Keep Breathing

Autor: Fullmoon
veröffentlicht am: 28.02.2010


Hallo ihr Lieben,

hier wie versprochen das neue Kapitel! Das Schreiben fiel mir dieses Mal ziemlich leicht, ich bin gespannt, wie ihr reagieren werdet :)

Heute wird es nur ein kurzes Vorwort, muss mich wieder an meine Bücher setzen :)



Liebe Grüße



Fullmoon





~°~°~°~



Jean Marineau trat aus dem Aufzug und rückte etwas nervös seine silberne Brille zurecht. Die Knöchel seiner rechten Hand, die die schwarze Lederaktentasche festhielten, traten weiß hervor. Er räusperte sich leise, um den dicken Frosch in seinem Hals zu vertreiben.

Es war nicht das erste Mal, dass er Cains Büro aufsuchte und er wusste, dass für ihn keinen Grund für diese kindliche Nervosität bestand, doch es war nicht die Tatsache, dass er das Büro einer ihm höher gestellten Person betreten würde, sondern eher die Reaktion eines engen Freundes auf schlechte Neuigkeiten, die er befürchtete.

Clémentine zog eine ihrer perfekt gezupften Augenbrauen in die Höhe, als sie Jean unentschlossen vor Cains Bürotür herumtänzeln sah. Sie wollte etwas sagen, doch just in diesem Moment klingelte ihr Telefon. Jean nutzte den Augenblick, klopfte einmal kurz und trat dann ein.

Seit zwei Tagen war Cain ungewohnt gut gelaunt. Tatsächlich erinnerte er Jean an die Zeit, als Sarah noch gelebt und ihn vollkommen gemacht hatte. Er vermutete, dass Kara etwas mit dieser Veränderung zu tun hatte und befürwortete alles, was Cain half wieder ein normales Leben zu führen.

Als die Tür mit einem leisen Klicken ins Schloss fiel, wandte Cain seinen Blick von dem Computerbildschirm ab und lächelte. "Jean. Komm, setz dich."

Jean rückte sich den Stuhl vor dem Schreibtisch zurecht und nestelte ungeschickt an dem Verschluss seiner Aktentasche herum. Es behagte ihm gar nicht, dass ausgerechnet er derjenige war, der Cain die Hiobsbotschaft überbrachte.

"Du hast mich doch am Anfang der Woche um etwas gebeten, weißt du noch?" begann er vorsichtig. "Ich habe die Zahlen analysiert und deine Befürchtung hat sich leider bewahrheitet. Nur scheint es schlimmer zu sein, als vorerst angenommen." Er schob Cain ein Blatt über den Tisch. Dieser nahm es schweigend an. "Das ist die Übersicht, die ich erstellt habe. Genauere Zahlen habe ich hier." Er holte eine etwas dickere Mappe aus seiner Tasche und klopfte darauf, um seine Worte zu unterstreichen. "Aber wirf erst einmal einen Blick darauf." meinte er und zeigte auf das Blatt in Cains Händen.

Cain überflog es und erbleichte sichtlich. Bei jeder neuen Zeile rutschte ihm das Herz immer mehr in die Hose und seine Eingeweide füllten sich mit schwerem Metall.

"Wie… wie kann das sein?" presste er hervor.

"Zuerst waren es nur die Zinsen des Anlagevermögens. Das hatte kleine, aber keine zerstörerischen Auswirkungen. Doch mit der Zeit wurden andere Konten angezapft und zwar die, auf denen die Einnahmen und die Erträge verbucht wurden." Jean schlug seine Mappe auf und blätterte ein paar Seiten darin herum. "Hier. Alle neutralen Erträge. Weg."
"Scheiße." entfuhr es Cain. "Oh mein Gott." In seiner Stimme lag Fassungslosigkeit und Entsetzen.

"Das einzig Positive ist, dass die Einnahmen und die Erträge konstant sind. Wir hätten also eine Chance den Schaden zu beheben."

"Wohin ist das Geld geflossen?"

"Auf ein Konto in die Schweiz. Es gehört dieser Frau." Jean wies auf einen Namen auf dem Blatt. "Ich denke, du hast ebenfalls Vermutungen angestellt, wer dafür verantwortlich ist, oder, Cain?"

"Ja."

"Rate mal, mit wem sie verheiratet ist."

Cain wurde noch eine Spur blasser. "Das ist nicht dein Ernst."

"Doch. Die Beweise sind unfehlbar. Ich habe mir die Freiheit genommen und einen Privatdetektiv engagiert. In der Mappe findest du ein paar Bilder als Beweisstücke. Ich dachte, das wäre hilfreich, falls es zu einer Klage kommen sollte."

"Ja. Danke, Jean."

Jean nickte. "Keine Ursache. Wie geht es dir damit?"

Cain fuhr sich müde über das Gesicht. "Ich weiß nicht… Ich weiß nicht, was ich tun soll. Was soll ich nur tun?" fragte er verzweifelt.

Jean bedachte Cain mit einem mitfühlenden Blick. "Du weißt genau, was du zu tun hast. Du hast es lange genug vor dir her geschoben."

"Du hast ja Recht." Cain stützte seinen rechten Ellenbogen auf den Schreibtisch und rieb sich mit dem Zeige- und Mittelfinger die Schläfe. Sie pulsierte und kündigte bevorstehende Kopfschmerzen an. "Es ist nur so schwer."

"Für mich war es auch nicht leicht dir das zu sagen." sagte Jean. "Ich lasse dir die Unterlagen hier. Ruf mich an, wenn du Fragen hast. Aber du musst dich mit dieser Sache befassen, Cain. Es stehen eventuell Arbeitsplätze auf dem Spiel, wenn das nicht endlich gestoppt wird. Von den anderen Folgen will ich gar nicht erst anfangen."

"Ich weiß. Verdammt, ich weiß das alles!" Wütend schlug Cain mit der Faust auf die Tischplatte. "Was können wir nur dagegen unternehmen?"

"Du wirst nicht um eine Verhaftung herumkommen. Wenn wir Glück haben, liegt das ganze Geld unberührt auf dem Konto, aber ich denke, dass das eher unwahrscheinlich ist. Du musst Schmerzensgeld anfordern plus die Rückzahlung der Verluste. Wenn das verschwundene Geld wieder auf die richtigen Konten verteilt wird, dann haben wir eine gute Chance."
"Okay." Cain vergrub das Gesicht kurz in seinen Händen und seufzte tief. "Oh Jean. Warum muss es nur unbedingt sie sein?"

Jean zog hilflos die Schultern hoch. Es traf immer die Falschen. "Läuft es denn privat besser?"

