Über der Stadt

Autor: kristina (2)
veröffentlicht am: 09.01.2007




Ein junger, gut aussehender Mann schlendert am Dezemberabend gemächlich durch die Stadt. Schneeflocken fallen. Der Himmel ist bedeckt mit grauen Wolken. Es wird früh dunkel und die Strassenbeleuchtung wird eingeschaltet.

Der Mann bleibt stehen. Er hebt den Kopf und blickt durch das Licht hinauf in die herunterfallenden Flocken. Sie tanzen lustig in fröhlichem Tempo durch die Luft, bevor sie sanft auf den nassen Boden fallen. Ein paar hüpfen auf sein Gesicht und hinterlassen ein kurzes kaltnasses Gefühl. Es prickelt. Fast wird ihm schwindlig und seine Augen senken sich wieder in Gehrichtung…
Eine erwartungsvolle Stimmung hat sich mit den ersten Flocken dieses Winters über ihn gelegt. Nach dem hektischen Tag voller Arbeit, Termine und dem Rennen hierhin und dorthin, scheint ihm, als bliebe die Zeit stehen.
Eine gemütliche Ruhe breitet sich in ihm aus und er fühlt sich wohl und freudig.
Es scheint, als lasse nur er sich von den ersten Flocken verzaubern. Seine Mitmenschen rennen an ihm vorbei. Eine Frau schiebt einen Kinderwagen und ruft Jemandem etwas zu. Teenager kichern und versperren, Arm in Arm gehend, den Gehsteig. Menschen drücken sich an die Schaufenster um die Auslagen zu betrachten. Eine Marronimann schreit lautstark seine Ware aus. Ein Velofahrer kurvt durch die Menge. Der Mann weicht aus.
Niemand findet Zeit, die ersten Boten des winterlichen Treibens zu begrüssen und zu geniesen. Es ist kurz vor Ladenschluss und sie rennen durch die Strassen in Erwartung des baldigen Feierabends. Er hat Kommissionen zu erledigen. Er sollte sich beeilen. Eine Bekannte wartet.
Da ist diese besondere Stimmung. Ein warmes Gefühl der Ruhe durchströmt ihn, gemischt mit einer kribbelnden Erwartung. Was mag geschehen?

Er schlendert weiter durch die Menschen, geniesst den Marroniduft, die kalte winterliche Luft und lässt sich treiben. Ohne es zu bemerken, ist er durchs Zentrum weiter über den Mühleplatz Richtung Rathausplatz gezogen. Hier ist es ruhiger; das Treiben entfernter. Er steigt die steinernen Stufen hoch … Ruhig, gemächlich ohne Plan….
Höher, bis zum Schloss…. Dort oben, schon oft zuvor gestanden, blickt er auf die Lichter zu seinen Füssen. Hier ist er der Betrachter und Herrscher über der Stadt. Er geniesst den Moment. Ein innerlicher Triumpf über den Sieg gegen die Hektik erfüllt ihn.

Als Junge hat er hier mit Freunden König gespielt. Heute ist alles ruhig. Es ist dunkel und keine Kinder spielen auf den Gassen zum Schloss.
Man fühlt sich gut hier oben! Er atmet tief die kalte Winterluft ein und langsam entspannt sich der Rest seines Körpers von der Anspannung des Tages. Noch immer erfüllt ihn dieses wunderbare Gefühl.
Fast macht es ihn kribbelig. Was soll noch grosses geschehen. Es ist ein normaler Wochentag mit normalem Feierabend ohne speziellen Grund zu Freude oder Ärger.
Ein Tag wie der Gestrigre oder der Morgige… Nur ein paar erste Schneeflocken fallen; ansonsten verläuft alles wie immer. Er lächelt über sein Erwartungsgefühl und schüttelt unbemerkt den Kopf, als könne er dieses innere Etwas abschütteln.

