? „Selena, wo ist deine Schwester?“ „Sie...“ Ich starrte ihn immer noch an. Dann sprang ich auf und rauschte aus dem Gang. Jemand folgte mir und dieser jemand rief meinen Namen. Bald hatte er mich eingeholt und brachte mich zum stehen. „Selena, was ist los?“ Es war Angel. „Helena ist tot...“ stellte ich fest. Seine blaugrünen Augen musterten mich. Wie schon so oft. Ich kannte sie ganz genau. Dann wurde mir bewusst, wer da war. „Angel!“ „Ich seh schon mein schlechter ruf eilt mir voraus.“ „Wieso bist du hier?“ „Ich wollte nach dir sehen...“ Ich musterte ihn misstrauisch. „Bianca hat grad erzählt, was mit deiner Schwester ist...“ „Ich weiß nicht, wie ich es ohne sie schaffen soll...“ „Das wird schwer... aber du schaffst das. Ich werd dir helfen.“ er hielt mir die Hand hin. Ich ergriff sie. In der Klasse trafen mich mitleidige Blicke. Angel und ich setzten uns stumm auf unsere Plätze.
Die nächste Tage waren die Hölle. Alle taten so, als wäre ich todkrank und fassten mich mit Samthandschuhen an.

Am Tag von Helena´s Beerdigung erstickten wir in Beileidsbekundungen. Ich stand in meinem Zimmer und betrachtete ein Bild von Helena und mir. Es klingelte. „Selena? Für dich!“ Ich ging nach unten. „Hi!“ drang es zu mir hoch. „Angel?“ Ich sah an ihm herunter. Er trug eine schwarze Hose- ohne Risse und einen schwarzen Blazer. „Danke.“ flüsterte ich und lächelte. „Das du endlich wieder lächelst ist Dank genug.“

Kurze Zeit später stand ich vor dem Sarg meiner Schwester. „Sie sieht aus, als ob sie schliefe.“ murmelte ich und Angel legte mir eine Hand auf die Schulter. „Ciao, Schwesterchen!“ flüsterte ich und gab ihr ein Kuss auf die eiskalte Stirn. Dann war es als wären alle Dämme gebrochen. Die Tränen, die ich seit Helena´s Tod nicht weinen konnte, kullerten nun ohne Unterlass. Angel drehte mich zu sich um und nahm mich in den Arm.
Der Rest dieser Beerdigung schwamm an mir vorbei. Ich lehnte mich schluchzend an Angel´s Schulter. Wie viel Gold der Typ doch wert war.





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