Cain schüttelte den Kopf. Er wirkte traurig. "Nein, nicht mehr. Ich glaube, ich habe einen schlimmen Fehler begangen."



Cain hatte nun so lange auf das weiße Blatt gestarrt, dass es anfing an manchen Stellen grün- und rotstichige Punkte zu verteilen. Die Buchstaben und Zahlen tanzten wild vor seinen Augen herum, umarmten sich, ließen sich wieder los, formten schwarz auf weiß plausible Wörter oder bluteten tiefrot vor sich hin. Dann verschwammen sie, wurden unklar und wieder klar, bis sie zu einer Komposition verschmolzen und eins blieben.

Es erschien ihm absurd, dass man Schicksale auf ein paar Blätter Papier pressen und sie herumschwenken konnte, als wären sie leicht zu nehmen.

Jeans Besuch hatte ihm die Augen geöffnet und ihm gezeigt, wie unprofessionell er sich in den letzten Tagen benommen hatte.

Nachdem er mit Kara vor drei Tagen dieses Gespräch geführt hatte, hatte sich etwas in ihm geöffnet. Es tat gut und war vergleichbar mit den befreienden Tränen, die er bei der Nachricht von Sarahs Obduktion vergossen hatte. Und dann später, als sie gemeinsam im Bett lagen, hatte er ihren gleichmäßigen, ruhigen Atemzügen gelauscht und sich unglaublich zufrieden gefühlt. Ihm war, als würde nichts mehr fehlen. Er hatte überschwänglich reagiert, mit Kara herumgealbert, seinem Verlangen nach ihr leichtsinnig nachgegeben, ohne über mögliche Konsequenzen seines Verhaltens nachzudenken.

Es kam ihm richtig vor und er nutzte es aus, genoss es in vollen Zügen und fühlte sich in vergangene Zeiten zurückkatapultiert, als er dieselben Albernheiten mit Sarah ausgetauscht hatte. Warum sollte er es auch nicht auskosten, wenn es sich so gut anfühlte? Wenn sich eine Praline als wahres Geschmackswunder entpuppte, aß man dann nicht auch mehr davon?
Fakt war: Er hatte übertrieben.

Warum musste er auch immer von einem Extrem ins andere fallen? Konnte er nicht auch das richtige, nein, a n g e m e s s e n e Maß finden? Er musste es finden.

Für sie beide.

Nun blieb ihm nur noch eine einzige Sorge: Wann sollte er es ihr sagen?

Diese Sache konnte nicht warten. Cain durfte in dieser Angelegenheit auf keinen Fall eigennützig handeln.

Plötzlich hatte er eine Idee. Er rief Jean an und bat ihn, ihm ein paar Unterlagen per Mail zu schicken. Nun musste er nur noch ein paar Zahlen und Fakten umändern und ausdrucken.
Er ging die Sachen noch einmal durch, machte hier und da ein paar Korrekturen und druckte sie anschließend noch einmal neu.

Dann rief er Clémentine an und bat sie, Kara zu sich ins Büro zu rufen.

Während Cain auf sie wartete, stand er auf und trat an eins der bodentiefen Fenster. Vielen seiner Besucher schwindelte es bei der Aussicht, die sie enthüllten, doch im Gegensatz zu ihnen liebte er die Höhe; vor allen nachts, wenn er die anderen beleuchteten Fenster an den Gebäuden in seiner Umgebung sah. Es gab ihm ein Gefühl von geteilter Einsamkeit.
Er hörte, wie Kara das Büro betrat und drehte sich zu ihr um. Das Lächeln gefror ihr auf den Lippen, als sie ihn ansah. Wahrscheinlich, weil sie sich schon zu sehr daran gewöhnt hatte, dass er zurück lächelte. Jetzt tat er es nicht.

"Was ist los?" fragte sie ihn voller Sorge.

"Setz dich." wies er sie kurz angebunden an.

Kara blieb stehen. Das hätte er sich auch gleich denken können.

"Was ist los?" wiederholte sie etwas langsamer, als würde sie mit einem Begriffsstutzigen sprechen.

Cain ging zurück zu seinem Schreibtisch und hielt ihr den frisch ausgedruckten Stapel Unterlagen hin. "Könntest du mal einen Blick darauf werfen?"

Misstrauisch nahm sie ihm die Blätter ab. Es herrschte Schweigen, während sie sie studierte.
Das Ticken seiner Wanduhr war unerträglich laut. Er beobachtete den Sekundenzeiger, der verlässlich von Zahl zu Zahl sprang, alles ankurbelte, alles bewegte.

Nach ewig langen Minuten, die sich wie zähes Kaugummi gezogen hatten, schaute sie endlich auf. "Was ist damit?"

"Erzähl mir etwas darüber."

"Ich kann bis jetzt nicht viel sagen…" fing sie langsam an. "Nur, dass es um eine Firma geht, die im Minus steht."

"Woran liegt das?"

Kara warf wieder einen kurzen Blick auf ihre Blätter. "Da scheint es ein paar
Unregelmäßigkeiten bei den Abbuchungen zu geben."

"Gut. Ich will, dass du dir einen halben Tag Urlaub nimmst und dir das genauer anguckst."
"Was? Das geht nicht!" protestierte sie.

"Ich habe es dir erlaubt."

Verärgert fuchtelte sie mit den Blättern herum. "Es geht nicht darum, ob du es mir erlaubst oder nicht, Cain! Es geht darum-"

"Nein." unterbrach er sie. "Aber ich bin dein Chef, Kara. Und ich will, dass du dir einen halben Tag Urlaub nimmst. Glaub mir, ich habe schon meine Gründe."

"Ach, wirklich?" Kampfeslustig reckte sie ihr Kinn ein wenig in die Höhe.

Cain setzte sich wieder seelenruhig an seinen Schreibtisch. "Du kannst gehen." sagte er, ohne seinen Blick von dem Bildschirm zu nehmen.

Sie starrte ihn ungläubig an. "Cain…" Als er nicht reagierte, schlug sie mit der flachen Hand auf den Tisch. Cain sah auf. "Was ist nur wieder mit dir los?" flüsterte sie. "Heute Morgen war doch noch alles in Ordnung."

Für einen Moment erweichte sich das stahlharte Grau seiner Augen. "Ich weiß." sagte er leise.
"Erklär es mir." bat sie.

"Nicht jetzt, Kara."

"Doch." widersprach sie ihm hartnäckig. "Jetzt."

Cain fuhr sich unbehaglich mit der Hand durch das Haar. "Ich war… ich war einfach zu voreilig."