Gerade will er sich zum Gehen wenden - es ist höchste Zeit - da sieht er eine schlanke, zierliche Person die Treppe hochsteigen.
Langsam, fast schleppend, als bereite es ihr grosse Mühe, steigt eine junge Frau die Stufen hoch… Ein Lichtstrahl erhellt für kurze Momente ihr Gesicht und zeigt ihm ein zauberhaftes Bild. Ihr zartes Gesicht ist von vollen Lippen und sanften Augen mit hübschen dunklen Wimpern geprägt.
Zum Schutz hat sie Ihr dunkles Haar in ein schwarzes Tuch gehüllt. Ein paar Strähnen haben sich gelöst.
Mühsam steigt sie die letzte Stufte hoch und lehnt sich erschöpft an die Steinmauer. Sie erschreckt bei seinem Anblick. Sie scheint ihn erst jetzt zu bemerken und lächelt entschuldigend über ihre Schreckhaftigkeit.
Er lächelt zurück.
Sie blickt hinunter auf die Stadt. Ihr Blick hat etwas Verklärtes, Sehnsuchtsvolles und trauriges in sich. Er muss sie ansehen.
Die Frau erscheint ihm zerbrechlich aber von faszinierender Schönheit. Sie weckt seinen Beschützerinstinkt.
Schweigend und ruhig stehen sie nebeneinander. Zwei Unbekannte.
Ihr Atem geht rasch; offensichtlich hat sie das Treppensteigen wirklich angestrengt.Er sollte gehen. Unten in der Stadt wartet die Kollegin - Sie wollen einen Film ansehen.Er bleibt.
Er sollte seine Verspätung melden, aber der Moment ist magisch. Man darf ihn nicht unterbrechen.
Lächelnd wendet die Frau sich zu ihm und sagt mit leiser melodiöser Stimme: 'Heute ist ein grosser Tag.'
Fasziniert blickt er sie an und bejaht ihre Bemerkung mit strahlendem Lächeln. Ihr Gesicht ist blass; sie sieht krank aus. Sie erinnert ihn an Schneewittchen.
Dieses Märchen hat er sehr geliebt. Vor allem die Begegnung des Prinzen mit dem toten Schneewittchen hatte ihn beeindruckt. Sie lächeln sich an. Zwei Fremde - die Herrscher der Lichter in dieser Nacht.

Dann Knicken ihre Beine ineinander und ihr Körper sackt zu Boden. Er streckt die Arme aus und fängt sie auf. Sie liegt reglos in seinen Armen. Eine zierliche junge Frau von faszinierender Schönheit. Er schüttelt sie - erschrocken über das Geschehnis und horcht auf ihren Atem. Erleichtert hört er einen leisen Atmen. Er redet ihr zu und versucht ihr ein Wort zu entlocken. Sie scheint das Bewusstsein verloren zu haben. Er hebt sie auf seine Arme und trägt sie Stufe für Stufe die Treppe hinunter. Ihr lebloser Körper liegt in seinen Armen, er drückt sie an sich… Ihr Gesicht hält er gegen seinen Oberkörper gedrückt, damit sie vor der Kälte geschützt ist.
Immer wieder versucht er sie wach zu rütteln. Nichts! Er beschleunigt seine Schritte … Wenige Meter sind es bis zum Spital hinter dem Schloss.
Er trägt sie auf seinen Armen zur Notaufnahme. Automatisch, wie eine Maschine.
Ein Team von Schwestern nimmt ihn in Empfang. Das Mädchen wird sofort weggebracht. Offensichtlich kennt man sie… Alles geht rasch und routiniert.
Er steht benommen im Ankunftsraum. Eine Schwester führt ihn zu einer Sitzgruppe.
Die junge Frau ist schwer krank; klärt man ihn auf. Er bekommt einen Kaffee und muss seine Personalien hinterlegen. Ein Arzt stellt ihm ein paar Fragen.
Er darf gehen. Er bleibt aber sitzen. Er wartet. Vor sich sieht er ihr zartes Gesicht. Er spürt noch die Wärme ihres Körpers und seine Nase riecht den Geruch ihrer Haut.
Lange sitzt er regungslos im Raum. Allein. Ein Herr in grauem Anzug betritt den Raum.Sein Gesicht ist von Tränen gezeichnet; der Körper vor Leid nach vorn gebeugt. Er setzt sich neben ihn. Ein Schluchzen entfährt seinem Mund und schüttelt seinen Körper. Seine Trauer erfüllt den Raum. Dann beruhigt er sich und beginnt zu reden:

'Meine Tochter ist in ihren Armen gestorben junger Mann; ich danke Ihnen dafür. Sie war sehr krank . Sie hat gespürt dass es bald vorbei sein würde. Heute beschwor sie mich mit ihr aufs Schloss zu steigen um einen letzten Blick auf ihre geliebte Stadt werfen zu können. Die Ärzte haben davon abgeraten.' Seine Augen füllen sich mit Tränen: 'Junger Mann; sie hat sich gewünscht in den Armen eines lieben Menschen zu sterben. Heute haben sich beide Wünsche meiner geliebten Tochter erfüllt - Ich danke ihnen sehr.'
Lange haben die beiden, sich völlig fremden Männer in dieser Nacht am Bett der toten Angelina gestanden und ihren zufriedenen Blick mit der Andeutung eines Lächelns in ihre Erinnerung eingeprägt.









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