Häutungen02

Autor: Rehaugenfrau87
veröffentlicht am: 11.07.2012


Scheisszigaretten. Ist das erste, das mir durch den Kopf schiesst.
Sie liegen neben mir auf dem Beifahrersitz. Zwei Schachteln. Big Pack. Sie sind der Grund, warum ich losfuhr. Warum ich verliess, wo mir DAS nicht passiert wäre, und wohin ich gerade zurückfahre. Ich komme nicht an.

Die Schachteln neben mir rühre ich nicht an. Ich will zuhause eine rauchen. Bei einem starken Kaffee. Und draussen. Weil die Sonne scheint. Weil es ein grandioser Frühsommertag ist, und das das einzig grandiose. Heute.

Hier ist 30iger Zone. In einem Wohngebiet, das überall hätte sein können. Ca. 400 Meter trennen mich von dem Garten, dem Tisch, dem Kaffee, den Zigaretten.
Ich muss bremsen, um jemanden vorbeizulassen. Hier herrscht rechts vor links.
Die Gangschaltung murrt, als ich den ersten Gang einlege, um wieder anzufahren.
Ich kenne die Strasse, ich kenne den Weg. Darum sehe ich nichts.
Als der Mann die Fahrertür aufreisst, sehe ich auch ihn nicht. Er kam in meiner Planung nicht vor. War nicht Teil davon. Meine Verblüffung dauert viel zu lange… Seine Erscheinung tropft in mein Bewusstsein.
Unfassbar schön. Ist der erste Gedanke, als ich ihn realisiere. Mit der geschlechtslosen Wahrnehmung in mir, einer klinischen. Ein Gemälde. Ein Naturspektakel.
Weniger spektakulär, wenngleich auch weniger schön, ist die Pistole in seiner Hand.
Ich wusste ja bereits beim Aufwachen, dass heute nicht mein Tag ist, aber musste es gleich so dicke kommen?
„Sylvia. Raus aus dem Auto. Du kommst sofort rein!“
Mein Name ist Syliva nicht. Das scheint auch er plötzlich zu erkennen. Eine Sekunde lang ist er auf wütende Art verwirrt. „Sylvia!“. Er fasst nicht, dass ich es nicht bin. Entscheidet, dass ich es zu sein habe.
Zu seiner Faust in meinen Haaren gesellt sich der Mündungslauf an meiner Halsbeuge.
Dort reisst es, da bohrt es. Ich reagiere wie jede Frau, die nicht sicher ist, ob sie Unterwäsche trägt, frisch pedikürt, die Bikinizone haarlos ist – und so nicht unbedingt auf einem Seziertisch landen will. Ich gebe Gas. Drücke das Gaspedal durch. Sehe mich bereits halb skalpiert und mit Streifschuss versehen im Garten sitzend, den Becher Kaffee in zittrigen Händen und denkend: Mann, Mann, Mann…..
Ich schaffe das schier Unmögliche: Der Motor säuft ab. Blobb. Weg.

In einem Quartal fahre ich 250000 Kilometer. Bei Wind und Wetter. Ich kenne die Strassen, ich fahre jedes verdammte Auto, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich weiss wie ich einen Reifen wechsle, und ich kann ohne Navi mich überall zurechtfinden.
Und dann lasse ich die Scheisskarre absaufen.
Der Gedanke beschäftigt mich noch immer, als ich an den Haaren, stolpernd und ohne Zigaretten durch einen Vorgarten gezerrt werde, wo mir die Dornen irgendwelcher Zierrosen die Beine aufreissen. Ok, ich trage ein Minikleid. Dreck. Aber immerhin Chucks.

Auf dem Klingelschild neben der Eingangstür steht „Keller“. Und davor „Familie“. Familie wirkt tröstlich, denke ich zuversichtlich, als ein offensichtlicher Keller mich in das Haus treibt.
Warum fesseln sie die Leute eigentlich immer an Heizkörper? Und warum immer mit diesen elenden Kabelbindern?
Man sollte doch meinen, dass Fussbodenheizungen viel angenehmer sind und Kabelbinder gut für die Ordnung, aber Scheisse für die Blutzirkulation. Ausserdem: Benutze keine Kabelbinder, wenn du vorhast einen Menschen über Stunden zu beherrschen. Könnte ne Sauerei geben bzw. einige Kabelbinder erfordern.

Nachdem der Mann, von dem ich denke, dass er ein Keller ist, mich versorgt hat, mit Unbewegungslosigkeit und einem ziemlich dämlichen Gesichtsausdruck (meinem), sieht er mich an, als wüsste er nicht genau wie es weiter gehen soll.

Zu diesem Zeitpunkt bin ich ziemlich sauer. Die letzten 24 Stunden waren für mich die reinste Katastrophe, und ich habe keine Lust auf diese Scheisse.
Ich will meine Kippen, meinen Garten und die Sonne. Und noch einiges mehr.

„Was zur Hölle soll die Scheisse?“, frage ich dann auch so empört, als hätte der Reinigungsservice meine Lieblingsbluse verhunzt.
Der Mann, der wirklich unfassbar schön ist, antwortet mit einem satten, geistesabwesenden:
„Halt die Schauze.“ Damit ich mich daran halte, rammt er mir seinen Fuss in die rechte Niere.
Während ich versuche, mich zu krümmen, ohne dass dies geht, frage ich mich, ob es wirklich einen Unterschied macht: Sneaker oder Stiefel. Also schmerztechnisch.
Ich entscheide, dass mein Schuhtick kuriose Züge annimmt, und beschliesse nur so laut zu stöhnen, dass es sich anhört, als hätte ich mich kurz gestossen.
De facto raubt mir der Schmerz die Sicht.

Der Tag ist völlig im Eimer.

Vergeudet. Wie mein Mann sagen würde. Und von vergeudeten Tagen hatte ich schon einige. Jeder einzelne: Überflüssig. Manch einer bereits zu einem Zeitpunkt, in dem du denkst, du hast noch so viele. Tage.






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