"Inwiefern?"

"Ich habe nicht nachgedacht."

"Aber worüber?" rief sie und warf verständnislos die Arme in die Luft.

"Über uns!" entgegnete er lauter als notwendig. "Wir haben eine geschäftliche Beziehung, Kara! Wie soll ich denn meine Objektivität bewahren, wenn ich mich zu sehr meinen Gefühlen dir gegenüber hingebe?"

"Aber du kannst sie doch nicht unterdrücken!"

"Doch. Das kann ich."

"Verdammt noch mal, Cain! Warum musst du jedes Mal drei Schritte zurückgehen, wenn du einen nach vorne gemacht hast?"

"Das ist kein Rückschritt, auch wenn es dir so vorkommt." stellte Cain sachlich klar. "Du solltest dir auch mal vor Augen führen, dass wir, was deine Firma betrifft, Geschäftspartner sind. Und was meine Firma betrifft, bin ich immer noch dein Chef."

"Und was soll das jetzt bedeuten? Dass wir wieder mit getrennten Autos zur Arbeit fahren? Dass wir nicht mehr zusammen essen werden?"

"Das ist das Beste für uns."

Um nicht die Beherrschung zu verlieren, ballte Kara die linke Hand zur Faust und bohrte ihre Fingernägel tief in ihre Handinnenflächen. "Das stimmt nicht."

"Das heißt nicht, dass ich dich komplett ignorieren werde."

Sie warf ihm einen spöttischen Blick zu und als sie antwortete, triefte ihre Stimme vor lauter Sarkasmus. "Ach, wirklich nicht? Na, da bin ich ja beruhigt."

"Die letzten beiden Tage waren besonders, das gebe ich auch zu. Ich war wie ein anderer Mensch." versuchte er ihr zu erklären. "So habe ich mich schon lange nicht mehr gefühlt, aber… manchmal passieren Dinge, die mich wieder daran erinnern, warum wir eigentlich verheiratet sind."

"Was für Dinge?"

"Ich erzähle es dir heute in aller Ruhe. Aber nicht jetzt und auch nicht hier."

"Du verheimlichst etwas vor mir." stellte Kara beunruhigt fest.

"Nicht mehr lange."

Sie wollte noch nicht aufgeben. "Muss denn alles wieder so sein wie vorher?"

"Ich habe keine andere Wahl." Es klang so endgültig in ihren Ohren. Wie vorherbestimmt.
"Man hat immer eine Wahl." hielt sie dagegen.

"Kara, ich werde dich nicht wieder wie ein Arschloch behandeln."

Sie lachte, doch es klang falsch und aufgesetzt. Eigentlich tat sie es nur, da die andere Alternative weniger fröhlich war. "Doch, Cain. Das tust du und zwar genau in diesem Moment."

"Ich habe dich geheiratet, weil dein Vater mir die Hälfte seiner Firma zugesagt hat und nicht, weil ich dich liebe."

Kara versengte ihre Fingernägel noch tiefer ins Fleisch. "Ich weiß, dass das keine Liebeshochzeit war." knirschte sie mit zusammengebissenen Zähnen.

"Wir haben uns in letzter Zeit aber mehr wie ein liebeskrankes Ehepaar verhalten, als wie zwei vernünftige Menschen, die voneinander profitieren wollen."

"Ich wollte nie von dir profitieren!" fuhr sie ihn wütend an.

Für einen Augenblick taxierten sie sich schweigend.

"Vielleicht." räumte Cain nach einer Weile ein. "Aber das bringt uns jetzt nicht weiter. Bitte sieh dir die Unterlagen genauer an, die ich dir gegeben habe. Ich denke, dass du noch ein paar Grundlagen des Finanzmanagements beherrscht und wenn nicht, dann kannst du sie damit ein bisschen auffrischen."

Kara starrte auf die Blätter in ihrer rechten Hand. Sie hatte sie beinahe vergessen.

"Wir reden. Heute Abend." drohte sie ihm.

Cain nickte. Innerlich seufzte er tief.

Er sah ihr nach wie sie sein Büro verließ. Ihre langen, schwarzen Haare wippten fröhlich auf und ab und stellten einen eigenartigen Kontrast zu ihrer Stimmung dar.

Sie schloss die Tür lauter als notwendig und hinterließ nur noch ihr persönliches Parfüm.
Ihm bangte es vor dem Gespräch mit ihr. Nicht, weil sie wieder versuchen würde in seine Seele zu dringen. Dazu würde es gar nicht kommen. Kara glaubte wohl, dass sie ihn von seinem Entschluss abbringen könnte, doch sie würde nur enttäuscht werden. Er konnte nicht mehr zurück.

Und am Ende war es doch sie, die alle Bindungen zu ihm abbrechen würde.



Funken sprühend stapfte Kara zurück in ihr Büro. Dieser bekloppte Mensch! Welcher Dämon hatte nun wieder Besitz von ihm ergriffen und seine Seele in ein dunkles, schwarzes Loch verwandelt? Sie hätte sich gar nicht gewundert, wenn ihm noch ein Paar Hörner und ein langer spitzer Schwanz gewachsen wären.

Seine Launen waren vollkommen unkontrolliert und willkürlich.

Die Wut in ihr stieg immer weiter an und brachte ihre Körpertemperatur zum Brodeln. Aus ihrer Nase stiegen imaginäre Dampfschwaden. Laut ausatmend stopfte sie Cains Scheißblätter in ihre Handtasche, ohne sich besonders darum zu kümmern, dass sie beim späteren Auspacken völlig zerknittert sein würden. Am liebsten hätte sie sie zu Konfetti verarbeitet und sich bei jedem reißenden Geräusch vorgestellt, es wäre Cain, den sie auseinander nahm.
Ohne sich hinzusetzen fuhr sie den Computer herunter und wollte gerade aus dem Büro stürmen, als ihr kleiner Ordentlichkeitsdrang sie davon abhielt. Schnell fegte sie Überflüssiges in den Mülleimer und konnte auch nicht widerstehen ihre Kugelschreiber in einem Abstand von 0,5 Millimetern nebeneinander anzuordnen.

Wenn schon ihr Leben ein einziges Chaos war, so konnte sie doch wenigstens ihren Arbeitsplatz sauber halten. Sie schulterte ihre Tasche und ging.

Wehe, Cain würde ihr über den Weg laufen. Doch natürlich hielt er sich in seinem sicheren Büro auf und machte einen auf Wichtig. Grimmig hämmerte Kara auf den Fahrstuhlknopf. Sie verfehlte ihn und hätte mit dem Fuß darauf eingedroschen, wäre Clémentine nicht hinter ihr gewesen und würde alles mit neugierigen Augen verfolgen.

Also hämmerte sie ein zweites Mal darauf und sobald sich die Türen so weit öffneten, dass sie durch passte, quetschte sie sich hinein. Was für ein Pech für ihn, das sie mit ihrem Auto hier war. Wie er wohl nach Hause kommen würde?

Ist mir doch scheißegal, redete sie sich ein, während der Fahrstuhl in die Tiefgarage fuhr.
Ihre hohen Pumps klackerten stakkatoartig zu ihren Gedanken, als sie zu ihrem Mini ging.
~Cain. Du. Ver-damm-ter. I-di-ot!~

Kara riss die Fahrertür mit einer solchen Wucht auf, dass sie gegen den Betonpfeiler neben ihr knallte und einen hässlichen Kratzer hinterließ.

"Oh Gott, nein!" stöhnte sie und inspizierte den Schaden. Sie hätte beinahe laut aufgeheult, als sie mit den Fingern über den demolierten Lack fuhr.

Dieser behinderte Betonpfeiler hatte eine richtig tiefe Kerbe hinterlassen!

Da es sowieso ein beschissener Tag war, holte Kara weit aus und trat mit voller Wucht gegen den Pfeiler. Dabei traf sie ihn in einem ungünstigen Winkel und der Aufprall ihres Fußes gegen das steinharte Beton tat so weh, dass sie sich japsend gegen ihr Auto lehnte, den Schuh auszog und ihre schmerzenden Zehen befühlte. Schließlich öffnete sie ihre zerstörte Fahrertür und humpelte in den Wagen, nicht ohne dem Betonpfeiler einen vernichtenden Blick zuzuschießen.

Ihr Fuß pochte wie ein dorthin gerutschtes Herz. Bevor sie losfuhr, prüfte sie, wie weit sie ihn belasten konnte und jaulte auf, als sie ihn nur leicht gegen das Gaspedal drückte.

Das darf doch nicht wahr sein, dachte sie gepeinigt.

Hatte sie sich tatsächlich bei dieser lächerlichen Aktion irgendetwas verstaucht, wenn nicht sogar gebrochen? Und sie dachte, der Tag könnte nicht schlimmer werden.

Kara kramte ihr Handy aus der Tasche und rief Natalie an. Doch irgendetwas stimmte nicht. Stirnrunzelnd betrachtete sie das Display und erkannte das Problem: Sie war in einer Tiefgarage und hatte somit kein Netz.

"Verdammte Mistkacke!" fluchte sie und stieg aus dem Auto. Eher würde sie sich in den Arsch beißen, als Cain darum zu bitten sie nach Hause zu fahren.

Also quälte sie sich zurück zum Fahrstuhl und fuhr ins Erdgeschoss. Dort schleppte sie sich zur nächstgelegenen Sitzgelegenheit und wählte erneut Natalies Nummer. Die Frauen an der Rezeption beäugen sie misstrauisch, während sie Nat im Flüsterton ihre prekäre Lage kurz schilderte und sie anflehte, sie nach Hause zu fahren.

"Weine nicht, Aschenputtel, der Prinz kommt sofort!" hatte Nat fröhlich gezwitschert.
"Ich bin an einen Punkt in meinem Leben angekommen, wo ich den Scheißprinzen töte und sein Pferd aufesse." hatte Kara nur murrend erwidert.

Natalie hatte einen Lachanfall bekommen und ihr versichert, sie wäre in fünfzehn Minuten da. Erleichtert legte Kara wieder auf und starrte die ‚Rezeptionsschlampen', wie sie Clémentine insgeheim nannte, so penetrant an, dass sie aufhörten über sie zu tuscheln und wieder ihrer Arbeit nachgingen.

Während sie auf Nat wartete, startete Kara ein privates Rehabilitationsprogramm und drückte immer wieder mit dem Fuß gegen den eleganten Marmorfußboden der Eingangshalle.
Am Anfang war sie erschreckt zusammengezuckt, doch mittlerweile hatte sie sich an den Schmerz gewohnt. Sie fing an, ihre Zehen zu bewegen und den Fuß hin und herzudrehen.
Sie wollte verdammt sein, wenn diese blöden Frauen sie durch die Eingangshalle humpeln sahen. Um kein Misstrauen zu erwecken, dass mit ihr eventuell etwas nicht stimmte, fuhr sie sich kokett mit der Hand durchs Haar. Sie war eben nur eine Geschäftsfrau, die nonchalant mit dem Fuß hin und her wippte, wie es auch andere Kosmopolitinnen taten.

Offenbar ging ihre Taktik auf, denn die ‚Rezeptionsschlampen' sahen nicht mehr herüber.
Etwas entspannter lehnte sich Kara zurück und ließ ihre Gedanken schweifen.

Da sich ihre Wut in den letzten Minuten auf einen wehrlosen Betonpfeiler gerichtet hatte, war ihre andere Wut Cain gegenüber so weit verebbt, dass sie nicht wieder das Bedürfnis hatte gegen irgendwelche Gegenstände zu treten.

Was er ihr wohl verheimlichte? War dieses Geheimnis so schwerwiegend, dass er keine Bindung mehr mit ihr eingehen konnte?

~Wie soll ich denn meine Objektivität bewahren, wenn ich mich zu sehr meinen Gefühlen dir gegenüber hingebe?~

Was hatte er damit gemeint? Ihr Herz fing auf einmal an, vermehrt Blut durch ihre Arterien zu pumpen. Ihr wurde ganz warm. Cain hatte Gefühle für sie. Genau das hatte er damit gemeint.
Doch Gefühle welcher Art und wie tief mussten sie gehen, wenn er sich rein beruflich nicht mehr konzentrieren konnte?

Die Unterlagen, die er ihr gegeben hatte, lugten aus ihrer Tasche hervor. Nachdenklich betrachtete Kara sie. Gerade, als sie sie herausholen wollte, kam Natalie herangeeilt, wie immer todschick gekleidet mit ihrem Kleidermix von H&M und einem Designer-Label. Ihre blonden Haare hatte sie zu einem lockeren Dutt zurückgesteckt und der kirschrote Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen.

"Hallo, Prinzessin!"

Kara lächelte. Nat schaffte es immer sie aufzumuntern. Vorsichtig stand sie auf und verzog auch fast nicht das Gesicht. Ihre beste Freundin gab ihr einen Kuss auf die Wange.

"Wie geht es dem Fuß?" flüsterte sie.

"Konstante Lebenszeichen."

Tapfer stolzierte Kara aus der Eingangshalle und erlaubte sich erst einen Schmerzensschrei, als sie in Nats Wagen eingestiegen war.

"Bist du sicher, dass ich dich nicht zum Arzt fahren soll?"

"Nein, der muss jetzt nur auf Eis gelegt werden, dann geht das wieder." beruhigte Kara sie.
"Was hast du eigentlich gemacht?" fragte Nat neugierig.

"Ich habe den Kampf gegen ein Betonmonster verloren."

Nat fädelte sich wieder in den Verkehr ein. "Klingt nach einem interessanten Tag."

Kara stöhnte entnervt auf. "Von wegen. Ich hasse ihn und dabei ist heute Freitag."
"Was ist passiert?"

"Es ist Cain." sagte sie und zupfte unruhig an ihrem Rock herum. "Heute ist er auf den Trichter gekommen, dass wir keine private Beziehung mehr haben können, da das ja unser Geschäftsverhältnis stören könnte. Dabei war heute Morgen noch alles in Ordnung! Wir haben gelacht und uns geküsst und…"

"Und…?"

"Ich weiß einfach nicht, was er schon wieder hat!" echauffierte sie sich und schlug frustriert gegen die Seitentür.

"Hey!" protestierte Nat. "Das ist m e i n Auto, falls du das vergessen hast. Nur weil du deins gerade halb geschrottet hat, heißt das nicht, dass meins das gleiche Schicksal erleiden muss."
"Tut mir leid." entschuldigte sich Kara zerknirscht. "Ich bin nur gerade ein wenig sauer."
Natalie lenkte das Auto sicher durch die Frankfurter Innenstadt und nutzte ein paar Schleichwege, um dem Feierabendverkehr der Beamten auszuweichen, die alle schon mittags nach Hause eilten.

"Danke übrigens, dass du mich nach Hause fährst."

"Kein Problem. Ich wollte heute sowieso früher Schluss machen, um meine Überstunden abzubauen. Da kam dein Anruf gerade recht." Sie hielten an einer roten Ampel. "Und du sagst, mit Cain war heute Morgen noch alles okay?"

"Ja! Und dann, fünf Stunden später, zitiert er mich zu sich und: Verwandlung! Der alte Cain ist wieder da." Sie erzählte ihr von dem restlichen Teil der Unterhaltung.

"Vielleicht ist es nur die Arbeit." versuchte Natalie ihre Freundin zu besänftigen.

"Nein, das glaube ich nicht." widersprach Kara vehement. "Es hat etwas mit mir zu tun. Ich fühle das."

"Weißt du was? Ich habe genau das passende für dich." sagte Nat und folgte einem McDonalds-Schild. Sie nutzte den McDrive und bestellte. "Zwei Erdbeermilchshakes und zwei McFlurry Smarties."

"Ach, Nat. Du bist die Beste."

"Ich weiß. Bedanken kannst du dich später. Lass gut sein." fügte sie hinzu, als Kara ihr Portemonnaie aus der Tasche holte.

Natalie fuhr auf den Parkplatz und schaltete den Motor aus. Sie aßen im Auto und für eine Weile herrschte friedliches Schweigen, bei dem nur das Kratzen der Plastiklöffel zu hören war, die geschäftig das Eis herausschaufelten.

Für September war es noch erstaunlich warm und Kara kurbelte das Fenster ein wenig herunter, damit die wohltuende Brise ihre erhitzten Wangen kühlen konnte.

Als sie unbewusst einen Seufzer ausstieß, griff Natalie das Thema wieder auf.

"Du solltest dir keine Sorgen machen. Vielleicht ist es ja nichts."

Kara stocherte mit dem Löffel in ihrem Eis herum. "Bei Cain ist nie ‚nichts'."

"Sieh es doch mal positiv. Wenigstens hat er dir gesagt, dass ihr später reden werdet. Im Gegensatz zu früher war das doch ein großer Schritt, findest du nicht?"

"Ja, schon." gab Kara zu.

"Hab etwas Geduld." riet Natalie ihr. "Er hat dir selbst gesagt, dass er sich nicht von heute auf morgen ändern kann."

"Du hast ja Recht." Nachdenklich tippte sich Kara mit dem Löffel auf den Mund. "Ich will nur immer alles sofort haben."

"Du bist nun mal ein ungeduldiger Mensch."

Kara legte Natalie eine Hand auf den Arm und drückte ihn leicht. "Was würde ich nur ohne dich machen?"

"Schreiend im Kreis herumlaufen?"

Kara lachte. "Ja, das würde so ungefähr hinkommen."

"Ich bin froh, wenn ich dir helfen kann. Ich weiß ja, dass das alles für dich nicht so einfach ist."

"Lass uns jetzt nicht mehr darüber sprechen." entschied Kara und trank einen Schluck von ihrem Milchshake. "Wie läuft's bei dir im Moment?"

Nats Augen fingen an zu strahlen. "Ich glaube, ich werde bald befördert."

Kara stieß einen kleinen Freudenschrei aus. "Was? Das ist ja super!"

"Ja." lächelte Natalie. "Mein Chef hat mir heute so etwas angedeutet. Ich bin so aufgeregt! Ein Kollege, der die größeren Kunden betreut, geht bald in Rente. Vielleicht bekomme ich ja seinen Posten!"

"Oh, ich wünsche es dir so!" sagte Kara aus vollstem Herzen, da sie wusste wie ambitioniert ihre Freundin auf diesen Posten hingearbeitet hatte.

"Danke. Nur in der Liebe will es gerade nicht so laufen." Nats Stimme verlor wieder etwas von ihrem Enthusiasmus.

"Wieso? Ich dachte, du bist glücklich mit Tim."

"Ja, schon… Ach, ich weiß nicht. Ich habe das Gefühl, dass sich alles so festgefahren hat bei uns. Ich langweile mich mit ihm."

"Ach, Nat. Probier doch mal was Neues aus! Betttechnisch." Kara zwinkerte ihr zu.

"Ja, darüber habe ich auch schon nachgedacht. Mir fällt schon was ein."

"Wenn du Hilfe brauchst, dann sag mir Bescheid." bot Kara an. "Ich habe eine sehr lebhafte Fantasie!"

Nat grinste. "Komm, ich fahre dich jetzt nach Hause und du machst mir ein paar Vorschläge."
"Okay, als kleine Revanchierung für den Imbiss. Wie wäre es, wenn ihr euch als Aliens verkleidet? Um etwas Mystik mit hineinzubringen."

"Kara!"

"Schon gut! War doch nur ein Scherz."



Mittlerweile war der kleine Stundenzeiger auf die Zahl sechs hervorgerückt und Cain saß immer noch in seinem Büro und starrte schon seit etlichen Minuten auf dieselbe Stelle.
Eigentlich hätte er schon längst Zuhause sein können, doch er hatte sich noch nicht dazu überwinden können aufzustehen, obwohl er wusste, dass es unsinnig war hier noch länger herumzusitzen, wenn er nicht mal etwas Produktives leistete.

Im Grunde drückte er sich noch ein wenig davor Kara gegenüber treten zu müssen.

Er wollte es nicht.

Er konnte es noch nicht.

Ja, er verstand ihren Frust ihm gegenüber, doch er konnte es nun mal nicht ändern. Wie eine vorprogrammierte Maschine war er wieder in die Rolle des alten Cain geschlüpft, um Distanz zu wahren. Es war einfach wichtig, dass er sich nicht zu sehr von seinen Gefühlen für sie ablenken oder sogar beeinflussen ließ. Sonst hätte er nicht die innere Kraft, die er benötigte, um ihr das Geheimnis zu enthüllen, das er schon seit Wochen wie einen dunklen, unsichtbaren Schleier mit sich herumtrug.

Er wollte nicht wieder beim Anblick ihrer veilchenfarbenen Augen in die Knie gezwungen werden, so wie damals, als sie seine Affäre mit Lydia herausgefunden hatte.

Ihn sollte der verlorene Ausdruck in ihrem Gesicht völlig kalt lassen. Diese feinen, weichen Züge, die um seine Zuneigung, seinen Respekt und seine M e n s c h l i c h k e i t bettelten.
Wie sollte er das alles ertragen, wenn er sich doch eingestehen musste, dass er sie gern hatte? Er mochte es, wenn sie bei ihm war, auch wenn er am Tag ihrer Hochzeit nicht daran geglaubt hatte. Cain blinzelte und sein Blick wurde wieder klar. Die Buchstabensuppe vor ihm verschärfte sich.

War es richtig sich wieder emotional von ihr zu lösen? Es musste so sein.

Wie war es mit Ärzten, die ihren hoffnungsvollen Patienten erklärten, dass ihre Krankheit unheilbar war und sie sterben würden? Auch sie mussten Distanz waren und durften deren Verzweiflung und Trauer nicht zu nah an sich heranlassen.

Wenn sie nach einem harten Arbeitstag nach Hause zu ihren Familien gingen und mit ihnen zu Abend aßen, mussten sie doch auch vergessen, dass sie vor zwei Stunden ein Herz in der Hand gehalten hatten und es, irgendwann unter ihren vergeblichen Versuchen es wieder zu beleben, einfach aufgehört hatte zu schlagen. Ja, auch sie mussten vergessen, dass an den steril gesäuberten Händen zuvor Blut geklebt hatte.

Es war nicht immer leicht das Richtige zu tun, das hatte niemand gesagt. Als Lydia ihn damals aus ihrer Wohnung geschmissen hatte, musste er sich auch dazu überwinden Kara zu suchen, um sich bei ihr zu entschuldigen.

Cain lächelte, als er sich das Bild seiner früheren Haushälterin mit den violetten Haaren ins Gedächtnis rief. Sie war wirklich eine herzensgute Frau gewesen, die wusste, was richtig und was falsch war.

Er hatte vorgehabt noch einmal bei ihr vorbeizufahren, um sich für sein Verhalten ihr gegenüber zu entschuldigen. Er hatte sie benutzt und sie hatte sich benutzen lassen.
Insgeheim plagten ihn immer noch leichte Gewissensbisse deswegen, obwohl er sie immer erfolgreich verdrängt hatte.

Cain warf einen Blick auf die Uhr. Zwanzig nach sechs. Wirklich Zeit aufzubrechen.
Da er mit Karas Wagen hergekommen war, hatte er im Laufe des Nachmittags einen Leihwagen bestellt. Clémentine hatte ihm die Schlüssel hereingebracht, bevor sie nach Hause gegangen war. Cain schnappte sie sich und verließ sein unaufgeräumtes Büro.

Als er kurze Zeit später viel zu schnell aus der Tiefgarage fuhr, musste er unwillkürlich an Kara denken. Er stellte sich vor, wie sie ihn mit erhobenem Zeigefinger ermahnte das Tempo zu drosseln. Ihre Illusion ignorierend, drückte er etwas weiter aufs Gas, als wolle er sich damit etwas beweisen. Nein, sie hatte keine Kontrolle über ihn.

Schnell verbannte er sie aus seinen Gedanken, um einen klareren Kopf zu bekommen.

Die Sonne stand tief am Horizont und blendete ihn. Zu faul, um seine Sonnenbrille herauszusuchen, klappte er das Sonnenverdeck herunter.

An seiner rauen Fahrweise festhaltend, stürzte er aus der Tiefgarage in die Hauptstraße.
Er nahm jemandem die Vorfahrt und das wütende Hupen des Übergangenen verfolgte ihn noch einige hundert Meter weiter, doch er blendete es einfach aus.

Den Weg zu Lydia kannte er auswendig. Er musste sie einfach sehen.

Was Kara dazu sagen würde? Fände sie es in Ordnung oder würde sie mit Eifersucht reagieren?

Cain würde es nie erfahren, denn er hatte nicht vor, ihr davon zu erzählen.



Kara verfolgte im Fernseher eine der trivialen vorabendlichen Seifenopern und kühlte mit einer Kompresse ihren Fuß. Im Laufe des Nachmittags war er noch etwas angeschwollen, doch die Kühlung zeigte bereits Wirkung.

Den Fernseher hatte sie angemacht, damit ihr nicht zu sehr auffiel, dass Cain noch nicht zuhause war. Leider erzielte diese Maßnahme eher das Gegenteil, da die schmachtenden Paare, die mit übertriebenen Liebesbekennungen nur so um sich warfen, sie nur zu gut daran erinnerten, dass sie ganz allein war.

Aber sie weigerte sich die besorgte Hausfrau zu spielen, die bei jeder verstreichenden Minute kummervoll aus dem Fenster sah, um die Umgebung nach irgendwelchen Anzeichen von herannahenden Scheinwerfern abzusuchen.

Er hat eben viel zu tun, beruhigte sie sich. Immerhin ist er der Chef.

Letzteres hallte mit Spott angehaucht in ihrem Kopf wider.

War denn ein Anruf zu viel verlangt?

~Kara, ich komme später nach Hause.~

War das denn wirklich so schwer? Es handelte sich doch nur um einen klitzekleinen Anruf, der ihre zum Reißen gespannten Nerven beruhigen würde. Er müsste doch nur seinen Arm ausstrecken und ein paar Tasten wählen.

Wo war das Problem, verdammt noch mal?

Weitere Minuten verstrichen. Die Seifenoper neigte sich mit einer dramatischen Szene dem Ende zu und es folgten Nachrichten, die sie aber nur mit einem halben Ohr mitverfolgte.
Als Kara die lang ersehnten Scheinwerfer sah, sprang sie erleichtert von der Couch auf und hastete, so schnell, wie ihr Fuß es ihr erlaubte, zur Haustür. Sie benahm sich lächerlich, doch es war ihr egal. Er musste es ja nicht unbedingt wissen. Es konnte ja sein, dass sie zufällig jetzt den Müll herausbringen wollte. Sie sah auf ihre leere Hand. Keine Mülltüte.

Ihr würde schon etwas einfallen.

Kara riss die Haustür auf und stieß mit einer Person zusammen, die eindeutig nicht Cain war.
"Vorsicht!" Flinke, schlanke Hände griffen nach ihr und verhinderten einen zweiten Unfall, der ihr wahrscheinlich noch das Genick gebrochen hätte.

Einen Moment lang starrte sie die Person vor ihr einfach nur fassungslos an.

Diese lächelte sie verhalten an. "Hallo, Kara."

"Lydia!" Spontan drückte Kara ihre einstige Verbündete an sich. Ihre Umarmung wurde schüchtern erwidert. "Was machst du denn hier?" fragte sie überrascht. "Ich meine… Das soll nicht heißen, dass du nicht willkommen bist! Das bist du nämlich!" fügte sie rasch hinzu.
Seit ihrer letzten Begegnung hatte sich Lydia erstaunlich verändert. Ihr sonst so blasses Gesicht war leicht gebräunt und ihre Haarfarbe hatte ein natürliches, dunkles braun angenommen durch das sich helle Strähnchen zogen.

Lydias Lächeln erweiterte sich um einige Zentimeter. "Danke, Kara. Du bist so freundlich, nach allem…"

"Stopp." unterbrach Kara sie ernst. "Das ist Vergangenheit. Bitte, komm doch rein. Cain ist leider noch nicht da."

Doch Lydia blieb stehen. "Ich wollte mich nur schnell verabschieden. Mein Freund wartet am Auto." Sie wies auf einen hoch gewachsenen, muskulösen Mann mit kurz geschorenen Haaren, der sich lässig gegen die Fahrertür lehnte. Er sah aus, als wäre er ein strenger Türsteher einer noblen Diskothek, doch er hatte eine offene, warme Ausstrahlung.

Der Mann nickte ihr zu, während er sich eine Zigarette anzündete.

Kara sah Lydia verwirrt an. "Verabschieden? Warum?"

"Man hat Marko einen guten Job in einer anderen Stadt angeboten und er hat mich gefragt, ob ich ihn begleite. Und ich habe ‚Ja' gesagt." erklärte Lydia achselzuckend.

Kara griff nach ihrer Hand, als könnte sie sie dadurch überreden zu bleiben. "In einer anderen Stadt? Oh, Lydia, ich hoffe, das liegt nicht an…"

"Nein, nein." unterbrach die andere Frau sie sanft. "Es ist wirklich alles in Ordnung. Es ist nicht wegen dir oder Cain."

"Natürlich. Wie dumm von mir zu glauben, dass ich damit etwas zu tun habe. Tut mir Leid."
"Sei nicht albern. Ich hatte auch ein schlechtes Gewissen, wegen dem, was passiert war."
Kara trat unruhig von einen Fuß auf den anderen. Mit einer vagen Geste deutete sie ins Haus.
"Ich kann Cain anrufen, damit du dich von ihm verabschieden kannst." schlug sie vor.
"Nein, Kara, mach dir keine Umstände."

"Warte, es dauert nur einen kurzen Augenblick."

"Nein, bitte, ich will das nicht." Lydia schüttelte heftig mit dem Kopf. "Es ist gut so.
Wirklich."

Kara gab widerwillig nach. "Wann ziehst du denn um?" fragte sie. Vielleicht könnte Cain dann noch bei Lydia vorbeifahren...

"Heute." antwortete Lydia und machte somit ihre Pläne zunichte.

"Oh." Erst jetzt bemerkte Kara, dass der Wagen von vorne bis hinten voll gepackt war.
"Ich muss langsam los. Marko hasst es zu warten." In Lydias Stimme schwang ein Hauch Zärtlichkeit mit, als sie von ihrem neuen Lebensgefährten sprach.

Hätte Kara noch Zweifel an der Ernsthaftigkeit ihrer Beziehung gehabt, so wären sie spätestens an diesem Zeitpunkt verflogen.

Die beiden Frauen umarmten sich. "Ach, Lydia…" murmelte Kara. "Ich wünsche dir alles, alles Gute. Und danke für alles. Danke."

Sie erinnerte sich daran, wie die zierliche Haushälterin ihr geholfen hatte, ihre Sachen hoch in ihr Zimmer zu tragen oder an ihre kleinen aufmunternden Worte, als sie wieder einmal von Cain alleine gelassen wurde. "Du hättest nicht kündigen sollen."

"Doch. Es war notwendig. Für uns alle." Lydia lächelte wieder, als sie die Tränen in Karas Augen sah. Liebevoll umschloss sie ihr Gesicht mit beiden Händen. "Außerdem bin ich diejenige, die sich bedanken muss, Kara. Danke, dass du mir nicht böse bist."

"Ich war nie böse auf d i c h." schniefte Kara und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen weg. "Sorry. Ich bin nicht gut im Verabschieden. Da werde ich immer so sentimental."

"Das macht doch nichts." Lydia ließ Kara los und drückte ein letztes Mal ihre Hand. "Bitte sag auch Cain ‚Danke' von mir."

Kara nickte. "Das werde ich."

Lydias Freund, der in der Zwischenzeit ins Auto eingestiegen war, hupte ungeduldig.

"Komme schon!" rief Lydia in seine Richtung.

"Liebst du ihn, Lydia?"

Kara konnte nicht anders. Sie musste es einfach fragen.

"Cain habe ich nicht geliebt. Aber Marko lässt mich etwas fühlen."

Mit einem letzten Lächeln ging Lydia zum Auto. Kara stand im Eingang und beobachtete, wie es fort fuhr.

Wie scharfsinnig Lydia war. Kara hatte noch nicht einmal selbst gewusst, ob sie mit dieser Frage Cain oder Marko gemeint hatte. Doch die andere Frau hatte ihre Unsicherheit erkannt und war instinktiv darauf eingegangen.

Das Telefon klingelte. Seufzend schloss Kara die Tür. Vielleicht hatte Cain ja eine Eingebung gehabt und meldete sich endlich bei ihr. Sie hoffte es.

Denn genau wie Lydias Freund konnte sie Warten nicht ausstehen.



Cain beendete seine turbulente Fahrt mit einem riskanten Parkmanöver, welches den Kofferraum seines Vordermanns nach vorne geschoben hätte, wäre er nicht rechtzeitig auf die Bremse getreten. Mittlerweile hatte es angefangen leicht zu nieseln.

Er rannte schnell zu dem Wohngebäude und suchte nach der passenden Klingel, doch er konnte Lydias Namen nirgends entdecken. Verwirrt runzelte er die Stirn.

Wie konnte das sein? Besonders aufmerksam ging er die einzelnen Hausnamen noch einmal durch, doch er hatte sich nicht geirrt.

Sie war doch nicht etwa… Nein, dachte Cain.

Oder etwa doch?

"Du hast es tatsächlich getan." murmelte er in die Dunkelheit hinein. Dann lächelte er ein klein wenig. "Viel Glück."

Es hätte ihm albern vorkommen sollen vor Lydias Wohnung Worte auszusprechen, die sie nicht hören konnte, doch das tat es nicht.

Der Regen wurde stärker. Cain warf einen letzten Blick auf die Tür, durch die er nie wieder hindurch gehen würde. Das Bett dahinter, das er nie wieder zerwühlen würde.

Er war nicht traurig.

Es war ihre Entscheidung und er respektierte sie. Bis jetzt war ihm gar nicht bewusst gewesen, wie sehr er sie als Mensch geschätzt hatte.

Er erinnerte sich an den Tag, als er sie halb bewusstlos auf der Straße gefunden hatte. Seit Sarah war sie die Einzige gewesen, um die er sich je gekümmert hatte. Warum gerade sie konnte er gar nicht beantworten. Vielleicht war es die Tatsache, dass sie sonst niemanden hatte und ganz allein war, die ihn dazu bewegt hatte.

Er war mit ihr beim Arzt gewesen, hatte ihr bei der Genesung zugeschaut und sich ihre Geschichte angehört. Er hatte die blauen, violetten, grünen und gelben Flecken an ihrem Oberschenkel gesehen, die sie beschämt versucht hatte zu verdecken.

Als er ihr anbot bei ihm zu arbeiten, war sie ihm glücklich um den Hals gefallen. Äußerst verlegen hatte er sich aus ihrer Umarmung befreit. Er wollte nicht als Retter gesehen werden.
Sie stellte ihm nie Fragen über seine Vergangenheit, doch sie war nicht dumm. Natürlich bemerkte sie beim Putzen Sarahs Foto auf seinem Nachttisch und dachte sich ihren Teil.
Sie hatte oft herumgescherzt und kleine Späße mit ihm getrieben, um ihn zum Lachen zu bringen. Und obwohl er selten darauf eingegangen war, hatte sie nie damit aufgehört.
Einmal war er an der Grippe erkrankt und sie hatte sich jeden Tag um ihn gekümmert und ihn gesund gepflegt. Sie hatte ihm Hühnerbrühe gekocht und ihm einen kalten Lappen an die Stirn gehalten. Während ihn Fieberträume plagten, hatte sie seine Hand gehalten und irgendwann hatte er ihr von Sarah erzählt.

Von der Verzweiflung am Anfang, von der jetzigen Leere.

Von den schwarzen Gedanken, die ihn heimgesucht hatten. Von seiner Erwägung sein Leben zu beenden. Sie hatte ihn nie verurteilt.

Er war ihr für so vieles dankbar.

Und im entscheidenden Moment seiner Ehe mit Kara, hatte Lydia ihm die Augen geöffnet.
~Ist es das, was du wolltest, Cain? Noch mehr Leid, noch mehr Schmerz?~

War er damals nicht sofort aufgebrochen, um sich bei Kara zu entschuldigen? Hatte er nicht dann am darauf folgenden Tag seine Ehe mit ihr öffentlich gemacht?

Cain setzte sich wieder ins Auto und startete den Motor. Er würde jetzt nach Hause fahren und das Richtige tun. Er brauste aus der Parklücke heraus.

Er sollte Kara anrufen. Wahrscheinlich saß sie händeringend auf der Couch und fragte sich, wo er sich so lange herumtrieb.

"Hallo?"

"Kara, hier ist Cain."

Er hörte, wie sie erleichtert die Luft wieder aus ihren Lungen ausstieß. "Cain. Wo steckst du?"

"Ich bin auf dem Weg nach Hause. Ich wollte dir nur Bescheid sagen."

Für einen Augenblick war es still. "Danke." sagte sie schließlich.

Cain legte auf und wollte das Handy wieder wegstecken, doch es rutschte ihm aus der Hand und fiel in den Fußraum auf der Beifahrerseite. Blind tasteten seine Hände sich vor, jedoch ohne Erfolg. Cain bückte sich zur Seite und ließ die Fahrbahn nur kurze Zeit aus den Augen. Es mochten nur höchstens zwei Sekunden gewesen sein, doch auch zwei Sekunden waren fatal gewesen, da ihm entgangen war, dass der LKW vor ihm nach rechts ausschwenkte.
Als Cain seine Augen wieder auf die Straße richtete, war es zu spät. Das Handy fiel ihm wieder herunter, als er panisch nach dem Lenkrad griff.

Er drückte fest auf die Bremse. Das Quietschen seiner Reifen dröhnte tausendfach verstärkt in seinen Ohren. Durch den Regen waren die Straßen durchnässt und rutschig. Die Reifen fanden nur bedingt Halt auf dem Asphalt. Die Lichter auf der Gegenfahrbahn blendeten ihn schrecklich. Cain riss das Lenkrad herum. Wie entfernt ertönte ein Hupen.

Würde er jetzt sterben? Jetzt, wo er sich doch vorgenommen hatte das Richtige zu tun?
Es kam ihm so ironisch vor. Als würde sich jemand darüber amüsieren. Dabei war es doch gar nicht lustig.

Wie in Zeitlupe sah er die Leitplanke auf sich zukommen.

Die Scheibenwischer tanzten vor seinen Augen.

Warum bremste das Auto nicht?

Nein, dachte er. Ich will noch nicht sterben. Ich kann sie nicht im Stich lassen. Kara.

Kara. Kara. Kara.

Dann umschloss ihn die Stille.




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